Urteil des SozG Stade vom 03.08.2009

SozG Stade: gebühr, auflage, aufwand, akte, entstehung, erstellung, qualifikation, ermessen, toleranz

Sozialgericht Stade
Beschluss vom 03.08.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Stade S 34 SF 99/08
Auf die Erinnerung des Klägers wird der Kostenfestsetzungsbeschluss des Sozialgerichts Stade vom 21. August
2008 geändert. Die von dem Beklagten an den Kläger zu erstattenden Kosten werden auf 462,91 EUR festgesetzt. Im
Übrigen wird die Erinnerung zurückgewiesen.
Gründe:
Streitig ist die Höhe erstattungsfähiger Rechtsanwaltsgebühren.
Die zulässige Erinnerung ist zum Teil begründet.
Zutreffend hat die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle eine Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VV RVG in Höhe von
250,00 EUR festgesetzt.
Nach §§ 3, 14 RVG bestimmt der Rechtsanwalt die Rahmengebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller
Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der an-waltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit
sowie der Einkommens- und der Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen. Das
Haftungsrisiko ist zu berücksichtigen, § 14 Abs 1 Satz 3 RVG. Wenn die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen ist,
so ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nach § 14 Abs 1 Satz 4 RVG nicht verbindlich, wenn sie
unbillig ist.
Ausgangspunkt bei der Bemessung der Gebühr ist die sogenannte Mittelgebühr, das heißt die Mitte des gesetzlichen
Gebührenrahmens, die anzusetzen ist bei Verfahren durchschnittlicher Bedeutung, durchschnittlichen
Schwierigkeitsgrades und wenn die vom Rechtsanwalt/Beistand geforderte und tatsächlich entwickelte Tätigkeit
ebenfalls von durchschnittlichem Umfang war. Denn nur so wird eine einigermaßen gleichmäßige Be-rechnungspraxis
gewährleistet. Abweichungen nach unten oder oben ergeben sich, wenn nur ein Tatbestandsmerkmal des § 14 RVG
fallbezogen unter- oder überdurchschnittlich zu bewerten ist, wobei das geringere Gewicht eines
Bemessungsmerkmals das überwie-gende Gewicht eines anderen Merkmals kompensieren kann (Gerold/Schmidt-
Mayer, RVG, 18. Auflage 2008, § 14 Rn 11).
Vorliegend ist die Urkundsbeamtin der Gebührenbemessung des Rechtsanwalts richti-gerweise nicht gefolgt, da nach
den Kriterien des § 14 RVG nur eine die Mittelgebühr begründende Qualifikation der Angelegenheit als durchschnittlich
zu rechtfertigen ist. Die vom Rechtsanwalt getroffene Bestimmung der Gebühren ist unbillig im Sinne von § 14 RVG.
Die Bedeutung des Verfahrens für den Kläger wird von der Kammer als durchschnittlich eingestuft. Eine andere
Sichtweise würde dazu führen, dass nahezu jedes Verfahren im Schwerbehindertenrecht als für den jeweiligen Kläger
überdurchschnittlich bedeutsam einzustufen wäre. Dagegen ist der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit im vorliegenden
Verfahren eindeutig als unterdurchschnittlich einzustufen. Erforderlich war lediglich die Erstellung der
Klagebegründung. Auch die durchzuarbeitenden medizinischen Unterla-gen nahmen keineswegs einen
überdurchschnittlichen Umfang an, wie sich aus der Ver-waltungsakte ergibt. Anhaltspunkte dafür, dass die
Schwierigkeit der Rechtssache als überdurchschnittlich einzustufen ist, sind nicht ersichtlich.
Bei einer Gesamtbetrachtung aller Kriterien des § 14 RVG ist demzufolge die Entschei-dung der Urkundsbeamtin,
dass lediglich eine Verfahrensgebühr in Höhe der Mittelge-bühr gerechtfertigt ist, nicht zu beanstanden. Obwohl die
Gebührenbestimmung des Rechtsanwaltes nicht um mehr als 20 % von der vom Gericht für angemessen gehalte-nen
Gebühr abweicht, ist insoweit dennoch von einer unbilligen und damit nicht verbindli-chen Gebührenbestimmung
auszugehen. Zwar werden im Allgemeinen Abweichungen bis zu 20 % von der vom Gericht bzw dem Beklagten für
angemessen gehaltenen Ge-bühren noch als verbindlich und nicht unbillig im Sinne des RVG angesehen. Diese Auf-
fassung entspricht durchaus auch der Rechtsprechung der Kammer. Jedoch liegt eine vom Gericht zu tolerierende
Gebührenbestimmung durch den Rechtsanwalt nach § 14 Abs 1 Satz 1 RVG nur dann vor, wenn sie aufgrund der
Umstände des Einzelfalles iVm den Bemessungskriterien getroffen worden ist. Liegt eine solche
Ermessensentscheidung nicht vor, ist die von dem Rechtsanwalt vorgenommene Gebührenbestimmung unbillig und
damit nicht verbindlich, auch wenn die geltend gemachten Gebühren die Toleranz-grenze von 20 % nicht übersteigen
(Gerold/Schmidt-Mayer, RVG, 18. Auflage 2008, § 14 Rdnr 12; OLG Düsseldorf, Anwaltsblatt 1998, 538). Ansonsten
würde eine routinemäßig vorgenommene Erhöhung der Mittelgebühr um bis zu 20 % grundsätzlich als billig iSv § 14
RVG akzeptiert werden müssen. Vorliegend ist nicht ersichtlich, dass der Rechts-anwalt aufgrund einer getroffenen
Ermessensentscheidung dazu gelangt ist, dass abwei-chend von der Mittelgebühr hier eine Verfahrensgebühr in Höhe
von 290,00 EUR ge-rechtfertigt ist.
Zutreffend hat die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle eine Erledigungsgebühr nach Nr 1002, 1005 VV RVG nicht
festgesetzt. Eine solche Gebühr entsteht bei einer Einigung oder Erledigung sozialrechtlicher Angelegenheiten, in
denen im gerichtlichen Verfahren Beitragsrahmengebühren entstehen. Nach der Rechtsprechung des BSG setzt die
Ge-bühr dabei eine qualifizierte anwaltliche Mitwirkung bei der Erledigung der Rechtssache voraus (vgl hierzu BSG,
Urteil vom 7. November 2006 - B 1 KR 13/06 R). Gemeint ist damit, dass der Rechtsanwalt in einer Weise tätig wird,
die über die allgemeine Wahr-nehmung verfahrensmäßiger bzw rechtlicher Interessen für seinen Mandanten hinaus-
geht und damit erst eine Entstehung neben den in anderen Teilen bestimmten Gebühren rechtfertigt. Vorliegend hat
der Rechtsanwalt des Klägers lediglich Klage erhoben und diese mit Schriftsatz vom 23. Oktober 2007 begründet.
Darüber hinaus hat er das von dem Beklagten abgegebene Anerkenntnis mit Schreiben vom 15. Januar 2008 ange-
nommen. Eine gesonderte qualifizierte anwaltliche Mitwirkung an der Erledigung des Ver-fahrens, die über die
Klageerhebung hinausgeht, ist damit weder ersichtlich noch vorge-tragen.
Entstanden ist dagegen eine Terminsgebühr nach Nr 3106 VV RVG.
Eine Terminsgebühr (Nr 3106 VV) fällt nach dem Wortlaut des Vergütungsverzeichnisses auch dann an, wenn das
Verfahren - wie hier - nach angenommenem Anerkenntnis ohne mündliche Verhandlung endet. Damit hat der
Gesetzgeber auch bei der so genannten "fiktiven" Terminsgebühr den Gebührenrahmen in vollem Umfang eröffnet, so
dass bei der Bemessung der Gebühr wiederum auf die in den §§ 3, 14 RVG normierten Kriterien abzustellen ist.
Nach Gesetzeswortlaut und Zweck der Regelung über eine fiktive Terminsgebühr im VV RVG ist dabei auch der
hypothetische Aufwand zu berücksichtigen, der bei Durchführung eines Termins im konkreten Verfahren
voraussichtlich entstanden wäre (vgl hierzu SG Hamburg, Beschluss vom 17. Januar 2008 - S 8 AL 750/06; SG
Oldenburg, Beschluss vom 29. Januar 2009 - S 10 SF 123/08, SG Lüneburg, Beschluss vom 16. März 2009 - S 12
SF 64/09 E; aA SG Hildesheim, Beschluss vom 21. Dezember 2007 - S 12 SF 70/07 - wonach allein auf die
Bedeutung der Angelegenheit sowie die Einkommens- und Vermö-gensverhältnisse des Auftraggebers abzustellen
ist). Nur so kommt die von der Gebüh-renbestimmung ausgehende Anreizfunktion für den beteiligten Rechtsanwalt zur
Geltung, auf die Durchführung eines Termins bei Wahrung des vollen Gebührenanspruchs zu ver-zichten. Die Kammer
hält danach im Falle der Annahme eines Anerkenntnisses ohne Termin im Regelfall eine (fiktive) Terminsgebühr iHv
100,- EUR für gerechtfertigt (ua Be-schluss vom 17. Juni 2009 - S 34 SF 68/08; Beschluss vom 13. Mai 2009 - S 34
SF 85/08; Beschluss vom 29. Mai 2009 - S 34 SF 50/08). Die Kammer hat ihre frühere Rechtsprechung aufgegeben,
wonach für eine (fiktive) Terminsgebühr lediglich die Min-destgebühr in Höhe von 20,- EUR anzusetzen war.
Die Dokumentenpauschale nach Nr 7000 VV RVG ist von der Urkundsbeamtin der Ge-schäftsstelle zutreffend mit 19,-
EUR festgesetzt worden. Die Kosten für Ablichtungen sind nach dieser Regelung erstattungsfähig, soweit sie zur
sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache geboten sind. Bei der Beurteilung, was zur Bearbeitung der Sache
sachgemäß ist, ist auf die Sicht abzustellen, die ein verständiger und durchschnittlich erfahrener Rechtsanwalt haben
kann, wenn er sich mit der betreffenden Leistungsakte beschäftigt und alle Eventualitäten bedenkt, die bei der dann
noch erforderlichen eigenen Bearbeitung der Sache auftreten können. Dem Rechtsanwalt ist ein gewisser Ermes-
sensspielraum zu überlassen. Nach der ständigen Rechtsprechung der niedersächsi-schen Sozialgerichte (ua SG
Osnabrück, Beschluss vom 13. Juni 2007 - S 1 SF 56/06; SG Hildesheim, Beschluss vom 20. Oktober 2008 - S 12
SF 28/08) kann allerdings derje-nige, der sich nicht der Mühe unterziehen will den Umfang der Ablichtungen bei Erhalt
der Akten konkret und sachbezogen zu bestimmen, die Kosten für überflüssige Schreibauslagen nicht der
Staatskasse bzw dem Leistungsträger aufbürden. Anhand des Inhalts der Leistungsakte wird deutlich, dass der
Erinnerungsführer offensichtlich Ablich-tungen des gesamten Inhalts der Akte gefertigt hat, ohne eine Prüfung der
Notwendigkeit vorzunehmen. Die Feststellung der Urkundsbeamtin, dass lediglich 38 Fotokopien als notwendig zur
zweckentsprechenden Rechtsverfolgung/Verteidigung iS von § 193 Abs 2 SGG anzusehen und damit erstattungsfähig
sind, ist danach nicht zu beanstanden.
Nach alledem berechnen sich die erstattungsfähigen Gebühren und Auslagen wie folgt:
Verfahrensgebühr Nr. 3102 VV RVG 250,00 EUR Terminsgebühr Nr. 3106 VV RVG 100,00 EUR
Dokumentenpauschale Nr. 7000 VV RVG 19,00 EUR Auslagenpauschale Nr. 7002 VV RVG 20,00 EUR Umsatzsteuer
Nr. 7008 VV RVG 73,91 EUR Summe 462,91 EUR
Die Entscheidung ist unanfechtbar, § 197 Abs. 2 SGG.