Urteil des SozG Reutlingen vom 23.03.2016

leistungsausschluss, europäische union, arbeitssuche, aufenthalt

SG Reutlingen Urteil vom 23.3.2016, S 4 AS 114/14
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur
Arbeitsuche - Sozialhilfe - Leistungsausschluss für dem Grunde nach Leistungsberechtigte
nach dem SGB II - Erwerbsfähigkeit als maßgebliches Kriterium für eine Systemabgrenzung -
keine Verpflichtung zur Leistungsgewährung - Europarechtskonformität - Charakter der
Arbeitnehmerfreizügigkeit - Verfassungsmäßigkeit - Zumutbarkeit einer Rückkehr ins
Heimatland
Leitsätze
1. Personen, die aufgrund § 7 Abs. 2 S 2. Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen
sind, sind durch § 21 S. 1 SGB XII auch vom Leistungsbezug nach dem SGB XII ausgeschlossen.
2. Die anderweitige Auffassung des BSG führt zu einem Ergebnis, das mit der "Systemabgrenzung" zwischen
dem SGB II und dem SGB XII nicht vereinbar ist.
3. Der Ansatz des BSG, jeder nicht ausgewiesene Ausländer müsse bei einem verfestigten Aufenthalt in
irgendeiner Weise vom Aufenthaltsland alimentiert werden, verkennt den Charakter der unionsrechtlichen
Arbeitnehmerfreizügigkeit.
4. Das entformalisierte und faktisch nahezu schrankenlose Freizügigkeitsrecht von Arbeitnehmern und
Arbeitsuchenden lässt sich nur durchführen und aufrechterhalten, wenn zur Vermeidung unerwünschter und
nicht beabsichtigter Missbrauchs- und Mitnahmeeffekte die Voraussetzungen für den Bezug von
Sozialleistungen bei Wahrnehmung dieses Rechts enger geknüpft werden als das Freizügigkeitsrecht selbst.
5. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen wegen des begrenzten Wirkungsbereichs des
Leistungsausschlusses und unter Abwägung mit den Vorteilen, die Arbeitsuchende durch die Freizügigkeit
erlangen, nicht.
6. Teil der dem Art.1 GG zu Grunde liegenden Vorstellung vom Menschen ist die Eigenverantwortung. Dazu
gehört bei einem ausbleibenden nachhaltigen Erfolg der Arbeitsuche ggf. die Rückkehr in das Heimatland.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
1 Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Arbeitslosengeld II nach dem Zweiten Buch
Sozialgesetzbuch (SGB II) hilfsweise um die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Zwölften
Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).
2 Der im Jahr 1959 geborene Kläger ist französischer Staatsangehöriger. Seit dem Jahr 1978 ist er in
verschiedenen Ländern, zuletzt hauptsächlich in Frankreich und Deutschland, in der Gastronomie tätig - die
Beschäftigungszeiten umfassten seit dem Jahr 2007 jeweils nur einige Monate. Nach seinem letzten Wegzug
aus Deutschland im Juni 2012 reiste er im Juli 2013 aus Frankreich kommend erneut nach Deutschland ein.
Seither lebt er hier. Am 15.07.2013 nahm er eine Beschäftigung als Servicekraft in der Gastronomie auf.
Dieses Beschäftigungsverhältnis kündigte er selbst zum 05.10.2013. Im November 2013 beantragte der
Kläger beim Beklagten die Gewährung von Arbeitslosengeld II. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit
Bescheid vom 09.12.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.01.2014 ab. Zur Begründung
verwies er auf die für Ausländer geltende Ausschlussklausel des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II. Das
Aufenthaltsrecht des Klägers in Deutschland leite sich allein aus dem Zweck zur Arbeitssuche ab.
Unerheblich sei, dass er nicht erstmalig nach Deutschland eingereist sei. Sein Recht auf Freizügigkeit als
Arbeitnehmer sei nicht bestehen geblieben, da er seine Stelle selbst gekündigt habe.
3 Deswegen hat der Kläger am 16.01.2014 beim Sozialgericht Reutlingen Klage erhoben (S 10 AS 114/14)
und gleichzeitig die Gewährung von einstweiligen Rechtsschutz geltend gemacht (S 10 AS 113/14 ER). Mit
einstweiliger Anordnung vom 06.02.2014 ist der Beklagte vom Sozialgericht zur vorläufigen Erbringung von
Leistungen für die Zeit vom 16.01.2014 bis 30.04.2014 verpflichtet worden. Zur Begründung hat das
Gericht ausgeführt, für die Entscheidung komme es auf die Europarechtskonformität der Ausschlussklausel
des § 7 SGB II an. Diese sei bislang nicht abschließend geklärt, so dass deswegen nach einer
Folgenabwägung die Verpflichtung des Beklagten auszusprechen gewesen sei.
4 Am 13.03.2014 nahm der Kläger wieder eine Beschäftigung auf.
5 Mit Urteil vom 15.09.2015 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in der Rechtssache C-67/14 (Sache
Alimanovic) auf den Vorlagebeschluss des Bundessozialgerichts (BSG) vom 12.12.2013 (B 4 AS 9/13 R; alle
Entscheidungen, auch die nachfolgend zitierten, in juris) die Europarechtskonformität der Ausschlussklausel
§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II bestätigt. Das BSG hat nachfolgend in ähnlich gelagerten Fällen für den Fall eines
mithin europarechtskonformen Leistungsausschlusses nach § 7 SGB II bei Bestehen eines verfestigten
Aufenthalts in Deutschland, den das BSG ab einer Aufenthaltsdauer von sechs Monaten angenommen hat
(z.B. Urteil vom 03.12.2015 im Verfahren B 4 AS 44/15 R Rn. 55), einen Anspruch des Hilfebedürftigen auf
laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII gesehen.
6 Nach einer internen Änderung der Geschäftsverteilung ist unter dem neuen Aktenzeichen S 4 AS 114/14
mit Beschluss vom 09.02.2016 die Beiladung der Stadt T. als zuständige Trägerin von Leistungen nach dem
SGB XII erfolgt.
7 Der Kläger macht geltend, seine letzte Stelle in Deutschland aus gesundheitlichen Gründen gekündigt zu
haben. Zudem seien seine früheren Aufenthalte und Beschäftigungen in Deutschland zu berücksichtigen.
8 Der Kläger beantragt,
9
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 09.12.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 10.01.2014 zu verurteilen, dem Kläger vom 01.11.2013 bis 30.04.2014 Arbeitslosengeld II in
gesetzlichem Umfang zu gewähren, hilfsweise die Beigeladene zu verurteilen, vom 01.11.2013 bis
30.04.2014 Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren.
10 Der Beklagte beantragt,
11 die Klage abzuweisen.
12 Der Beklagte hält an der getroffenen Entscheidung fest und sieht sich durch die Entscheidung des EuGH in
der Rechtssache Alimanovic bestätigt.
13 Die Beigeladene hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, der Rechtsprechung des BSG zu einem
Leistungsanspruch nach dem SGB XII bei Eingreifen der Ausschlussklausel des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II sei
nicht zu folgen. Hier würden Hilfebedürftige, die eindeutig erwerbsfähig seien, dem Leistungsbereich des
SGB XII zugewiesen, obwohl dieser auf erwerbsfähige Hilfebedürftige nicht ausgerichtet sei.
14 Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten und auf die Gerichtsakte,
welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung geworden sind, verwiesen.
Entscheidungsgründe
15 Die form- und fristgerecht beim sachlich und örtlich zuständigen Sozialgericht Reutlingen erhobene Klage ist
zulässig. Richtige Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 4
Sozialgerichtsgesetz (SGG).
16 Die Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Dem Kläger stand in den von ihm im Antrag benannten
streitgegenständlichen Zeitraum kein Anspruch auf Leistungen gegenüber dem Beklagten (dazu A.) und
auch nicht hilfsweise gegenüber der Beigeladenen (dazu B.) zu. Die angefochtenen Bescheide des Beklagten
erweisen sich als rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.
A.
17 Anspruchsgrundlage für einen Anspruch des Klägers gegenüber dem Beklagten ist § 7 Abs. 1 SGB II. Zwar
erfüllt der Kläger die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen (hierzu 1.). Er ist aber als Ausländer von
Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen (hierzu 2.). Die entsprechende Vorschrift im SGB II ist mit
Europarecht vereinbar (hierzu 3.). Einschränkungen des Leistungsausschlusses ergeben sich vorliegend auch
nicht aus den Regelungen des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA, hierzu 4.).
18 1. Zweifel am Vorliegen der allgemeinen Leistungsvoraussetzungen für einen Anspruch nach dem SGB II
bestehen nicht. Der Kläger hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch
nicht erreicht (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II). Der Kläger ist auch erwerbsfähig im Sinne § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2
i.V.m. § 8 SGB II. Er hat und hatte in dem streitbefangenen Zeitraum seinen gewöhnlichen Aufenthalt in
Deutschland (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II). Ferner unterstellt die Kammer, dass er gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 Nr.
3 i.V.m. § 9 SGB II in diesem Zeitraum hilfebedürftig war.
19 2. Der Kläger ist aber nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II als Ausländer, dessen Aufenthaltsrecht sich allein aus
dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, von den Leistungen nach dem SGB II ausgenommen. Maßgeblich für die
Prüfung des Aufenthaltsrechts ist das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern
(FreizügG/EU), das zur Umsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG der Europäischen Union ergangen
ist.
20 Dem Kläger stand in den streitbefangenen Zeiträumen kein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU
zu, da er sich nicht - auch früher zu keinem Zeitpunkt - ununterbrochen fünf Jahre ständig rechtmäßig im
Bundesgebiet aufhielt.
21 Ein Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger gemäß §§ 3, 4 FreizügG/EU wurde vom Kläger nie geltend
gemacht. Anhaltspunkte dafür sind auch für die Kammer nicht ersichtlich. Ebenso schied ein
Aufenthaltsrecht als nicht Erwerbstätiger mit ausreichenden Existenzmitteln gemäß § 4 FreizügG/EU aus, da
der Kläger mit seinem Begehren gerade geltend machte, nicht über ausreichende Existenzmittel zu
verfügen.
22 Im streitbefangenen Zeitraum bestand keine Freizügigkeitsberechtigung und damit kein Aufenthaltsrecht
des Klägers gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU als Arbeitnehmer. Eine Arbeitnehmereigenschaft lag in
diesem Zeitraum nicht vor.
23 Schließlich stand dem Kläger kein Aufenthaltsrecht aufgrund eines nachgehenden Arbeitnehmerstatus nach
§ 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, S. 2 FreizügG/EU zu. Nach diesen Regelungen bleibt die Freizügigkeitsberechtigung als
Arbeitnehmer bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach
mehr als einem Jahr Tätigkeit ohne konkrete zeitliche Einschränkung (S. 1 Nr. 2), dauerte die Beschäftigung
weniger als ein Jahr, während der Dauer von sechs Monaten (S. 2), unberührt. D.h. der Unionsbürger wird,
obwohl er keine Arbeit hat und eine Arbeit sucht, aufenthaltsrechtlich als Arbeitnehmer angesehen. Ein
solch nachgehender Arbeitnehmerstatus nach der knapp dreimonatigen Beschäftigung in Deutschland
scheitert daran, dass die eingetretene Arbeitslosigkeit nicht unfreiwillig war. Der Kläger kündigte selbst. Die
Kammer konnte sich nicht davon überzeugen, dass der Kläger aus gesundheitlichen Gründen gezwungen
war zu kündigen. Es liegen keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür vor, dass die von ihm in diesem
Zusammenhang geschilderten Bauchschmerzen und Rückenbeschwerden eine dauerhafte Ausübung der
aufgenommenen Beschäftigung unmöglich machten. Die Krankschreibung, die beim Kläger ab 23.09.2013
erfolgte, stellte keinen zwingenden Grund für eine Kündigung dar. Der Kläger ist hier vielmehr freiwillig in
die Arbeitslosigkeit gegangen. Klarstellend ist noch anzumerken, dass die früheren Beschäftigungszeiten in
Deutschland für die Prüfung der Beschäftigungsdauer nicht mehr von Bedeutung sind. Dagegen spricht die
erhebliche Unterbrechung des Bezugs zum deutschen Arbeitsmarkt, die infolge des Aufenthalts in Frankreich
von Juni 2012 bis Juli 2013 eingetreten war.
24 Somit bleibt als alleine in Betracht kommendes Aufenthaltsrecht des Klägers die Freizügigkeitsberechtigung
gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU für Unionsbürger, die sich zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten,
für bis zu sechs Monate und darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit
suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. Dieses Aufenthaltsrecht lag zur
Überzeugung der Kammer im streitbefangenen Zeitraum vor, führte jedoch gleichzeitig zum
Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II.
25 3. Dieser Leistungsausschluss ist, wie vom EuGH im Urteil vom 15.09.2015 in der Sache Alimanovic (s.o.)
bestätigt, europarechtskonform. Er schränkt insbesondere das in der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG den
Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen zugebilligte Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten
frei zu bewegen und aufzuhalten, nicht europarechtswidrig ein (so auch anknüpfend daran das BSG, u.a. im
Urteil vom 03.12.2015, B 4 AS 44/15 R Rn. 35). Der EuGH hat in diesem Urteil einer, wie vorliegend auch
vom Kläger angemahnten, zusätzlichen Prüfung der Verhältnismäßigkeit und Berücksichtigung weiterer
Einzelfallumstände eine klare Absage erteilt. Hierzu hat der EuGH insbesondere auf das in der
Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG enthaltene abgestufte System für die Aufrechterhaltung der
Erwerbstätigeneigenschaft hingewiesen und betont, dass damit bereits verschiedene Faktoren, die die
jeweiligen persönlichen Umstände der eine Sozialleistung beantragenden Personen kennzeichnen,
insbesondere die Dauer der Ausübung einer Erwerbstätigkeit, berücksichtigt werden (Rn. 59f.). Festzuhalten
ist, dass sich die Regelungen im FreizügG/EU, insbesondere auch § 2 FreizügG/EU klar an der
Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG orientieren. So werden in Art. 7 Abs. 3b und c dieser Richtlinie
hinsichtlich der Fortwirkung des Arbeitnehmerstatus die gleichen Vorbeschäftigungszeiten wie im
FreizügG/EU genannt. Soweit bei Beschäftigungen von weniger als zwölf Monaten die Aufrechterhaltung der
Erwerbstätigeneigenschaft für „mindestens“ sechs Monate verlangt wird, hat dem der deutsche
Gesetzgeber mit § 2 Abs. 3 S. 2 FreizügG/EU Rechnung getragen, indem er genau diesen Mindestzeitraum
wählte. Wie der EuGH weiter ausgeführt hat (Rn. 61), ermöglichen die Regelungen des FreizügG/EU den
Betroffenen, ihre Rechte und Pflichten eindeutig zu erfassen; folglich sind sie geeignet, bei der Gewährung
von Sozialhilfeleistungen im Rahmen der Grundsicherung ein erhöhtes Maß an Rechtssicherheit und
Transparenz zu gewährleisten und stehen zugleich im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
26 Zu betonen ist in diesem Zusammenhang, dass soweit das FreizügG/EU für einen nachgehenden
Arbeitnehmerschutz eine „unfreiwillige“ Arbeitslosigkeit voraussetzt, ebenfalls lediglich die Anforderungen
der diesem Gesetz zu Grunde liegenden Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG, insbesondere deren Art. 7 Abs.
3, wiederholt werden. Die Freizügigkeit als Arbeitnehmer soll auch nach der Richtlinie nur dann
aufrechterhalten bleiben, wenn der Arbeitnehmer für den Verlust seines Arbeitsplatzes nicht verantwortlich
ist. Es geht dabei zur Überzeugung der Kammer um die Vermeidung von Missbrauch und Mitnahmeeffekten.
Die Übernahme dieses Grundgedankens in das FreizügG/EU ist zweifellos europarechtskonform.
27 4. Der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II ist auch nicht wegen des in Art. 1 EFA geregelten
Gleichbehandlungsgebotes unanwendbar. Einer Inländergleichbehandlung hinsichtlich der Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II steht der von der Bundesregierung am 19.12.2011
diesbezüglich erklärte Vorbehalt entgegen. Die Kammer folgt insoweit der Rechtsprechung des BSG im Urteil
vom 03.12.2015 (B 4 AS 43/15 R Rn. 18).
B.
28 Ein Anspruch des Klägers auf Hilfe zum Lebensunterhalt gemäß §§ 27 ff. SGB XII scheitert an der
Ausschlussregelung des § 21 S. 1 SGB XII. Danach erhalten „Personen, die nach dem Zweiten Buch (SGB II)
als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind“, keine Leistungen für den
Lebensunterhalt (nach dem SGB XII).
29 Der Kläger gehörte als Erwerbsfähiger und dem Grunde nach zum Leistungsbezug nach dem SGB II
Leistungsberechtigter zu dem durch § 21 S. 1 SGB XII vom Bezug von Leistungen für den Lebensunterhalt
nach dem SGB XII ausgeschlossenen Personenkreis. Die Kammer folgt hinsichtlich dieser Auslegung des § 21
S. 1 SGB XII ausdrücklich nicht der Rechtsprechung des BSG in den Urteilen vom 03.12.2015 (B 4 AS 44/15
R Rn. 40 ff.) und vom 20.01.2016 (B 14 AS 35/15 R Rn. 34 ff.). Sie schließt sich vielmehr der ebenfalls von
den Urteilen des BSG abweichenden Rechtsprechung der 149. und 95. Kammer des Sozialgerichts Berlin
(Urteil vom 11.12.2015, S 149 AS 7191/13 Rn. 27ff. und Beschluss vom 22.02.2016, S 95 SO 3345/15 Rn.
16ff.), der 35. Kammer des Sozialgerichts Dortmund (Beschluss vom 11.02.2016, S 35 AS 5396/15 ER Rn.
23 ff.) und des 9. Senats des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 22.02.2016, L 9
AS 1335/15 B ER Rn. 56 ff.) an.
30 Die Auffassung des BSG, Personen, die - wie der Kläger - aufgrund § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II vom
Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen sind, seien nicht gem. § 21 S. 1 SGB XII nach dem SGB II
dem Grunde nach als Erwerbsfähige leistungsberechtigt, überzeugt nicht. Die Kammer geht vielmehr davon
aus, dass auch und gerade diese Personen durch § 21 S. 1 SGB XII vom Leistungsbezug nach dem SGB XII
ausgeschlossen werden.
31 Schon vom Wortlaut her spricht mehr dafür als dagegen, den Leistungsausschluss des § 21 S. 1 SGB XII
auch auf den Personenkreis zu erstrecken, der gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug nach
dem SGB II ausgenommen wird. Denn der Wortlaut des § 21 S. 1 SGB XII knüpft nicht nur an die dem
Grunde nach nach dem SGB II bestehende Leistungsberechtigung an, sondern ausdrücklich an eine solche
Leistungsberechtigung als Erwerbsfähiger. Die Erwerbsfähigkeit wird damit als maßgebliches
Abgrenzungskriterium zwischen den Leistungsbereichen des SGB II und des SGB XII in den Vordergrund
gerückt. Wer erwerbsfähig ist, soll keine Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII erhalten.
Die in § 8 SGB II näher geregelte Erwerbsfähigkeit ist bei den vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2
Nr. 2 SGB II vornehmlich betroffenen Unionsbürgern in aller Regel unproblematisch gegeben. In
gesundheitlicher Hinsicht setzt § 8 Abs. 1 SGB II lediglich die Fähigkeit voraus, auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt unter den üblichen Bedingungen mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig sein zu
können. Die in § 8 Abs. 2 SGB II für Ausländerinnen und Ausländer näher geregelten rechtlichen
Voraussetzungen einer Erwerbstätigkeit in Deutschland sind bei Unionsbürgern aufgrund der
Arbeitnehmerfreizügigkeit regelmäßig erfüllt.
32 Zudem knüpft der Wortlaut des § 21 S. 1 SGB XII mit der Erwähnung „als Erwerbsfähige (…)
leistungsberechtigt“ offensichtlich an die Legaldefinition „erwerbsfähige Leistungsberechtigte“ in § 7 Abs. 1
S. 1 a.E. SGB II an. Auch dies spricht dafür, den Leistungsausschluss des § 21 S. 1 SGB XII auf all diejenigen
zu beziehen, die die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II erfüllen - also auch
auf den erwerbsfähigen Unionsbürger, dessen Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche
herleitet.
33 Soweit das BSG demgegenüber betonte, der Wortlaut des § 21 S. 1 SGB XII stelle nicht ausschließlich auf
das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit ab, sondern berücksichtige auch einen Leistungsanspruch nach dem SGB
II dem Grunde nach (Urteil vom 03.12.2015, B 4 AS 44/15 R Rn. 41), ist einzuräumen, dass der Wortlaut
tatsächlich nicht eindeutig ist. Die Annahme, dass ein Erwerbsfähiger, der wegen des Vorliegens der
Voraussetzungen eines Leistungsausschlusses nach dem SGB II nicht leistungsberechtigt ist, nicht
zwangsläufig unter den Leistungsausschluss des § 21 S. 1 SGB XII fällt, ist unter alleiniger Berücksichtigung
des Wortlauts vertretbar. Genügt der Wortlaut für eine abschließende Auslegung einer Norm, wie hier § 21
S. 1 SGB XII, nicht, sind als weiterer Auslegungskriterien der Wille des Gesetzgebers, systematische
Gesichtspunkte und verfassungsrechtliche Vorgaben heranzuziehen und zu bewerten. Diese weiteren
Kriterien führen zu dem Ergebnis, dass die vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II
betroffenen Hilfebedürftigen auch unter den Leistungsausschluss des § 21 S. 1 SGB XII fallen und mithin
weder Leistungen nach dem SGB II noch nach dem SGB XII erhalten.
34 Die Kammer ist der Überzeugung, dass der Gesetzgeber gerade für den Personenkreis, der unter den
Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II fällt, keinen an die Stelle von Leistungen nach dem SGB
II tretenden Leistungsanspruch nach dem SGB XII wollte. Dies ergibt sich aus der Beschlussempfehlung und
dem Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zum Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des
Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (so u.a. auch SG Berlin, Urteil vom 11.12.2015, a.a.O. Rn. 30ff. und LSG
Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22.02.2016, a.a.O. Rn. 60f.). Darin wird im Zusammenhang mit der
Neufassung des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II zum 01.04.2006 ausgeführt, dass für die von dieser Regelung erfasste
Personengruppe auch Leistungen des SGB XII wegen § 21 S. 1 SGB XII nicht in Betracht kommen, da sie
dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II sind (BT-Drucks 16/688 S. 13). Diese Formulierung
des gesetzgeberischen Willens ist eindeutig. Dieser Wille lässt sich im Wortlaut des § 21 S.1 SGB XII
durchaus wiederfinden (a.A. scheinbar Greiser in: Schlegel/Voelzke, in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, Anhang
zu § 23 Rn. 97.3).
35 Zweifel an diesem eindeutigen gesetzgeberischen Willen aufgrund der Neufassung des § 23 Abs. 3 S. 1 SGB
XII im Dezember 2006 sind nicht begründet (so auch SG Dortmund, Beschluss vom 11.02.2016, a.a.O. Rn.
41ff. und LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22.02.2016, a.a.O. Rn. 64ff.). Zwar spricht der in § 23
Abs. 3 SGB XII eingefügte Ausschluss von Sozialhilfeleistungen für Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich
allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, auf den ersten Blick gegen die Annahme, dass ein
entsprechender Ausschluss schon nach § 21 SGB XII vorliegt. Denn dann wäre die Regelung in § 23 Abs. 3
SGB XII überflüssig (so als Gegenargument gegen die hier vertretene Auffassung: Coseriu in:
Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 23 Rn. 63.11). Und in der Tat hält die Kammer die eben
dargestellte Ausschlussregelung für Ausländer auf Arbeitssuche in § 23 Abs. 3 SGB XII für überflüssig. Ihre
Einfügung ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass schon vor den Entscheidungen des BSG vom Dezember
2015 und Januar 2016 vom Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (Beschluss vom 03.11.2006, L 20 B
248/06 AS ER Rn. 26) die Auffassung vertreten wurde, der Leistungsausschluss des § 21 S. 1 SGB XII greife
für Ausländer, die wegen § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II keine Leistungen nach dem SGB II erhalten können, nicht.
Die Kammer teilt die vom Sozialgericht Dortmund vertretene Auffassung (Beschluss vom 11.02.2016, a.a.O.
Rn. 44 mit Bezugnahme auf Coseriu, s.eben Rn. 64), dass die Einfügung der Ausschlussregelung für
arbeitsuchende Ausländer in § 23 Abs. 3 SGB XII nur als „sicherstellende“ gesetzgeberische Reaktion auf
eine von der Rechtsprechung - aus Sicht der Kammer freilich unzutreffend - vertretene Auffassung, die eine
faktische Aufhebung des durch § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II gewünschten Ausschlusses bestimmter
Personengruppen von Sozialleistungsbezug bewirkte, zu verstehen ist. Eine solche - aus Sicht der Kammer -
„Notwehrreaktion“ des Gesetzgebers, wie sie sich im Übrigen in ähnlicher Weise nunmehr auch nach den
Urteilen des BSG vom 03.12.2015 und 20.01.2016 (s.o.) abzeichnet (u.a. zuletzt: Meldung des BMAS vom
28.04.2016, „Arbeitnehmerfreizügigkeit durch klare Regeln sichern“, http://www.bmas.de), lässt sich
argumentativ nicht gegen die schon zuvor an sich richtige Auslegung des Gesetzes, hier des § 21 S. 1 SGB
XII, heranziehen.
36 Soweit das BSG zur Auslegung des § 21 S. 1 SGB XII hinsichtlich der im SGB II enthaltenen einzelnen
Leistungsausschlüsse eine differenzierte Betrachtung zur „Systemabgrenzung“ der Leistungssysteme des
SGB II und des SGB XII einfordert (Urteil vom 03.12.2015, B 4 AS 44/15 R Rn. 41ff.) und in diesem
Zusammenhang auf eigene früherer Entscheidungen für andere in § 7 SGB II geregelte Leistungsausschlüsse
verweist, hat das Sozialgericht Dortmund im Beschluss vom 11.02.2016 (S 35 AS 5396/15 ER Rn. 28 ff.)
sorgfältig und überzeugend herausgearbeitet, dass alle vom BSG im Urteil vom 03.12.2015 (s. eben)
genannten Entscheidungen einen Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 4 SGB II zum Gegenstand hatten und
die Rechtsprechung hierzu nicht auf den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II übertragen werden
kann. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II betrifft Personen, die nach näherer Maßgabe in einer
stationären Einrichtung untergebracht sind, Rentenleistungen beziehen oder sich in einer Einrichtung zum
Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung aufhalten. Es handelt sich mithin um Personengruppen,
bei denen der Bezug zum Arbeitsmarkt regelmäßig fehlt - auch wenn sie die geringen Anforderungen, die §
7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 i.V.m. § 8 Abs. 1 SGB II an das Merkmal der Erwerbsfähigkeit stellt, erfüllen. Tatsächlich
kommt aber eine Arbeitsaufnahme bei diesen Personengruppen typischerweise nicht in Betracht, es ist
vielmehr von einem zumindest vorübergehenden Ausscheiden aus dem Erwerbsleben auszugehen. Somit
handelt es sich bei § 7 Abs. 4 SGB II um eine „verkappte“ Regelung der Erwerbsunfähigkeit (Eicher in
Schlegel/Voelzke jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 21 Rn. 36). Aufgrund der generellen Erwerbszentriertheit
des SGB II (BSG, Urteil vom 03.12.2015, B 4 AS 44/15 R Rn. 41) erscheint es in der Tat sachgerecht, die von
dem Leistungsausschluss in § 7 Abs. 4 SGB II betroffenen Personengruppen, die keinen wirklichen Bezug
zum Erwerbsleben aufweisen, im Rahmen einer teleologischen Reduktion nicht als dem Grunde nach nach
dem SGB II leistungsberechtigte Erwerbsfähige im Sinne des § 21 S. 1 SGB XII zu behandeln (SG Dortmund,
Beschluss vom 11.02.2016, s. eben Rn. 38). Diese Herleitung verdeutlicht aber, dass eine
dementsprechende teleologische Reduktion für die vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II
betroffene Personengruppe gerade nicht sachgerecht ist. Denn diese Personengruppe weist einen ganz
konkreten Bezug zum Erwerbsleben auf. Schließlich leitet sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck
des Aufenthalts zur Arbeitssuche ab.
37 Die anderweitige Auffassung des BSG in den genannten aktuellen Entscheidungen vom 03.12.2015 und
20.01.2016 (a.a.O.) führt zu einem Ergebnis, das mit der vom BSG selbst für notwendig erachteten
„Systemabgrenzung“ zwischen dem SGB II und dem SGB XII nicht vereinbar ist. Diese „Systemabgrenzung“
wird von der vom BSG selbst angesprochenen Erwerbszentriertheit des SGB II geprägt. Vereinfacht
ausgedrückt sollen alle Hilfebedürftige, die in der Lage sind, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mehr als drei
Stunden täglich zu arbeiten (und die maßgeblichen Altersgrenzen erfüllen), in den Leistungsbereich des SGB
II fallen, die übrigen in den Leistungsbereich des SGB XII. Dementsprechend enthält das SGB II neben den
Anspruchsnormen auf laufende Geldleistungen zur Deckung des existenziellen Bedarfs u.a. auch
Anspruchsnormen für Leistungen zur Eingliederung in Arbeit. So unterstützen die Träger der Leistungen
nach dem SGB II gemäß § 14 S. 1 SGB II erwerbsfähige Leistungsberechtigte umfassend mit dem Ziel der
Eingliederung in Arbeit. Neben dem dahinter stehenden Grundsatz des Förderns gilt aber auch der
Grundsatz des Forderns (§ 2 SGB II), in dessen Folge die Geldleistungen zur Sicherung des existenziellen
Bedarfs bei bestimmten Pflichtverletzungen, u.a. bei der Weigerung eine Arbeit aufzunehmen, gekürzt
werden können (§§ 31 ff. SGB II). Da das SGB XII vom Ansatz her nicht auf erwerbsfähige Hilfebedürftige
ausgerichtet ist, fehlen dort sowohl Anspruchsnormen für Leistungen zur Eingliederung auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt als auch Sanktionsnormen bei einer unzureichenden Mitwirkung des Hilfebedürftigen bei der
Arbeitssuche oder Arbeitsaufnahme. Eine Umsetzung der aktuellen Rechtsprechung des BSG würde nun
dazu führen, dass die Hilfebedürftigen, deren Aufenthaltsrecht sich ausdrücklich nur aus dem Zweck der
Arbeitssuche ergibt, einem Leistungssystem zugeordnet werden, das ihnen bei dieser Arbeitssuche nicht
behilflich sein kann und bei unzureichenden Eigenbemühungen des Hilfebedürftigen keinerlei
Sanktionsmöglichkeiten vorhält.
38 Diesen offensichtlichen und schwerwiegenden Systembruch nimmt das BSG in Kauf, um einem
Vollzugsdefizit des Ausländerrechts entgegenzuwirken (Leopold in Schlegel/Voelzke, in juris PK-SGB II, 4.
Aufl., 2015, § 7 Rn. 99.3) und um verfassungsrechtlichen Vorgaben zu genügen (Coseriu in Schlegel/Voelzke,
in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 23 Rn. 63.4). Beide Argumente überzeugen jedoch hinsichtlich der
vorliegend im Streit stehenden Hilfen zum laufenden Lebensunterhalt nicht.
39 Der Ansatz des BSG, jeder nicht ausgewiesene Ausländer müsse bei einem verfestigten Aufenthalt, den das
BSG bereits nach sechs Monaten annimmt, in irgendeiner Weise vom Aufenthaltsland alimentiert werden,
verkennt den Charakter der unionsrechtlichen Arbeitnehmerfreizügigkeit. Diese Freizügigkeit ist, wie § 5
FreizügG/EU entnommen werden kann, weitgehend entformalisiert. Überprüfungen und die Ausstellung von
Bescheinigungen sind nicht zwingend vorgegeben. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die
Freizügigkeitsberechtigung für Arbeitnehmer und Arbeitsuchende (§ 2 Abs. 2 Nr. 1, 1a FreizügG/EU) von
Umständen abhängt, die sich, losgelöst von speziellen Problemen beim Nachweis bzw. der Widerlegung einer
erfolgversprechenden Arbeitsuche, häufig tatsächlich von einem Tag auf den anderen ändern können (z.B.
wenn sich nach langer Arbeitssuche plötzlich eine konkrete Perspektive auf eine Einstellung ergibt). Zu
bedenken ist auch, dass die Ausweisung von Arbeitnehmern und Arbeitssuchenden bei Verlust des
entsprechenden Aufenthaltsrechts ein im Regelfall „stumpfes Schwert“ wäre, da das Recht auf eine
Wiedereinreise gemäß § 6 FreizügG/EU nur bei zusätzlicher Erfüllung sehr weniger Ausnahmetatbestände
verloren gehen würde. Anders ausgedrückt: Ausweisungen dürften sich in den allermeisten Fällen als völlig
sinnlos erweisen. Damit liegt aber für die Kammer auf der Hand, dass sich dieses weitgehend
entformalisierte und faktisch nahezu schrankenlose Freizügigkeitsrecht von Arbeitnehmern und
Arbeitssuchenden nur durchführen und aufrechterhalten lässt, wenn zur Vermeidung unerwünschter und
nicht beabsichtigter Missbrauchs- und Mitnahmeeffekte die Voraussetzungen für den Bezug von
Sozialleistungen bei Wahrnehmung dieses Freizügigkeitsrechts enger geknüpft werden als das
Freizügigkeitsrecht selbst. Genau diese Möglichkeit eröffnet Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG den
Aufnahmemitgliedstaaten für Personen, die sich zur Arbeitssuche in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten und
deswegen nicht ausgewiesen werden dürfen (Art. 14 Abs. 4 b Richtlinie 2004/38/EG, § 7 Abs. 2 Nr. 1a
FreizügG/EU). Der deutsche Gesetzgeber hat von dieser Möglichkeit in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II Gebrauch
gemacht und Personen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, vom
Leistungsbezug nach dem SGB II ausgenommen. Der EuGH hat, wie bereits mehrmals erwähnt, in der
Rechtssache Alimanovic diese Norm für europarechtskonform erachtet und ausdrücklich bestätigt, dass der
Aufnahmemitgliedstaat einem Unionsbürger, dem ein Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitssuche
zusteht, „jegliche“ (!) Sozialhilfeleistung verweigern darf (Urteil vom 15.09.2015, a.a.O. Rn. 58). Die
Europäische Union ist insoweit eine Union der freizügigen Arbeitnehmer und Arbeitssuchenden jedoch keine
Sozialunion. Ein Vollzugsdefizit des Ausländerrechts stellt vor diesem Hintergrund kein tragfähiges
Argument dar, um bei einem nicht ausgewiesenen (und im Übrigen regelmäßig überhaupt nicht
ausweisbaren) arbeitsuchenden Unionsbürger von einer zwingenden Alimentationspflicht des
Aufnahmestaates auszugehen.
40 Daran anknüpfend hält die Kammer entgegen der Auffassung des BSG (Urteil vom 03.12.2015, B 4 AS 44/15
R Rn. 57) die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Asylbewerberleistungsgesetz
(AsylbLG) vom 18.07.2012 (1 BvL 1/09 u.a.) auf die Leistungsausschlüsse nach § 7 Abs.1 S. 2 Nr. 2 SGB II
i.V.m. § 21 S. 1 SGB XII von Unionsbürgern, die sich allein zum Zweck der Arbeitssuche in Deutschland
aufhalten, nicht für übertragbar. Zwar hat das BVerfG hinsichtlich des Grundrechts auf Gewährleistung
eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 Grundgesetz (GG) ausschließlich an den
tatsächlichen Aufenthalt in Deutschland angeknüpft und eine pauschale Differenzierung nach dem
Aufenthaltsstatus ausdrücklich abgelehnt. Die Entscheidung betraf jedoch keine Unionsbürger. Anders als bei
Drittstaatsangehörigen besteht bei Unionsbürgern aber die Besonderheit, dass die Mitgliedstaaten der
Europäischen Union zur Verwirklichung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die eine der entscheidenden
Grundfreiheiten innerhalb der Europäischen Union darstellt, was den Aufenthalt, die Ein- und die Ausreise
von Unionsbürgern in einen Aufnahmemitgliedstaat betrifft, auf klassische Hoheitsrechte verzichtet haben.
Wie eben schon dargestellt ist die Schaffung und Aufrechterhaltung dieser Freizügigkeit wegen der
andererseits nicht bestehenden Sozialunion spiegelbildlich mit einer Begrenzung der Alimentationspflicht des
Aufnahmemitgliedstaats für (ausschließlich) arbeitsuchende Hilfebedürftige verknüpft worden. Dass nach der
hier vertretenen Auffassung bei dieser Personengruppe hinsichtlich des Leistungsausschluss doch an den
Aufenthaltsstatus als Ausschlusskriterium für den Bezug von Sozialhilfeleistungen nach deutschem Recht
angeknüpft wird, hält die Kammer in Kenntnis der Entscheidung des BVerfG zum AsylbLG für unbedenklich.
Die Sachverhalte sind nicht gleich gelagert. Die nach der hier vertretenen Auffassung faktisch in den Raum
gestellte Umzugsobliegenheit des hilfebedürftigen Arbeitsuchenden in seinen Herkunftsmitgliedstaat ist in
der Abwägung mit den erheblichen Vorteilen, die Arbeitnehmer und Arbeitssuchenden durch die
Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union erlangen, verfassungsrechtlich hinnehmbar, insbesondere
mit Art. 1 GG vereinbar (noch mehr dazu s.u.).
41 Zu bedenken ist hier auch der begrenzte Wirkungsbereich des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr.
2 SGB II. Betroffen sind von diesem Leistungsausschluss lediglich Unionsbürger, deren Recht zum Aufenthalt
sich nur aus dem Zwecke der Arbeitssuche ergibt. Schon eine Beschäftigung von unter einem Jahr reicht
aber aus, um trotz Arbeitslosigkeit und Arbeitsuche ein nachgehendes Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer für
ein halbes Jahr zu haben und den Leistungsausschluss in dieser Zeit entfallen zu lassen. Bereits nach einer
Beschäftigung von einem Jahr bleibt das Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer unbefristet erhalten und der
Leistungsausschluss verliert seine Bedeutung. Etwas anderes gilt nur für Personen, die nicht unfreiwillig
arbeitslos geworden sind, sofern sie noch kein Daueraufenthaltsrecht (ständiger rechtmäßiger Aufenthalt im
Bundesgebiet seit fünf Jahren, § 4a FreizügG/EU) haben. Die Anforderungen, um trotz Arbeitslosigkeit nicht
unter den Leistungsausschluss zu fallen, sind also sehr gering. Der Leistungsausschluss erweist sich damit
auch unter dem verfassungsrechtlichen Blickwinkel als verhältnismäßig.
42 Nicht nachvollziehbar hält die Kammer in diesem Zusammenhang die Auffassung des BSG, nach einer reinen
Aufenthaltsdauer (nicht einmal Beschäftigungsdauer) von lediglich sechs Monaten von einem „verfestigten
Aufenthalt“ mit einer deswegen zeitlich unbegrenzt bestehenden Leistungsverpflichtung
(Ermessensreduzierung auf Null) des SGB XII-Leistungsträgers auszugehen (Urteil vom 03.12.2015, B 4 AS
44/15 R Rn. 55ff.; Urteil vom 20.01.2016 Rn. 45). Da sich die Höhe der laufenden Geldleistungen nach dem
SGB II dem SGB XII weitgehend deckt, wird der Leistungsausschluss nach dem SGB II damit letztlich
sinnentleert. Die in der Richtlinie 2004/38/EG und im FreizügG/EU enthaltenen Abstufungen der
Freizügigkeitsberechtigung und damit einhergehend der Berechtigung zum Sozialleistungsbezug (s.o.)
werden vom BSG völlig ignoriert. Die Gefahr von Mitnahme- und Missbrauchseffekten würde sich bei der
Umsetzung der Urteile des BSG förmlich aufdrängen (kritisch hinsichtlich dieser Sechs-Monats-Frist sogar:
Coseriu in Schlegel/Voelzke, in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 63 Rn. 63.6).
43 Schließlich sind die Unionsbürger, die von dem Leistungsausschluss betroffen werden, nicht schutzlos
gestellt. Es darf bei Unionsbürgern typisierend davon ausgegangen werden, dass sie rechtlich nicht
gehindert werden können, in ihr Herkunftsland zurückzukehren und dass dieses Herkunftsland Leistungen
zur Sicherung des Existenzminimums bietet. Demgegenüber kann aus der Menschenwürde nicht abgeleitet
werden, dass ein Gemeinwesen ausnahmslos jeden Aufenthalt durch laufende Leistungen zu alimentieren
hat (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015, L 1 AS 2338/15 ER-B Rn. 39 und LSG
Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22.02.2016, a.a.O. Rn. 66). Dem arbeitsuchenden Unionsbürger, der
sich aufgrund einer eigenen Entscheidung in Deutschland aufhält und seinen Lebensunterhalt nicht aus
eigenen Kräften bestreiten kann, steht es frei, in sein Herkunftsland zurückzukehren. Eine Obliegenheit zu
einem Umzug mit einer Sanktion bei Nichterfüllung ist dem SGB II im Übrigen nicht fremd. Sie findet sich
hinsichtlich der Verpflichtung zur Aufnahme einer zumutbaren Arbeit in den §§ 10, 31, 31a SGB II. So macht
die Erforderlichkeit eines Umzugs eine Arbeitsaufnahme nicht generell unzumutbar (Hackethal in
Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 10 Rn. 35). Der hier im Streit stehende Leistungsausschluss
für arbeitsuchende Unionsbürger ist ohne Zweifel deutlich weitgehender als die Sanktionen des § 31a SGB II
und auch die in Betracht kommenden Umzüge in das Herkunftsland können, müssen jedoch gar nicht, sich
aufwändiger gestalten als Umzüge zur Arbeitsaufnahme innerhalb Deutschlands. Verfassungsrechtliche
Bedenken ergeben sich daraus jedoch nicht. Auch hier ist zu bedenken, dass der Aufenthalt des vom
Leistungsausschluss betroffenen Unionsbürger erst dadurch ermöglicht wurde, dass für Arbeitnehmer - nicht
für Sozialleistungsempfänger - eine weitgehend „entgrenzte“ Europäische Union geschaffen wurde (s.o.).
Das Überschreiten einer Landesgrenze macht einen Umzug vor diesem Hintergrund zu nichts Besonderem.
44 Nicht nachvollziehbar ist für die Kammer der Hinweis des BSG, dass es für den vom Leistungsausschluss
betroffenen Personenkreis auf die Möglichkeit einer Heimkehr des Ausländers in seiner Herkunftsland im
Zusammenhang mit der Prüfung verfassungsrechtlicher Vorgaben nicht ankomme (Urteil vom 20.01.2016,
a.a.O. Rn. 42). Insoweit ist auf die Entscheidung des selben Senats vom 09.03.2016 zur Frage, ob die
gesetzliche Ermächtigung zur Aufrechnung in Höhe von 30% des Regelbedarfs nach § 43 SGB II gegen das
Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verstößt, hinzuweisen (B 14
AS 20/15 R, bislang nur als Pressemitteilung vom 09.03.2016, Terminbericht Nr. 7/16 Nr. 1). Völlig
überzeugend und zu Recht wies der 14. Senat des BSG darauf hin, dass die Eigenverantwortung als Person
Teil der dem Art. 1 Abs. 1 GG zu Grunde liegenden Vorstellung vom Menschen ist. Zu dieser
Eigenverantwortung gehört für die Kammer aber auch, dass derjenige, der von seinem Freizügigkeitsrecht
als Arbeitnehmer Gebrauch machte, aber dabei nach den oben dargestellten Maßstäben - gar keine
Beschäftigungsaufnahme, nur kurze Beschäftigungsdauer, freiwillige Arbeitslosigkeit bei fehlendem
Daueraufenthaltsrecht - keinen nachhaltigen Erfolg hatte, wieder in sein Heimatland zurückkehrt - oder,
falls gewünscht und möglich, seinen laufenden Lebensunterhalt auf andere Weise, insbesondere durch
Unterstützung von Familienangehörigen, bestreitet. Für den Verweis auf die Rückkehr in das Heimatland
bedarf es entgegen der Auffassung des BSG im Urteil vom 20.01.2016 (s. eben) jedenfalls bei Unionsbürgern
zur Prüfung einer Alimentationsverpflichtung des Aufnahmemitgliedsstaats demgegenüber keiner
Rechtsgrundlage.
45 Der Leistungsausschluss nach § 21 S. 1 SGB XII ist nicht wegen des in Art. 1 EFA statuierten
Gleichbehandlungsgebotes unanwendbar. Zwar ist der Kläger vom persönlichen Schutzbereich des EFA im
Hinblick auf das SGB XII erfasst, weil er aus einem Vertragsstaat stammt. Hinsichtlich der Anwendung des
SGB XII liegt, anders als zum SGB II, kein Vorbehalt der Bundesregierung vor. Allerdings ist zu beachten,
dass Art. 1 EFA lediglich einen Anspruch begründet, als ausländischer Staatsangehöriger in gleicher Weise
und unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen des Aufenthaltsstaates Leistungen zu
erhalten. Die hier maßgebliche Regelung, die zu einer anderen Behandlung des Klägers gegenüber
deutschen Staatsangehörigen führt, findet sich aber nicht im SGB XII, sondern im SGB II. § 21 S. 1 SGB XII
regelt unabhängig von der Staatsangehörigkeit für alle Personen, die nach dem Zweiten Buch als
Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, einen Leistungsausschluss für
das SGB XII. Dieser Leistungsausschluss (nach dem SGB XII) kann somit nicht mit dem Argument des
Anspruchs auf eine Inländergleichbehandlung nach Art. 1 EFA außer Acht gelassen werden. Auf den
Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II, der in der Tat zu einer unterschiedlichen Behandlung
des Klägers im Verhältnis zu deutschen Staatsangehörigen führt, findet das EFA, wie bereits dargestellt,
aufgrund des von der Bundesregierung erklärten Vorbehalts keine Anwendung mehr.
46 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.