Urteil des SozG Speyer vom 22.10.2004

SozG Speyer: altersrente, erwerbsfähigkeit, abschlag, verfassungskonform, stahl, einverständnis, vertrauensschutz, gleichstellung, rentenanspruch, rechtsmittelbelehrung

Arbeiterrentenversicherung
Sozialrecht
SG
Speyer
22.10.2004
S 7 RI 31/04
TENOR
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
TTATBESTAND
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger einen Anspruch auf Zahlung einer Rente wegen
Erwerbsminderung ohne Abschlag hat.
Der am 1944 geborene Kläger bezieht aufgrund eines Rentenbescheides vom 4.7.2003 eine Rente
wegen voller Erwerbsminderung ab dem 1.6.2002. Er ist seit dem 7.10.1992 schwerbehindert mit einem
GdB von 60. Bei der Rentenberechnung wendete die Beklagte einen Zugangsfaktor von 1,0 an,
verminderte diesen aber für 18 Kalendermonate um 0,003, so dass ein Zugangsfaktor von 0,946 verblieb.
Hiergegen legte der Kläger am 25.7.2003 Widerspruch ein mit der Bitte um Anwendung des
Zugangsfaktors von 1,0.
Die Beklagte erläuterte dem Kläger die nach ihrer Auffassung bestehende Rechtslage mit Schreiben vom
4.9.2003. Nach § 77 Abs. 2 Nr. 3 SGB VI sei der Zugangsfaktor für Entgeltpunkte, die noch nicht
Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren, bei Renten wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit und bei Erziehungsrenten für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des
Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger
als 1,0. Da es sich im Falle des Klägers um eine Rente wegen voller Erwerbsminderung handele, bleibe
die Tatsache, dass der Versicherte seit dem 7.10.1992 schwerbehindert ist, in Bezug auf den
Zugangsfaktor unerheblich.
Mit Widerspruchsbescheid vom 21.1.2004 wies die Beklagte unter Bezugnahme auf ihr Schreiben vom
4.9.2003 den Widerspruch zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 17.2.2004 Klage eingereicht.
Er sei bis zum 16.11.1950 geboren und am 16.11.2000 schwerbehindert gewesen, so dass er insofern
Vertrauensschutz genieße, als dass er bereits mit Vollendung des 60. Lebensjahres ohne jeglichen
Rentenabschlag Altersrente für Schwerbehinderte beziehen könne. Dies müsse aber auch Auswirkungen
auf die Festlegung des Zugangsfaktors für die derzeitige Erwerbsminderungsrente haben. § 77 Absatz 2
Nr.3 SGB VI müsse verfassungskonform dahingehend ausgelegt werden, dass in den Fällen, in denen
Versicherte mit Vollendung des 60.Lebensjahres abschlagsfrei in Rente gehen könnten, eine
Reduzierung des Zugangsfaktors nicht stattfinde. Dies gebiete Art. 3 GG. Durch § 77 SGB VI sollten
sogenannte Ausweichreaktionen vermieden werden, die darin lägen, dass 60-jährige Versicherte anstelle
einer mit Abschlägen versehenen vorzeitigen Altersrente eine möglichst abschlagsfreie
Erwerbsminderungsrente beziehen. § 77 SGB VI passe sich somit grundsätzlich in das Gesamtgefüge der
Neuregelung des § 236a SGB VI ein. Demnach sei es so, dass eine abschlagsfreie Altersrente für
Schwerbehinderte erst mit Vollendung des 63. Lebensjahres möglich sei, ein vorzeitiger Bezug bereits mit
60 Jahren möglich sei, dann aber Abschläge hinzunehmen seien. § 77 Abs. 2 Nr. 3 SGB VI berücksichtige
dabei indes nicht, dass aufgrund Vertrauensschutzes ein Kreis von Versicherten existiere, der bereits mit
Vollendung des 60. Lebensjahres abschlagsfrei in Rente gehen könne. Die befürchteten
Ausweichreaktionen wären bei diesem Personenkreis nicht zu befürchten. Ein Ausweichen auf die – ohne
die Regelung des § 77 SGB VI – abschlagsfreie Erwerbsminderungsrente sei nicht zu befürchten, da sie
ja ohnehin abschlagsfrei mit 60 in Rente gehen könnten. Der Vertrauensschutz des § 236 a SGB VI müsse
sich also auch auf den Anspruch auf Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 63.Lebensjahres
auswirken.
Der Kläger beantragt schriftlich und sinngemäß,
unter entsprechender Abänderung des Bescheides der Beklagten vom 4.7.2003 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 21.1.2004 die Beklagte zu verurteilen, ihm die bewilligte Rente wegen
Erwerbsminderung unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt schriftlich,
die Klage abzuweisen.
Sie nimmt Bezug auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid.
Auf entsprechende gerichtliche Anfrage haben die Beteiligten am 12.5.2004 und am 18.5.2004 ihr
Einverständnis zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erteilt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte
der Beklagten.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr
Einverständnis erklärt haben, § 124 Absatz 2 SGG.
Die zulässige Klage ist nicht begründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Berücksichtigung
eines Zugangsfaktors von 1,0.
Gem. § 77 Absatz 1 SGB VI richtet sich Zugangsfaktor nach dem Alter der Versicherten bei Rentenbeginn
oder bei Tod und bestimmt, in welchem Umfang Entgeltpunkte bei der Ermittlung des Monatsbetrags der
Rente als persönliche Entgeltpunkte zu berücksichtigen sind.
Der Zugangsfaktor ist gem. § 77 Absatz 2 Satz 1 Nr.3 SGB VI für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage
von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und
bei Erziehungsrenten für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der
Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0.
Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder eine Erziehungsrente vor Vollendung des
60. Lebensjahres oder ist bei Hinterbliebenenrenten der Versicherte vor Vollendung des 60.
Lebensjahres verstorben, ist gem. § 77 Absatz 2 Satz 2 die Vollendung des 60. Lebensjahres für die
Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend. § 77 Absatz 2 Satz 2 SGB VI gilt indes für den Kläger nicht.
Für ihn gilt der günstigere § 264 c SGB VI, wonach dann, wenn eine Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit oder eine Rente wegen Todes vor dem 1.1.2004 beginnt, bei der Ermittlung des
Zugangsfaktors anstelle der Vollendung des 60.Lebensjahres die Vollendung des in Anlage 23
angegebenen Lebensalters maßgebend ist. Es wird also ein fiktives höheres Lebensjahr als das 60.
zugrunde gelegt, was dazu führt, dass die Differenz zwischen diesem fiktiven Lebensjahr und dem
63.Lebensjahr geringer wird, was wiederum geringere Abschläge zur Folge hat.
Nach Anlage 23 ist maßgebliches (fiktives) Lebensalter für den ab dem 1.6.2002 eine Rente wegen voller
Erwerbsminderung beziehenden Kläger 61 Jahre und 6 Monate. Der Kläger wird am 11.2.2006 61 Jahre
und 6 Monate alt. Der Kalendermonat, in dem der Kläger sein 63.Lebensjahr vollendet, endet am
31.8.2007. Da der Kalendermonat, in dem der Kläger sein 63.Lebensjahr vollendet (August 2007) als
Abschlagsmonat voll gezählt wird (vgl. Hauck/Haines-Stahl, K § 77, Rn.27), erhält der Kläger für 18
Monate einen Abschlag von 0,003.
Die Rechtsvorschrift des § 77 Absatz 2 Satz 1 Nr.3 SGB VI muss auch nicht verfassungskonform dahin
ausgelegt werden, dass der Kläger unter dem Lichte der Vertrauensschutzregelung des § 236 a Satz 5
SGB VI eine abschlagsfreie Rente wegen voller Erwerbsminderung zu erhalten hat. Der Hinweis des
Klägers auf Art.3 Absatz 1 Grundgesetz (GG) überzeugt die Kammer nicht. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle
Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht jede
Differenzierung verwehrt. Der Gleichheitssatz will in erster Linie eine ungerechtfertigte
Verschiedenbehandlung von Personen verhindern. Daher unterliegt der Gesetzgeber bei einer
Ungleichbehandlung von Personengruppen regelmäßig einer strengen Bindung. Zwar kann er
grundsätzlich frei entscheiden, welche Merkmale er als maßgebend für eine Gleich- oder
Ungleichbehandlung ansieht. Eine Grenze ist jedoch dann erreicht, wenn sich für eine
Ungleichbehandlung kein in angemessenem Verhältnis zu dem Grad der Ungleichbehandlung stehender
Rechtfertigungsgrund finden lässt (vgl. BVerfGE 99, 165 <178>; st. Rspr.).
Art.3 Absatz 1 GG gebietet es vor diesem Hintergrund nicht, solchen Versicherten, die von der
Vertrauensschutzregelung des § 236 a Satz 5 SGB VI profitieren, auch noch einen Vorteil dadurch
einzuräumen, dass sie eine Rente wegen voller Erwerbsminderung vor Vollendung des 60.Lebensjahres
abschlagsfrei erhalten. Zutreffend sind die Ausführungen des Klägers über den Zweck der Regelung des
§ 77 Absatz 2 SGB VI. In der Tat soll dem Trend zu einer frühzeitigen Berentung entgegen gewirkt werden,
indem man demjenigen, der eine Rente früher beansprucht, Abschläge zumutet (vgl. Hauck/Haines-Stahl,
K § 77, Rn.5-10). Fehl geht der Kläger aber in seiner Annahme, der Zweck greife nicht für solche
Rentenbezieher, die ab Vollendung des 60.Lebensjahres ohnehin wegen § 236 a Satz 5 SGB VI eine
abschlagsfreie Rente für schwerbehinderte Menschen erhalten können. Dieses Argument griff ohnehin
nicht, solange der Kläger das 60.Lebensjahr nicht vollendet hatte. Aber auch soweit der Kläger
mittlerweile das 60.Lebensjahr vollendet hat, kann er eine abschlagsfreie Rente wegen voller
Erwerbsminderung nicht beanspruchen. Seit Vollendung des 60.Lebensjahres ist es dem Kläger nämlich
möglich, eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen wegen § 236 a Satz 5 SGB VI ohne Abschlag
zu beziehen. Soweit diese Rente dann höher sein sollte als die wegen voller Erwerbsminderung, wird
nach § 89 Absatz 1 Satz 1 SGB VI nur die Altersrente für schwerbehinderte Menschen geleistet. Soweit die
Altersrente für schwerbehinderte Menschen niedriger sein sollte als die Rente wegen voller
Erwerbsminderung, wird nur letztere Rente geleistet. Dass diese ohnehin höhere Rente dann nochmals
erhöht wird, weil keine Abschläge vorgenommen werden, gebietet Art.3 Absatz 1 GG nicht. Diese
Sichtweise liefe darauf hinaus, dass der Kläger die positiven Einzelbestandteile der jeweiligen Rente für
sich in Anspruch nehmen würde und im Ergebnis eine höhere Rente bezöge, als sie der Gesetzgeber
jemals vorgesehen hat. Der Kläger begehrt letztlich keine Gleichstellung mit anderen Rentenbeziehern,
sondern er möchte seine durch § 236 a Satz 5 SGB VI sehr günstige Rechtsstellung auf seine Rente
wegen voller Erwerbsminderung erweitern. Soweit die Rente wegen voller Erwerbsminderung mit
Vollendung des 60.Lebensjahres höher sein sollte als die Altersrente für schwerbehinderte Menschen,
liegt zwar eine gewisse Ungleichbehandlung gegenüber Rentenbeziehern der Altersrente für
schwerbehinderte Menschen vor, die wegen § 236 a Satz 5 SGB VI keine Abschläge hinzunehmen
haben. Diese Ungleichbehandlung käme für den Kläger aber nur zustande, weil seine Rente wegen voller
Erwerbsminderung höher ist als die für schwerbehinderte Menschen. Wäre sie nicht höher, würde der
Kläger auch eine abschlagsfreie Rente für schwerbehinderte Menschen beziehen. Die verbleibende
(geringfügige) Ungleichbehandlung wird also dadurch gerechtfertigt, dass Anspruchsinhaber einer Rente
nach § 236 a Satz 5 SGB VI nicht in gleichem Maße schutzwürdig sind, wenn sie noch einen weiteren und
höheren Rentenanspruch haben.
Da die gesetzliche Regelung demnach eindeutig ist und sie auch nicht gegen das Grundgesetz verstößt,
ist die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.
- Rechtsmittelbelehrung -