Urteil des SozG Saarbrücken vom 27.08.2007

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SG Saarbrücken Entscheidung vom 27.8.2007, S 14 R 463/07
Erwerbsminderung - Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres - Rentenabschlag
Leitsätze
Erwerbsminderungsrenten sind auch bei unter 60jährigen Versicherten mit
Rentenabschlägen zu versehen.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit von Rentenabschlägen.
Die Beklagte bewilligte der 1948 geborenen Klägerin mit Bescheid vom 25. Januar 2007
Dauerrente wegen teilweiser Erwerbsminderung ab 1. Juni 2006. Mit weiterem Bescheid
vom 29. Januar 2007 gewährte sie an Stelle der bisherigen Rente befristete Rente wegen
voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. Dezember 2006 bis zum 30. November
2009. Im Rahmen der jeweiligen Rentenberechnungen verminderte sie wegen vorzeitiger
Inanspruchnahme der Leistungen den grundsätzlichen Zugangsfaktor von 1,000 um 0,108
auf 0,892, so dass sich die persönlichen Entgeltpunkte statt 26,1972 auf 23,3679
beliefen.
Hiergegen erhob die Klägerin Widersprüche und begehrte unter Bezugnahme auf die
höchstrichterliche Rechtsprechung (Urteil des Bundessozialgerichts vom 16. Mai 2006 - Az:
B 4 RA 22/05 R), wonach Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten für Rentner unter 60
Lebensjahren unzulässig seien, eine Neufestsetzung der Renten ohne Abschläge.
Mit Bescheid vom 12. April 2007 wurden die Widersprüche zurückgewiesen. Auch
Erwerbsminderungsrenten, die vor dem 60. Lebensjahr in Anspruch genommen würden,
seien mit einem Abschlag zu versehen. Bei § 77 Absatz 2 Satz 3 SGB VI handle es sich um
eine bloße Berechnungsregel. Im Übrigen sei mit dem Gesetz zur Reform der Renten
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit die Zurechnungszeit verlängert worden. Die
Neuregelung der Zurechnungszeit ergebe eine beträchtliche Rentenerhöhung in den Fällen,
in denen der Versicherte bereits in jungen Jahren erwerbsgemindert werde. Die über die
gesamte Bezugsdauer hinzunehmenden Rentenabschläge würden daher durch die
Neuregelung der Zurechnungszeit eine hohe Kompensation finden. Dem zitierten Urteil
werde über den Einzelfall hinaus nicht gefolgt.
Hiergegen richtet sich die fristgerecht erhobene Klage.
Die Klägerin wiederholt ihr Vorbringen, nach höchstrichterlicher Rechtsprechung habe sie
Anspruch auf ungekürzte Renten.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 25. Januar 2007
und 29. Januar 2007 in der Form des Widerspruchsbescheides vom
12. April 2007 zu verurteilen, die bewilligten Renten ohne Minderung
des Zugangsfaktors zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich auf die Begründung in den angefochtenen Bescheiden.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte
und der beigezogenen Verwaltungsakten (3 Bände) der Beklagten.
Entscheidungsgründe
Entscheidungsgründe
Da die Kammer zu den Fragen der Anwendung des § 77 SGB VI auf Rentenbezieher, die
das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, bereits in voller Kammerbesetzung durch
Urteil entschieden und sich insoweit eine gefestigte erstinstanzliche Rechtsprechung
gebildet hat, konnte in vorliegender Sache nach Anhörung der Beteiligten ein
Gerichtsbescheid ergehen.
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Die angefochtenen Bescheide, die in Form des Widerspruchsbescheides Gegenstand des
Klageverfahrens sind, sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Es
besteht kein Anspruch auf höhere Rente ohne Abschlag. Hiervon ist die Kammer
überzeugt.
Zwar ist einzuräumen, dass bei Heranziehung der vom Bundessozialgericht vertretenen
Rechtsauffassung (Urteil vom 16. Mai 2006 - Az: B 4 RA 22/05 R) eine Verminderung des
Zugangsfaktors nicht vorzunehmen und mithin der geltend gemachte Anspruch begründet
wäre, weil die Klägerin das 60. Lebensjahr noch nicht erreicht hat. Die Kammer vermochte
jedoch dem genannten Urteil nicht zu folgen.
Die insoweit in den Vordergrund gerückte Regelung des § 77 Absatz 2 Satz 3 SGB VI,
wonach die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des
Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gilt, kann aus Sicht der
Kammer nicht aus ihrem Zusammenhang mit den vorausgehenden Bestimmungen des §
77 Absatz 2 Satz 1 Nr. 3 und Satz 2 SGB VI gelöst werden. Soweit in § 77 Absatz 2 Satz
2 SGB VI die Vollendung des 60. Lebensjahres als maßgebend für die Bestimmung des
Zugangsfaktors festgelegt wird, ist nach dem Gesetzeswortlaut der Zugangsfaktor so zu
bestimmen, als ob die Erwerbsminderungsrente nicht vor Vollendung des 60. Lebensjahres
bezogen würde. Ein Versicherter, der ab dem 50. Geburtstag eine Rente wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit bezieht, hätte nach der Ausgangsregelung des § 77 Absatz
2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI an sich eine Kürzung des Zugangsfaktors um 0,003 für jeden der
insgesamt 156 Kalendermonate der Inanspruchnahme der Rente vor Vollendung des 63.
Lebensjahres hinzunehmen, so dass sich ein Zugangsfaktor von lediglich 0,532 ergeben
würde. § 77 Absatz 2 Satz 2 und 3 SGB VI modifizieren diese Regelung jedoch
dahingehend, dass die Kürzung des Zugangsfaktors um 0,003 nur für jeden der insgesamt
36 Monate zwischen Vollendung des 60. und des 63. Lebensjahres vorzunehmen ist, so
dass jedenfalls ein Zugangsfaktor von 0,892 verbleibt. Insoweit liegt lediglich eine
Berechnungsregel vor.
Die Gesetzesmaterialien sprechen ausweislich der Gesetzesbegründung zum
Rentenreformgesetz eher dafür, dass der Gesetzgeber eine Kürzung des Zugangsfaktors
für alle vorzeitigen Bezieher, auch die noch nicht 60-jährigen, einer Rente wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit regeln wollte. Wäre dagegen die Bestimmung des § 77
Absatz 2 Satz 3 SGB VI, dass die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60.
Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gilt,
tatsächlich als Ausschlussregelung in dem Sinn zu verstehen, dass Rentenbezieher vor
Vollendung des 60. Lebensjahres keinen Rentenabschlägen unterliegen sollen, käme es zu
der nicht überzeugenden Rechtsfolge, dass eine vor Vollendung des 60. Lebensjahres
abschlagsfrei in Anspruch genommene Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für
Zeiten des Bezuges ab Vollendung des 60. Lebensjahres zu mindern wäre. Ein
Erwerbsminderungsrentner, dessen Rentenbezug abschlagsfrei vor Vollendung des 60.
Lebensjahres begann, müsste dann mit Vollendung des 60. Lebensjahres allein auf Grund
seines Geburtstages eine Kürzung seiner Rente um 10,8 vom Hundert hinnehmen, ohne
dass sonst eine Veränderung in den Verhältnissen festzustellen wäre. Eine derartige
Rentenkürzung während des Rentenbezuges ohne jegliche Veränderung in den
Verhältnissen ist dem bisherigen Rentenrecht aber fremd. Sie stände im Widerspruch zu §
88 Absatz 1 SGB VI, der einen umfassenden Besitzschutz für Folgerenten bietet. Überdies
widerspräche sie auch dem mit der Erwerbsminderungsrente angestrebten
Versorgungsziel, da typischerweise die Möglichkeiten einer Aufbesserung der Rente durch
einen Hinzuverdienst mit zunehmendem Alter abnehmen dürften.
Demgemäß geht auch die neuere Literatur (Polster in Kasseler Kommentar,
Sozialversicherungsrecht, Stand 1. März 2007, Anm. 21 zu § 77 SGB VI) davon aus, dass
die Kürzung des Zugangsfaktors auf 0,892 auch für Rentenbezieher vor dem 60.
Lebensjahr gilt. Zu § 77 Absatz 2 Satz 3 SGB VI wird ausgeführt, dass die Vorschrift
sicherstelle, dass die vorzeitigen Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit immer einen
Abschlag erhalten, wenn die Rente vor dem 60. Lebensjahr des Versicherten beginnt.
Auch andere Sozialgerichte haben in erster Instanz insbesondere unter Bezugnahme auf
die Verlängerung der Zurechnungszeit, die die betroffenen Rentenbezieher begünstige,
entschieden, dass auch Erwerbsminderungsrenten, die vor dem 60. Lebensjahr in
Anspruch genommen werden, mit einem Abschlag zu versehen sind (Urteil des
Sozialgerichts Aachen vom 9. Februar 2007 – Az: S 8 R 96/06; Urteil des Sozialgerichts
Altenburg vom 22. März 2007 – Az: S 14 KN 64/07; Urteil des Sozialgerichts Köln vom 12.
April 2007 – Az: S 29 (25) R 337/06; Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 23. April
2007 – Az: S 3 R 26/07; Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 30. Mai 2007 – Az: S 14
R 4013/07). Dem tritt die erkennende Kammer bei.
Nach alledem war die Klage wie geschehen abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.