Urteil des SozG Speyer vom 18.08.2006

SozG Speyer: zwangsarbeit, hinterbliebenenrente, arbeitsmarkt, glaubhaftmachung, freiwilligkeit, verfolgter, bezahlung, wartezeit, wahrscheinlichkeit, arbeitskraft

Sozialrecht
SG
Speyer
18.08.2006
S 7 KR 811/04
Anerkennung von Ghetto-Beschäftigungszeiten als Beitragszeiten. Im (Rest-) Ghetto/Arbeitslager
Rzeszow (Reichshof), Polen, bestand ab Juli 1942 kein freier Arbeitsmarkt mehr.
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Hinterbliebenenrente unter Zugrundelegung von
zurückgelegten fiktiven Beitragszeiten des verstorbenen Ehemanns der Klägerin in der Zeit von November
1942 bis September 1943.
Die Klägerin ist die Ehefrau des am 1927 in Sieradz/Polen geborenen und am 13.8.2003 verstorbenen
M . Herr M war als Jude Verfolgter des nationalsozialistischen Regimes. Bis Ausbruch des Krieges
besuchte er die Volksschule von Kalisz/Polen. Kurze Zeit nach der Besetzung dieses Ortes, wurde er nach
Rzeszow (Reichshof) / Polen verbracht, später nach Lancut/Polen. Danach verbrachte er einige Monate
bei einem Bauern und floh infolge einer Anzeige in das Ghetto Sieniawa/Polen, wo er in der Zeit von
August 1942 bis November 1942 lebte. Nach der Liquidierung des Ghettos im November 1942 kehrte er
nach Rzeszow (Reichshof) zurück. Dort blieb er bis September 1943. Er wurde dann nach Ausschwitz-
Birkenau transportiert, von wo er bei einem Transport flüchten konnte.
Im Entschädigungsverfahren erklärte Herr M im Rahmen einer eidesstattlichen Versicherung (Blatt 15 der
Verwaltungsakte der Beklagten), er sei „nach Rzeszow zurückgekehrt, wo es ein Arbeitslager gab. Hier
musste ich mich an einen Juden wenden, der dort Werkstattleiter war und mich dort aufnahm. [...] Es
wurden in diesen Werkstätten Schneider-, Schlosser- und Schusterarbeiten verrichtet und ich wurde der
Schlosserabteilung zugeteilt.“
Am 24.6.2003 beantragte Herr M bei der Beklagten Altersrente wegen der Beschäftigung in einem Ghetto.
Am 16.9.2003 beantragte die Klägerin Hinterbliebenenrente nach ihrem Ehemann und stützte sich dabei
ebenfalls auf zurückgelegte fiktive Beitragszeiten für die Beschäftigung in einem Ghetto. Im am 29.8.2003
ausgefüllten Formular der Beklagten gab sie an, als Bezahlung für seine Arbeit im Ghetto habe er drei
Mahlzeiten täglich und manchmal Zigaretten erhalten. Seine Arbeit habe er „durch die Familie“ erlangt.
Mit Bescheid vom 21.4.2004 lehnte die Beklagte den Rentenantrag der Klägerin nach Auswertung der
Entschädigungsakte ab. Zur Begründung führte sie an, es sei nicht glaubhaft gemacht, dass der Ehemann
der Klägerin seine Arbeit freiwillig aufgenommen habe, weil er in Rzeszwo in einem „Rest-Ghetto“
gewesen sei. Dort habe es keinen freien Arbeitsmarkt gegeben.
Hiergegen legte die Klägerin am 19.5.2004 Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 8.9.2004
aus den Gründen des Ausgangsbescheids zurückgewiesen wurde.
Dagegen hat die Klägerin am 12.10.2004 Klage vor dem Sozialgericht Speyer erhoben.
Die Klägerin behauptet, ihr Ehemann habe im Ghetto Rzeszow eine Tätigkeit als Schäftemacher
ausgeübt. Diese Beschäftigung habe er aufgrund eigener Bemühungen durch den Judenrat gefunden.
Die dort erhaltenen Lebensmittel und Zigaretten habe er als Tauschmittel einsetzen können. Sie seien als
Entlohnung anzusehen, weil sie über den täglichen Ernährungsbedarf des Ehemanns der Klägerin
hinausgegangen seien.
Die Klägerin beantragt schriftlich,
den Bescheid der Beklagten vom 21.4.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.9.2004
aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an sie Hinterbliebenenrente nach Maßgabe der gesetzlichen
Bestimmungen zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte meint, die Bezahlung in Form von Lebensmitteln, in der von der Beklagten geschilderten
Menge, entspreche nicht einer Mindesthöhe, die noch als Entgelt angesehen werden könne. Da im "Rest-
Ghetto" von Rzeszow kein freier Arbeitsmarkt existiert habe, könne der Kläger die dortige Tätigkeit nicht
freiwillig aufgenommen haben.
Das Gericht hat die Entschädigungsakten der Bezirksregierung Düsseldorf, Aktenzeichen 3 M 3009 B
sowie der Jewish Claims Conference (JCC) beigezogen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte
der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist nicht begründet.
Die streitgegenständlichen Bescheide sind nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat keinen Anspruch
gegen die Beklagte auf Zahlung von Hinterbliebenenrente.
Gem. § 46 Abs. 1 bzw. Abs. 2 SGB VI hat Anspruch auf Hinterbliebenenrente, wer als Witwe oder Witwer
nicht wieder geheiratet hat und wessen verstorbener Ehegatte Versicherter war und die allgemeine
Wartezeit erfüllt hat. Die allgemeine Wartezeit beträgt gem. § 50 SGB VI fünf Jahre. Auf die Wartezeit
werden gem. § 50 Abs. 1 SGB VI Kalendermonate mit Beitragszeiten und gem. § 51 Abs. 4 SGB VI
Kalendermonate mit Ersatzzeiten angerechnet. Ersatzzeiten ohne Beitragszeiten genügen allerdings
nicht; § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI setzt voraus, dass der Verfolgte bereits als „Versicherter“ gilt (vgl. statt
vieler SG Hamburg Urteil vom 9.9.2005 – Aktenzeichen S 26 RJ 1253/03). Beitragszeiten sind auch
Zeiten, für die nach den Reichsversicherungsgesetzen Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge geleistet
worden sind, § 247 Abs. 3 SGB VI, oder für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt
gelten, § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI.
Besondere Vorschrift im Sinne von § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI ist § 12 des Gesetzes zur Regelung der
Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) bzw. § 15 Abs.
1, Abs. 3 Fremdrentengesetz (FRG). Gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 FRG stehen Beitragszeiten, die bei einem
nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht
zurückgelegten Beitragszeiten gleich. Dies gilt gem. § 15 Abs. 3 Satz 1 FRG auch für Zeiten, die bei ihrer
Zurücklegung nach dem zu dieser Zeit geltenden Recht als Beitragszeiten im Sinne des Absatzes 1
anrechnungsfähig waren und für die an einen Träger eines Systems der sozialen Sicherheit Beiträge nicht
entrichtet worden sind (BSG Urteil vom 7.10.2004 – Aktenzeichen B 13 RJ 59/03 R). Gem. § 12 WGSVG
gelten als Pflichtbeitragszeiten auch Zeiten, in denen ein Verfolgter eine rentenversicherungspflichtige
Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, für die aus Verfolgungsgründen Beiträge nicht gezahlt worden
sind.
Rentenversicherungspflichtige Beschäftigungen sind solche, die aufgrund einer Vereinbarung zwischen
den Beteiligten zustande kommen (Freiwilligkeit) und den Austausch von nichtselbständiger Arbeit gegen
Lohn (Entgeltlichkeit) zum Gegenstand haben (so auch BSG, Urteil vom 14.7.1999 – Aktenzeichen B 13
RJ 61/98 R – zitiert nach Juris Rn. 34 f.; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.6.2005 – Aktenzeichen L
8 RJ 97/02). Als weitere Abgrenzungsmerkmale gegenüber anderen Formen der Verrichtung von Arbeit
dienen u.a. die persönliche Abhängigkeit des Arbeiters, das Weisungs- bzw. Direktionsrecht des
Arbeitgebers und das Eingebundensein des Arbeitnehmers in den organisatorischen Ablauf eines
Betriebes (Eingliederung). Entscheidend ist dabei die Zuordnung der Tätigkeit zum Typus der
Zwangsarbeit einerseits oder zum Typus der Beschäftigung in sozialrechtlichen Sinne andererseits unter
Beachtung der oben genannten Kriterien unter Berücksichtigung der Besonderheiten der zur
Beschäftigungszeit herrschenden Umstände und Lebensbedingungen (vgl. BSG Urteil vom 21.4.1999 –
Aktenzeichen B 5 RJ 46/98 R; Gagel NZS 2000, 231, 233). Maßgeblich ist dabei das Gesamtbild der
ausgeübten Tätigkeit (BSG Urteil vom 14.7.1999 – B 13 RJ 71/98 – NZS 2000, 249, 252).
Für die Freiwilligkeit haben die Beweggründe, die jemanden zur Aufnahme einer Beschäftigung
veranlassen, sowie allgemeine Lebensumstände, die nicht die Arbeit oder das Arbeitsentgelt selbst,
sondern das häusliche, familiäre, wohnungs- und aufenthaltsmäßige Umfeld betreffen, bei der Prüfung, ob
ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis vorliegt, außer Betracht zu bleiben. Demgemäß ist
für die Versicherungspflicht nicht entscheidend, ob Personen zwangsweise ortsgebunden sind oder sich
in einem Lager aufhalten müssen (vgl. BSG Urteil vom 6.4.1960 – Aktenzeichen 2 RU 40/58 - BSGE 12,
71). Zwangsarbeit ist die Verrichtung von Arbeit unter obrigkeitlichem (hoheitlichem) bzw. gesetzlichen
Zwang, wie z. B. bei Strafgefangenen und Kriegsgefangenen. Typisch ist dabei z. B. die obrigkeitliche
Zuweisung von Arbeitern an bestimmte Unternehmen, ohne dass die Arbeiter selbst hierauf Einfluss
haben. Entsprechendes gilt für die Bewachung der Arbeiter während der Arbeit, um zu verhindern, dass
diese sich aus dem obrigkeitlichen Gewahrsam entfernen können (BSG Urteil vom 14.7.1999 – B 13 RJ
71/98 – NZS 2000, 249, 252). Eine verrichtete Arbeit entfernt sich um so mehr von einem Arbeits-/
Beschäftigungsverhältnis, als sie durch hoheitliche Eingriffe überlagert wird, denen sich der Betroffene
nicht entziehen kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch unter den Umständen der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, der damaligen Regulierung des Arbeitsmarktes und dem
Bestehen allgemeiner Arbeitspflichten die Gesamtheit aller Arbeitsverhältnisse nicht derart
obrigkeitlich/hoheitlich überlagert war, dass sie den Charakter von Zwangsarbeit angenommen hätte (vgl.
BSG 18.6.1997 – Aktenzeichen 5 RJ 66/95 - BSGE 80, 250). Dem damaligen differenzierten
Regelungssystem, das für die betroffenen Personen in unterschiedlichem Maße Einschränkungen ihrer
Arbeitsfreiheit - bis hin zum „Konzentrationslager“ - mit sich brachte, kann bei der Abgrenzung des
versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses zur unversicherten Zwangsarbeit angemessen
Rechnung getragen werden (vgl. auch Gagel NZS 2000, 231, 233; Langguth DStR 2000, 603, 604).
Entgeltlichkeit bedeutet das Vorliegen eines wirtschaftlichen Austauschverhältnisses zwischen geleisteter
Arbeit und gezahltem Lohn. Zwar ist die Höhe des Entgelts grundsätzlich kein wesentliches Merkmal für
das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses. Art und Umfang der gewährten
Leistungen können aber Anhaltspunkte geben, ob das Entgelt als Bezahlung im Sinne einer Entlohnung
der geleisteten Arbeit oder zu anderen Zwecken, wie z. B. nur als „Mittel zur Erhaltung der Arbeitskraft“ der
zur Arbeit gezwungenen Beschäftigten gedacht ist. Allzu geringfügige Leistungen außerhalb eines jeden
Verhältnisses zur erbrachten Leistung haben keinen Entgeltcharakter mehr. (BSG, Urteil vom 19.04.1990,
- Aktenzeichen 1 RA 91/88; BSG Urteil vom 22.09.1988, - Aktenzeichen 7 RAr 13/87; BSG Urteil vom
07.10.2004 – Aktenzeichen B 13 RJ 59/03 R).
Das WGSVG ist gem. § 1 Abs. 1 WGSVG anwendbar für Versicherte, die Verfolgte im Sinne des
Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) sind und für deren Hinterbliebenen. Verfolgter ist gem. § 1 Abs. 1
BEG, wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der
Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt
worden ist und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen, in
seinem beruflichen oder in seinem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat.
Gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Fremdrentengesetz (FRG) stehen Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen
Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten
Beitragszeiten gleich. Dies gilt gem. § 15 Abs. 3 Satz 1 FRG auch für Zeiten, die bei ihrer Zurücklegung
nach dem zu dieser Zeit geltenden Recht als Beitragszeiten im Sinne des Absatzes 1 anrechnungsfähig
waren und für die an einen Träger eines Systems der sozialen Sicherheit Beiträge nicht entrichtet worden
sind (BSG Urteil vom 7.10.2004 – Aktenzeichen B 13 RJ 59/03 R).
Gem. § 1 FRG in Verbindung mit § 20 Abs. 1 Satz 1, § 19 Abs. 2 lit. a WGSVG bzw. § 17a FRG ist das FRG
auch auf Verfolgte anwendbar, die sich zwar nicht zum deutschen Volkstum bekannt haben, aber zum
Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebiets dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehörten.
Ausreichend ist gem. § 4 FRG und § 3 WGSVG die Glaubhaftmachung der erheblichen Tatsachen.
Glaubhaftmachung ist die überwiegende Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der Tatsache (§ 3 Abs. 1 Satz
2 WGSVG; so auch Bundesgerichtshof - BGH, Beschlussvom 9. 2. 1998 – Aktenzeichen II ZB 15-97 – NJW
1998, 1870). Die überwiegende Wahrscheinlichkeit ist im Sinne einer guten Möglichkeit, dass ein
bestimmter Sachverhalt so liegt, wie behauptet (vgl. BSG Urteil vom 10.08.1989 - Aktenzeichen 4 RA
94/89) bzw. dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben
können, zu verstehen (BSG Urteil vom 22.9.1977 – Aktenzeichen 10 RV 15/77 - BSGE 45, 9 ff.). Dieser
Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit
des ursächlichen Zusammenhangs, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache
sprechen (LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 27.02.2004 – Aktenzeichen L 13 RJ 61/01). Es reicht die
gute Möglichkeit aus, d.h. es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten
das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände
besonders viel für diese Tatsache spricht; von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden
Sachverhaltsvarianten muss den übrigen gegenüber einer das Übergewicht zukommen (BSG Beschluss
vom 8.8.2001 – Aktenzeichen B 9 V 23/01 B - BSG SozR 3-3900 § 15 Nr. 4). Zu den Mitteln der
Glaubhaftmachung zählen gem. § 294 Zivilprozessordnung (ZPO) und § 3 Abs. 2 Satz 1 WGSVG alle
Beweismittel, auch die Versicherung an Eides statt. Dies gilt wegen des eingeschränkten
Beweismaßstabs der Glaubhaftmachung auch für die eidesstattliche Versicherung des Klägers selbst
(offen gelassen LSG Berlin Urteil vom 26.3.2003 - Aktenzeichen L 6 RA 44/02; a.A. mit Hinweis darauf,
dass § 118 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG - nicht auf die Vorschriften der ZPO über die
Parteivernehmung verweist LSG Berlin Urteil vom 26.7.2004 - Aktenzeichen L 16 RA 65/03, wobei aber
nicht überzeugend der Unterschied zwischen Vollbeweis und Glaubhaftmachung herausgearbeitet wird).
Zur rentenrechtlichen Beurteilung der streitgegenständlichen Beitragszeiten sind die Regelungen des
FRG heranzuziehen. Das (Rest-) Ghetto Rzeszow (Reichshof) war im sog. Generalgouvernement
belegen. Es handelte sich mithin trotz der vielfältigen Abhängigkeiten dem Deutschen Reich gegenüber
um Ausland (BSG Urteil vom 23.8.2001 - Aktenzeichen B 13 RJ 59/00 R).
Der verstorbene Ehemann der Klägerin war Verfolgter im Sinne des § 1 Abs. 1 BEG. Als Jude wurde er
aufgrund seines Glaubens durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt.
Die Klägerin konnte aber nicht glaubhaft machen, dass ihr Ehemann seine Tätigkeit in Rzeszow freiwillig
ausgeübt hat. Die Kammer verkennt dabei nicht, dass in den nationalsozialistischen Ghettos
menschenverachtende und unwürdige Bedingungen herrschten, die mit einem heutigen freien
Arbeitsmarkt nicht vergleichbar waren.
Die Klägerin gibt zwar in der Klageschrift an, ihr Ehemann habe die Tätigkeit aufgrund eigener
Bemühungen durch den Judenrat aufgenommen. Die Kammer ist aber davon überzeugt, dass es sich um
eine zugewiesene und unter Arbeitszwang ausgeübte Beschäftigung handelte. Dafür spricht zunächst
bereits, dass die Klägerin noch im Rentenantragsformular vom 29.8.2003 angab, ihr Ehemann habe seine
Arbeit „durch die Familie“ gefunden und sich damit in Widerspruch zu ihrem Vortrag im Klageverfahren
setzt. Entscheidend sind für die Kammer aber vor allem die Angaben ihres Ehemanns selbst aus dem
Entschädigungsverfahren. Daraus ergibt sich, dass es sich bei dem (Rest-) Ghetto von Rzeszow in der
Zeit, in der sich Herr M dort befand, keinen freien Arbeitsmarkt im Sinne eines Ghettoarbeitsmarkts mehr
gab. Vielmehr handelte es sich (bereits) um ein Arbeitslager, in dem Arbeiten hoheitlich zugewiesen
wurden.
In seiner eidesstattlichen Versicherung (Blatt 15 der Verwaltungsakte der Beklagten) aus dem
Entschädigungsverfahren differenzierte Herr M klar zwischen den Termini „Ghetto“ und „Arbeitslager“. So
schreibt er dort:
„[...] und, da ich keinen hatte, der mich hätte aufnehmen wollen, floh ich in das Ghetto in Sieniawa. In
diesem Ghettolager bin ich bis ungefähr November 1942 geblieben. Zu dieser Zeit wurde auch dieses
Ghetto liquidiert und es gelang mir noch im letzten Augenblick zu entkommen. Ich bin dann wieder nach
Rzeszow zurückgekehrt, wo es ein Arbeitslager gab. Hier musste ich mich an einen Juden wenden, der
dort Werkstattleiter war und mich dort aufnahm. [...] Es wurden in diesen Werkstätten Schneider-,
Schlosser- und Schusterarbeiten verrichtet und ich wurde der Schlosserabteilung zugeteilt.“
Aus der Auslegung des Wortlauts dieser eidesstattlichen Versicherung ergibt sich zur Überzeugung der
Kammer, dass das (Haupt-) Ghetto Rzeszow nach seiner Auflösung im Juli 1942 kein Ghetto mehr war,
sondern ein reines Arbeitslager. In einem Arbeitslager sind die Arbeitsbedingungen aber – dies ergibt sich
bereits aus dem Wort „Arbeitslager“ selbst – geprägt durch eine Inhaftierung zum Zwecke eines
zwanghaften Arbeitseinsatzes. Im Gegensatz zur noch verhältnismäßig freien Lebenssituation in einem
Ghetto, die zwar geprägt war durch Repressalien und Schikanen des Regimes, aber dennoch gerade
hinsichtlich der Arbeit Raum ließen für eine freie Willensbetätigung, ist ein Arbeitslager eher vergleichbar
mit einer Inhaftierung. Es steht damit in Bezug auf die noch mögliche Freiwilligkeit der Betätigung
zwischen einem Ghetto und einem "Konzentrationslager". Während in einem Ghetto eine freiwillige
Arbeitsaufnahme prinzipiell möglich war, ist in einem Arbeitslager im Grundsatz von Zwangsarbeit
auszugehen. Dafür spricht in der eidesstattlichen Versicherung weiter, dass Herr M davon berichtet, dass
er sich an den Werkstattleiter wenden „musste“ und einer bestimmten Abteilung „zugeteilt“ wurde.
Nicht entscheidend für die Kammer ist hingegen, ob der Entschluss, sich in ein Arbeitslager zu begeben
freiwillig war. Es kommt vielmehr ausschließlich darauf an, dass im Arbeitslager eine Arbeitsstelle und die
Art der verrichteten Arbeit nicht frei gewählt werden konnte, sondern durch hoheitliche Zuweisung
geschahen und dass die Art und Weise der Verrichtung durch hoheitliche Eingriffe überlagert war.
Es kann mangels glaubhafter gemachter Freiwilligkeit der Tätigkeit dahingestellt bleiben, ob der Ehemann
der Klägerin die Tätigkeit entgeltlich ausgeübt hat. Auch dies erachtet die Kammer jedenfalls als fraglich.
Zwar gibt die Klägerin an, dass ihr Ehemann für seine Arbeit drei Mahlzeiten täglich und manchmal
Zigaretten erhalten habe und dass er diese als Tauschmittel habe einsetzen können. Es spricht jedoch
einiges dafür, dass dieser Sachbezug zu gering war, um noch als Entlohnung angesehen werden zu
können. Es handelte sich wohl vielmehr um ein „Mittel zur Erhaltung der Arbeitskraft“. Zwar ist die Höhe
des Entgelts grundsätzlich kein wesentliches Merkmal für das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines
Beschäftigungsverhältnisses. Art und Umfang der gewährten Leistungen können aber Anhaltspunkte
dafür geben, ob das Entgelt als Bezahlung im Sinne einer Entlohnung der geleisteten Arbeit oder zu
anderen Zwecken, wie z.B. nur als „Mittel zur Erhaltung der Arbeitskraft“ des zur Arbeit gezwungenen
Beschäftigten, gedacht ist. Allzu geringfügige Leistungen außerhalb eines jeden Verhältnisses zur
erbrachten Leistung haben dabei keinen Entgeltcharakter mehr (BSG, Urteil vom 19.04.1990 -
Aktenzeichen 1 RA 91/88; Urteil vom 22.09.1988 - Aktenzeichen 7 RA 13/87; Urteil vom 07.10.2004 -
Aktenzeichen B 13 RJ 59/03 R).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ausgang des
Rechtsstreits.