Urteil des SozG Schleswig vom 08.03.2005

SozG Schleswig: arbeitslosenhilfe, erworbenes recht, zumutbare arbeit, sozialstaatsprinzip, sozialhilfe, bedürftigkeit, zwangsarbeit, erlass, eigentumsgarantie, exekutive

Sozialgericht Schleswig
Beschluss vom 08.03.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Schleswig S 6 AS 70/05 ER
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
Der zulässige Antrag hat in der Sache keinen Erfolg.
Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Der Antragsgegner hat den monatlichen
Bedarf aufgrund der gesetzlichen Grundlagen gemäß § 20 SGB II, § 22 SGB II und § 24 SGB II zutreffend berechnet.
Die von dem Antragsgegner zutreffend angewendeten Normen verstoßen nicht gegen das Grundgesetz, insbesondere
nicht gegen Art. 1 GG, Artikel 14 GG, Art. 12 GG und das Sozialstaatsgebot aus Art. 20 GG.
Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, dass mit den gewährten Leistungen sein individueller Bedarf nicht
gedeckt werden kann.
§ 15 SGB II verstößt nicht gegen Art. 12 GG. Nach Art. 12 Abs. 2 GG darf niemand zu einer bestimmten Arbeit
gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstpflicht.
Nach Abs. 3 des Art. 12 GG ist Zwangsarbeit nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.
Soweit der Antragsteller in seiner Antragsbegründung vorträgt, dass ein Erwerbsloser jede Tätigkeit ausüben muss,
liegt kein Verstoß gegen Art. 12 GG vor. Die Eingliederungsvereinbarung nach § 15 SGB II ist im Kern eine staatliche
Hilfeleistung zur Selbsthilfe. Zuzugeben ist dem Antragsteller, dass die Regelung des § 15 SGB II einen Druck auf
den Arbeitsuchenden ausübt. Soweit der Hilfesuchende die Eingliederungsvereinbarung nicht freiwillig abschließt,
sollen die Inhalte der Eingliederungsvereinbarung nach § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II durch Verwaltungsakt erfolgen.
Diese Regelung stellt keine Zwangsarbeit im Sinne des Art. 12 Abs. 2 GG noch ein Zwang zur Arbeit dar. Nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ist als Arbeitszwang diejenige Verpflichtung anzusehen, eine
bestimmte Tätigkeit ausführen, sofern die Verpflichtung zu einer Verletzung der Menschenwürde führt oder führen
könnte (BVerfGE 74, 102, 121f). Bei der Regelung des § 15 SGB II handelt es sich vielmehr um eine Entscheidung,
die im Ermessen des Arbeitsuchenden steht, sich dem Sanktionssystem des SGB II zu unterwerfen, soweit er keine
Bereitschaft zeigt, Bemühungen zur Arbeitssuche zu unternehmen. Dieser mittelbare "sanfte Zwang” führt zu
finanziellen Nachteilen. Diese werden nur ausnahmsweise von Artikel 12 Abs. 2 und 3 GG erfasst (vgl. Rittstieg in
AK-GG, Art. 12 Rdnr. 160). Zu unterscheiden ist der Fall, indem die Gewährung von Sozialhilfe von der Übernahme
einer bestimmten Arbeit seitens eines Sozialhilfeempfängers abhängig gemacht würde. Das Attribut "bestimmt”
bedeutet, dass eine konkrete und individuelle Tätigkeit gemeint wäre. Soweit im SGB II eine allgemeine Arbeitspflicht
als Hilfe zur Selbsthilfe statuiert wird, wird Artikel 12 Abs. 2 GG nicht berührt (Gubelt in v. Münch/Kunig, GG-
Kommentar, Art. 12 Rdnr. 80). Die gesetzliche Möglichkeit der Kürzung oder Streichung der Hilfe zum Lebensunterhalt
nach dem SGB II in den Fällen, in denen ein Leistungsberechtigter eine ihm angebotene zumutbare Arbeit ablehnt,
stellt keine Ausübung von Zwang im Sinne des Artikel 12 Abs. 2 GG dar (vgl. OVG Berlin, DÖV 1983, 516, 517). Der
Staat macht die Gewährung einer Leistung von zumutbaren Eigenbemühungen zur Sicherung des eigenen
Lebensunterhaltes abhängig. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Ein Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG liegt nicht vor. Nach dem eigenen Vorbringen des Antragstellers erhielt er im Jahr
2004 Arbeitslosenhilfe. Bei der Arbeitslosenhilfe handelte es sich um eine voll steuerfinanzierte Leistung. Diese wird
vom Anwendungsbereich des Art. 14 Abs. 1 GG nicht berührt. Soweit das Sozialgericht Dortmund (Az.: S 5 AL
304/00) vertritt, dass die unterschiedliche Bemessung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe gegen das
Gleichheitsgebot aus Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, nimmt es im Kern bezug zu der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts zum Arbeitslosengeld. Diese Rechtsprechung ist entgegen der vom SG Dortmund
vertretenen Ansicht weder auf die Arbeitslosenhilfe noch auf die Grundsicherung für Arbeitssuchende zu übertragen.
Es handelt sich um rein steuerfinanzierte Leistungen, die beide eine Bedarfssicherung zum Gegenstand haben und für
deren Ausgestaltung der Gesetzgeber einen weiten Beurteilungsspielraum besitzt.
Darüber hinaus handelt es sich bei Art. 14 Abs. 1 GG um ein normgeprägtes Grundrecht, welches durch die vom
Gesetzgeber erlassenen Regelungen inhaltlich definiert und mit Leben gefüllt wird. Die Verkürzung der Bezugsdauer
des Arbeitslosengeldes von 18 auf 12 Monate und die Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe stellt
keine Enteignung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG dar. Die Vorschrift enthält keine Ermächtigung für die Exekutive,
durch Einzelakt auf ein bestimmtes von ihr benötigtes Vermögensobjekt zuzugreifen, sondern begründet in genereller
und abstrakter Weise den Anspruch von Arbeitslosen auf die Leistung des Arbeitslosengeld. Der Vermögensinhalt von
abhängig Beschäftigten, die in die Arbeitslosenversicherung einzahlen, ist durch die Regelungen neu definiert worden.
Daher handelt es sich um eine Eigentumsinhaltsbestimmung. In den Fällen, in dem eine
Eigentumsinhaltsneubestimmung nur durch eine Entschädigungsregelung angemessen ausgestaltet werden kann,
bedarf es eines Ausgleiches (vgl. BVerfGE, Beschluss vom 14. Juli 1981, Aktenzeichen 1 BvL 24/78, BVerfGE 58,
137, 145 ff) und eines schonenden Überganges ins neue Recht (BVerfGE 58, 300, 350 ff). Diesen schonenden
Übergang, wobei dahin stehen kann, ob dies erforderlich war, hat der Gesetzgeber mit der Regelung des § 24 SGB II
geschaffen. Im Übrigen schließt sich die Kammer dem Beschluss der 3. Kammer des Sozialgerichtes Schleswig (Az.
S 3 AS 63/05 ER) vom 7. März 2005 zu der Frage der Eröffnung des Schutzbereiches des Art. 14 Abs. 1 GG für die
Arbeitslosenhilfe an. Dort heißt es: "Die im Schrifttum umstrittene Frage, ob das Institut der Arbeitslosenhilfe dem
Schutz der Eigentumsgarantie (Art 14 GG) unterliegt (dazu: Spellbrink in Spellbrink/Eicher, Kasseler Handbuch des
Arbeitsförderungsrechts, 2003, § 13 RdNr 31, 36 f) hat das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung verneint
(BSGE 59, 227, 233 = SozR 4100 § 134 Nr 29; BSGE 73, 10, 17 = SozR 3-4100 § 118 Nr 4; BSGE 85, 123, 130 =
SozR 3-4100 § 136 Nr 11; BSG SozR 3-4300 § 427 Nr 2), denn die Arbeitslosenhilfe ist durch das Merkmal der
Bedürftigkeit und die Finanzierung aus Steuermitteln geprägt. Die Abhängigkeit des Anspruchs auf Arbeitslosenhilfe
von der Bedürftigkeit des Arbeitslosen zeigt, dass weniger ein durch eigene Leistung im Sinne der Ausschließlichkeit
erworbenes Recht als eine Schutz- und Fürsorgeleistung verwirklicht wird, die von der "Entwicklung der tatsächlichen
und persönlichen Verhältnisse" abhängig ist (vgl BVerfGE, 4, 219, 242). Im Gegensatz zu der auf einer
Beitragszahlung beruhenden Versicherungsleistung des Arbeitslosengeldes setzt die Arbeitslosenhilfe Bedürftigkeit
voraus und ist damit dem Betroffenen nicht "nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts" zugewiesen (BVerfGE 69, 272,
300 = SozR 2200 § 165 Nr 81; vgl auch Spellbrink aaO RdNr 36; aM Davy, ZIAS 2001, 221, 241 ff). Die konkrete
Reichweite des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes ergibt sich außerdem erst aus der Bestimmung von Inhalt
und Schranken des Eigentums, die Aufgabe des Gesetzgebers ist (BVerfGE 72, 9, 22 = SozR 4100 § 104 Nr 13
mwN). Die Eigentumsgarantie wird nicht verletzt, wenn eine Regelung durch Gründe öffentlichen Interesses unter
Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt ist. Die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe hat der Gesetzgeber zur unumgänglichen Einsparung öffentlicher Mittel getroffen, um den Zugang zu
arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, zur sozialen Sicherung und zu den Gerichtsbarkeiten (Sozial- und
Verwaltungsgericht) zu vereinheitlichen sowie Lastenverschiebungen zwischen den Gebietskörperschaften zu
verhindern (BT-Drucks 15/1516 S 42). Die Eignung und Erforderlichkeit der Regelung zum Erreichen des angestrebten
Ziels der Haushaltssanierung steht außer Zweifel.” Unabhängig hiervon ist im vorliegenden Fall der Schutzbereich des
Art. 14 Abs. 1 GG für den Antragsteller nicht betroffen, da der vorherige Bezug der Arbeitslosenhilfe nicht unter den
Eigentumsschutz fällt.
Die Festlegung der Regelsatzhöhe verstößt nicht gegen das Sozialstaatsgebot aus Art. 20 Abs. 1 GG. Das
Sozialstaatsprinzip ist ein unmittelbar geltendes Recht (vergleiche BVerfGE 6, 32, 41). Das in Art. 20 Abs. 1 GG
unbestimmt formulierte Prinzip des Sozialstaates bedarf im hohen Maße der Konkretisierung durch den Gesetzgeber
sowie eine Präzisierung durch die Rechtsprechung (vgl. BVerfGE 65, 182, 193). Nach der früheren Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichtes ergaben sich aus dem Sozialstaatsprinzip regelmäßig keine subjektiven Rechte
(vgl. BVerfGE 27, 253, 283). Ob diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes vor dem Hintergrund der
Entwicklung des Instituts des Untermaßverbotes (vgl. BVerfGE, Urteil vom 02. Mai 1993, Aktenzeichen 2 BvF 2/90,
BVerfGE 88, 203-366) weiter Bestand haben kann, kann vorliegend offen bleiben. Eine subjektiv-rechtliche
Ausprägung erhält das Sozialstaatsprinzip in Zusammenschau mit der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG. Der
Staat ist verpflichtet Hilfe denjenigen zu leisten, die hilfebedürftig sind. Die Hilfe muss als Leistungsmaß die
Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins sicherstellen (BVerfGE 40, 121, 133). Der Auftrag richtet
sich in einem ersten Schritt an den Gesetzgeber, der dieses Sozialstaatsprinzip durch Gewährung von Leistungen
sowohl hinsichtlich ihres Umfanges, wie auch der Anspruchsvoraussetzungen, zu konkretisieren hat. Hierbei steht
dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zu (vgl. BVerfGE 70, 278, 288). Der Gesetzgeber muss nicht jeden
Einzelfall im Blick haben und insofern jedes Detail des menschlichen Bedarfes regeln. Er darf typisieren,
verallgemeinern und generelle Regelungen schaffen. Soweit atypische Bedarfe vorliegen, die der Gesetzgeber nicht
durch seine Regelungen erfasst hat, kommt die Aufgabe der Exekutive und der Rechtsprechung zu, gesetzliche
Regelungen verfassungskonform auszulegen und denklogisch notwendige Lücken zu schließen.
Soweit der Antragsteller sich auf das Gutachten von Professor Berlit (http://www.tacheles-
sozialhilfe.de/aktuelles/2003/StellungnahmeGesetzentwuerfeAlhiBSHGFassung030814 z.pdf) zur
Verfassungswidrigkeit der Hartz-Gesetze zum SGB II bezieht, ist dieser Verweis unvollständig. Professor Berlit greift
die seit Jahren geführte Diskussion über die Bedarfsdeckung der Eckregelsätze auf und zweifelt an der
Verfassungsmäßigkeit der Festlegung aufgrund von Bedenken an der Methodik der Bedarfsermittlung. Mit der
Umstellung des Warenkorb- zum Statistikmodell zum 01. Juli 1990 begann die Diskussion im Wesentlichen über die
Methodik des neuen Bedarfsbemessungssystems (vergleiche eingehend Rotkegel/Satorius in Rotkegel,
Sozialhilferecht, Seite 236, Randnummer 30 ff). Bei der Diskussion stand die Methodik der Bedarfsermittlung und
ihren inhärenten Problemen im Vordergrund. Aus den systematischen Unsicherheiten des Statistikmodells wurde der
Schluss gezogen, dass die Bemessungsgrundlage nicht hinreichend gesichert sei. In einem weiteren, aus der Sicht
des Gerichtes nicht zwingenden, Schluss ist im Wesentlichen in der Literatur vertreten worden, dass die
Eckregelsätze zu niedrig seien (zu den methodischen Bedenken zusammenfassend Rotkegel/Satorius, a.a.O., S. 238
Rdnr. 35 ff m.w.N.). Soweit z. B. vorgetragen wird, dass die Führung von Haushaltsbüchern auf freiwilliger Basis für
das Statistische Bundesamt zur Durchführung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zu Spareffekten führe und
sich hierdurch tendenziell zu niedrige Regelsätze berechnet werden könnten, ist diese Kritik aus Sicht des Gerichtes
unbegründet. Hilfe zum Lebensunterhalt hat die Funktion ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, welches sich
an den Lebensgewohnheiten von unteren Einkommensschichten orientieren soll. Ein sparsamer Umgang mit den von
der Allgemeinheit zur Verfügung gestellten Mitteln entspricht der gesetzlichen Intention der Bemessungshöhe der Hilfe
zum Lebensunterhalt. Das Lohnabstandsgebot bietet zudem, dass ein Differenzbetrag zu diesen unteren
Einkommensschichten noch besteht.
Da der Gesetzgeber bei der Regelung eine Einschätzungsprärogative besitzt, besteht auch keine gesetzliche
Verpflichtung für ein bestimmtes Bedarfsermittlungssystem. Der Gesetzgeber kann nicht verpflichtet werden, das
Warenkorbmodell als Bemessungsgrundlage zu wählen, soweit er das Untermaßverbot beachtet. Eine Verletzung des
Untermaßverbotes ist vorliegend nicht ersichtlich.
Nicht zu erkennen ist, weshalb der Antragsteller mit dem ihm zugebilligten Eckregelsatz in Verbindung mit der
Starthilfe von 80,00 Euro monatlich nicht das Notwendige zur Unterhaltung seines Lebensbedarfes zu decken vermag.
Im Übrigen fehlt es jedenfalls am Vorliegen des für den Erlass der einstweiligen Anordnung erforderlichen
Anordnungsgrunds. Die vorläufige Regelung des Rechtszustands nach Maßga-be des gestellten Antrags erscheint
vorliegend nicht erforderlich, um wesentliche Nachteile für den Antragsteller abzuwenden, denn er kann seinen
notwendigen Bedarf jedenfalls vorläufig durch die gewährten Leistungen decken. Im übrigen hat er eine gegenwärtige
Notlage nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit dargelegt.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.