Urteil des SozG Reutlingen vom 05.06.2007

SozG Reutlingen: satzung, nachlassverfahren, unfallversicherung, höhere gewalt, unternehmen, unternehmer, bedingung, handbuch, unfallverhütung, original

Sozialgericht Reutlingen
Urteil vom 05.06.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Reutlingen S 2 U 1791/06
Landessozialgericht Baden-Württemberg L 1 U 3732/07
Der Bescheid der Beklagten vom 20. April 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. April 2006 wird
insoweit aufgehoben, als er einen Beitragszuschlag in Höhe von 7.731,60 EUR enthält. Die Beklagte trägt die Kosten
des Verfahrens.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Beitragszuschlages im Rahmen der Beitragsfestsetzung für
das Jahr 2004.
Das klagende Unternehmen ist Mitglied bei der beklagten Berufsgenossenschaft. Mit Bescheid vom 20. April 2005
setzte die Beklagte den Beitrag der Klägerin für das Jahr 2004 in Höhe von 60.689,09 EUR fest. In dem Betrag ist ein
Beitragszuschlag in Höhe von 7.731,60 EUR enthalten.
Der Beitragszuschlag beruht in tatsächlicher Hinsicht darauf, dass der Beklagten im Jahr 2004 für Arbeitsunfälle, die
sich bei der Klägerin ereignet hatten, Aufwendungen in Höhe von insgesamt 14.788,47 EUR entstanden waren, davon
allein Aufwendungen in Höhe von 14.384,20 EUR für einen Unfall des Mitarbeiters ... am 25. September 2003. Der
Mitarbeiter ... war an diesem Tag mit Abbrucharbeiten an einem Bauvorhaben in ... beschäftigt. An diesem
Bauvorhaben wurde eine WC-Sanierung durchgeführt. Dazu musste die Betondecke über der WC-Grube abgebrochen
werden. Für diese Arbeiten wurde ein Bagger eingesetzt, um die vorhandene Betonplatte mit der Greifeinrichtung zu
entfernen. Als die Betondecke mit dem Bagger von ihrem Auflager gelöst war und ein Verbundeisen zur Außenwand,
welches der vorherigen Verankerung diente, nicht komplett abriss, sprang der Mitarbeiter ... ohne jegliche
Arbeitsanweisung auf die schon in Schieflage am Greifer hängende Betondecke. Auf diesem beweglichen Betonteil
verlor der Mitarbeiter ... das Gleichgewicht und stürzte in die 1,5 m tiefer gelegene WC-Grube.
Am 27. Mai 2005 legte die Klägerin Widerspruch gegen den Beitragsbescheid ein, soweit es den Beitragszuschlag in
Höhe von 7.731,60 EUR betrifft. Sie trug vor, dass der Mitarbeiter ... erst seit dem 1. September 2003 in der Firma
beschäftigt gewesen sei und daher noch nicht gewusst habe, dass er sich nach ihren Vorgaben richten müsse.
Weiterhin sei ihr bekannt, dass der Mitarbeiter ... bereits vor seinem Unfall mit Rückenschmerzen behaftet gewesen
sei.
Mit Bescheid vom 7. April 2006 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung wurde
ausgeführt, dass die Berufsgenossenschaften gesetzlich verpflichtet seien, ein Beitragsausgleichsverfahren
durchzuführen und unter Berücksichtigung der anzuzeigenden Versicherungsfälle Zuschläge aufzuerlegen oder
Nachlässe zu bewilligen. Ein verbotswidriges Handeln schließe einen Arbeitsunfall nicht aus. Der Mitarbeiter ... habe
am 25. September 2003 eine Arbeit verrichtet, die der betrieblichen Sphäre zuzurechnen sei. Er habe keine eigene
oder betriebsfremde Zwecke verfolgt. Ihr sei bekannt, dass er schon in der Vergangenheit Wirbelsäulenbeschwerden
gehabt habe. In dem Beitragsausgleichsverfahren seien aber nur Aufwendungen berücksichtigt worden, die sich auf
objektive Unfallfolgen bezögen. Es seien keine unfallunabhängigen Leistungen erbracht worden.
Mit der am 15. Mai 2006 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie behauptet, dass der Sprung
des Mitarbeiters ..., der den Unfall verursacht hatte, eine absichtliche Eigenschädigung darstelle. Sie trägt weiter vor,
dass der Mitarbeiter ... lediglich drei Tage arbeitsunfähig gewesen sei. Es sei nicht nachvollziehbar, wodurch die
hohen Aufwendungen verursacht worden seien. Sie bestreitet weiter, dass die Aufwendungen erst im Jahr 2004
angefallen seien. Des weiteren trägt sie vor, dass sie jahrzehntelang namhafte Versicherungsbeiträge ohne
nennenswertes Schadensaufkommen geleistet habe. Schließlich ist sie der Ansicht, dass die Regelung des § 28 der
Satzung der Beklagten rechtswidrig sei, weil sie lediglich Zuschläge, nicht aber Nachlässe vorsehe. Wenn § 162
Sozialgesetzbuch (SGB) VII Beitragsanreize für die gewissenhafte Umsetzung der Unfallverhütungsvorschriften
schaffen solle, so sei dies allein mit Zuschlägen nicht möglich. Eine Prämie für besonders gewissenhaft handelnde
Betriebe werde dadurch nicht erreicht. Die Satzung in der Fassung des Jahres 2004 verfehle den gesetzgeberischen
Zweck und sei deshalb nichtig.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Beitragsbescheid der Beklagten vom 20. April 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. April 2006
insoweit aufzuheben, als er einen Beitragszuschlag in Höhe von 7.731,60 EUR enthält.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte bestreitet, dass der Mitarbeiter ... sich seine Verletzung absichtlich herbeigeführt habe. Es gebe keine
Anhaltspunkte dafür. Ein lediglich verbotswidriges Handeln oder Verhalten schließe die Annahme eines
Arbeitsunfalles nicht aus, wenn die Handlung der versicherten Tätigkeit gedient hat. Selbst die bewusste Übertretung
eines Verbots des Unternehmers sei der vorsätzlichen Herbeiführung eines Unfalles nicht gleichzustellen. Eine
vorsätzliche Herbeiführung des Arbeitsunfalles könne nur dann vorliegen, wenn der Verletzte sich seine Verletzungen
planmäßig und willentlich herbeigeführt habe. Die Beklagte trägt weiter vor, dass für das Beitragsausgleichsverfahren
entscheidend sei, wann die Rechnungen bei ihr eingehen, denn erst dann könnten sie bezahlt werden. Sie habe
keinen Einfluss darauf, wann ihr die Rechnungen vorgelegt werden. Sie ist der Ansicht, dass die Satzung in der
Fassung des Jahres 2004 nicht nichtig sei.
Die Kammer hat den Rechtsstreit am 24. April 2007 mündlich verhandelt. Die Beteiligten schlossen dabei einen für die
Beklagte widerruflichen Vergleich. Für den Fall des fristgerechten Widerrufs durch die Beklagte haben sich die
Beteiligten mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Zu den
Einzelheiten wird auf das Protokoll der Sitzung Bezug genommen.
Die Beklagte hat den Vergleich am 9. Mai 2007 fristgerecht widerrufen. Die Klägerin hat am 16. Mai 2007 die
Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung für den Fall beantragt, dass es für die Entscheidung des Gerichts auf
ein von Dr ... am 7. April 2005 erstelltes Zusammenhangsgutachtens bezüglich der Verletzungsfolgen des
Mitarbeiters ... ankommt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Akte des Gerichts sowie auf die
beigezogenen Akten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
1. Das Gericht konnte gemäß § 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die
Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben. Dem erklärten Einverständnis der Klägerin steht deren Antrag vom
16. Mai 2007 auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung schon deshalb nicht entgegen, da dieser Antrag unter
der Bedingung stand, dass es für die Entscheidung des Gerichts auf ein Zusammenhangsgutachten von Dr ... vom 7.
April 2005 ankommt, und diese Bedingung nicht eingetreten ist.
2. Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 20. April 2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 7. April 2006 ist insoweit rechtswidrig und die Rechte der Klägerin verletzend, als darin
ein Beitragszuschlag in Höhe von 7.731,60 EUR festgesetzt wurde. Die Beklagte war zur Erhebung dieses
Beitragszuschlages nicht berechtigt, da der insoweit allein als Ermächtigungsgrundlage in Betracht kommende § 28
ihrer im Jahr 2004 geltenden Satzung (dazu unter a), die hinsichtlich der Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht der
gerichtlichen Kontrolle unterliegt (dazu unter b) nicht von der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage gedeckt (dazu
unter c) und daher unwirksam war (dazu unter d).
a) Als Ermächtigungsgrundlage für die streitgegenständliche Auferlegung des Beitragszuschlages kommt nur § 28 der
Satzung der Beklagten des Jahres 2004 in Betracht. § 162 Abs. 1 Satz 1 SGB VII allein erfüllt dieses Funktion schon
deshalb nicht, weil er den für die Durchführung eines Nachlass- bzw. Zuschlagsverfahren notwendigen präzisen
Vorgaben entbehrt. Konsequent verweist § 162 Abs. 1 Satz 2 SGB VII deshalb auf die nähere Regelung durch die
berufsgenossenschaftlichen Satzungen und macht damit zugleich deutlich, dass die Erhebung von Zuschlägen und
die Gewährung von Nachlässen nicht allein auf die gesetzliche Regelung gestützt werden kann.
Nach § 28 der im Jahr 2004 geltenden Satzung der Beklagten wird ein Beitragszuschlag auferlegt, wenn die
Eigenbelastung des einzelnen Beitragspflichtigen die Durchschnittsbelastung aller Beitragspflichtigen überschreitet
(Abs. 2). Der Beitragszuschlag ist gemäß Abs. 3 auf 30 Prozent des Beitrags des Beitragspflichtigen der Höhe nach
begrenzt (Höchstzuschlag). Er wird in dieser Höhe auferlegt, wenn die Eigenbelastung des Unternehmens den
Eigenbelastungshöchstwert erreicht oder überschreitet. Ansonsten berechnet sich der Beitragszuschlag linear
entsprechend der jeweiligen Abweichung sowohl der Eigenbelastung als auch des Eigenbelastungshöchstwerts von
der Durchschnittsbelastung (Abs. 3). Als Eigenbelastung gilt der Teil der Aufwendungen, der auf je 1 EUR Beitrag des
Beitragspflichtigen für das Umlagejahr entfällt, als Eigenbelastungshöchstwert gilt das Dreifache der
Durchschnittsbelastung (Abs. 4). Als Durchschnittsbelastung gilt der Teil der Aufwendungen, der auf je 1 EUR
Umlagesoll aller Beitragspflichtigen des Umlagejahres entfällt. Diese wird nur einmal im Rahmen der Umlage
festgestellt (Abs. 5). Aufwendungen sind die im Umlagejahr gezahlten Sach- und Geldleistungen für
Versicherungsfälle, die erstmals im Umlagejahr und im davorliegenden Jahr gemeldet wurden (Abs. 6). Außer Ansatz
bleiben die Aufwendungen für Versicherungsfälle im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB VII (Wegeunfälle),
Versicherungsfälle auf Betriebswegen außerhalb der Betriebsstätte, Berufskrankheiten, Versicherungsfälle durch
höhere Gewalt und Versicherungsfälle aufgrund alleinigen Verschuldens nicht zum Unternehmen gehörender Personen
(Abs. 7). Der Beitragszuschlag wird nur erhoben, wenn der dadurch bestehende Gesamtbetrag den Mindestbeitrag
übersteigt. Er wird zusammen mit dem Umlagebeitrag erhoben und fällig (Abs. 8). Die Bewilligung von Nachlässen
sah die im Jahr 2004 geltende Satzung nicht vor.
b) Die Satzung der Beklagten ist autonomes Recht (vgl. BSG, Urteil vom 16.11.2005, Az.: B 2 U 15/04 R; BSG, Urteil
vom 18.10.1984, Az.: 2 RU 31/83). Sie bildet eine der von der Selbstverwaltung beschlossenen Rechtsgrundlagen,
aufgrund der die Verwaltung der Berufsgenossenschaften die ihr als Mitglieder angehörenden Unternehmer u.a. zur
Beitragsleistung heranzieht. Sie ist damit objektives Recht, unterliegt aber der Nachprüfung durch die Gerichte
insbesondere darauf, ob sie Normen höherrangigen Rechts verletzt (BSG, Urteil vom 16.11.2005, Az.: B 2 U 15/04 R;
BSG, Urteil vom 18.10.1984, Az.: 2 RU 31/83).
c) § 162 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ordnet an, dass die gewerblichen Berufsgenossenschaften unter Berücksichtigung
der anzuzeigenden Versicherungsfälle Zuschläge aufzuerlegen oder Nachlässe zu bewilligen haben (zur Vereinbarkeit
mit Verfassungsrecht bzw. europäischem Recht siehe BSG, Urteil vom 16.11.2005, Az.: B 2 U 15/04 R; BSG, Urteil
vom 18.10.1984, Az.: 2 RU 31/83: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 28.02.2003, Az.: L 1 U 3237/01). Zweck der
Regelung ist es, mit Mitteln des Beitragsrechtes positive Anreize für eine verstärkte Unfallverhütung durch den
Unternehmer in seinen Betrieben zu bewirken (BSG, Urteil vom 06.05.2003, Az.: B 2 U 7/02 R). § 162 Abs. 1 Satz 1
SGB VII knüpft dabei an § 725 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) in der Fassung des Unfallversicherungs-
Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl. I S. 241 ff.), das am 1. Juli 1963 in Kraft trat, an (siehe zur
geschichtlichen Entwicklung des Beitragsausgleichsverfahrens Burchardt, in: Brackmann [Begr.], Handbuch der
Sozialversicherung, Band 3/2, Gesetzliche Unfallversicherung, § 162 [2004] Rdnr. 11 ff.; Schulz, Grundfragen des
berufsgenossenschaftlichen Beitragsausgleichsverfahrens, 1987, S. 13 ff.).
(1) Dabei muss die Satzung so ausgestaltet sein, dass jedem Unternehmen entweder Zuschläge auferlegt oder
Nachlässe bewilligt werden. Eine Satzungsregelung, aufgrund der generell nur Zuschläge auferlegt oder nur Nachlässe
bewilligt werden können, wird dem gesetzlichen Auftrag, der zugleich Ermächtigung ist, nicht gerecht.
(2) Allerdings haben verschiedene Sozialgerichte erster und zweiter Instanz die Auffassung vertreten, dass auch ein
reines Nachlassverfahren oder ein reines Zuschlagsverfahren zulässig sei (so LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss
von 09.01.2006, Az.: L 3 U 58/03; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 22.08.2005, Az.: L 2 U 39/04; LSG Nordrhein-
Westfalen, Urteil vom 12.09.2003, Az.: L 4 (2) U 65/01; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 28.02.2003, Az.: L 1 U
3237/01; SG Stuttgart, Urteil vom 26.04.2006, Az.: S 1 U 4141/04). Dies geschah aber regelmäßig ohne eigene
Begründung und lediglich unter Bezugnahme auf die Auffassung des Schrifttums (insbesondere Mehrtens, in:
Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 162 [2007] Rdnr. 5; Ricke, in: Kasseler Kommentar zum
Sozialversicherungsrecht, § 162 [2003] Rdnr. 8; ferner Freischmidt, in: Hauck/Noftz [Begr.], SGB VII, § 162 [2004]
Rdnr. 3, 8; von Hoyningen-Huene/Compensis, SGb 1992, 145 [147]; Leube, in: Kater/Leube, Gesetzliche
Unfallversicherung SGB VII, 1997, § 162 Rdnr. 3; Platz, in: Lauterbach [Begr.], Unfallversicherung –
Sozialgesetzbuch VII, § 162 [2000] Rdnr. 16; Schulz, BG 1983, 432), die ihrerseits aber ohne tragfähige Begründung
geblieben ist, da der bloße Hinweis auf die Gestaltungsfreiheit der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung zu kurz
greift.
Das Bundessozialgericht hat die Frage – soweit ersichtlich – bislang jedenfalls nicht ausdrücklich entschieden.
Allerdings findet sich in dessen Rechtsprechung wiederholt der Satz, dass das in der Satzung geregelte Verfahren
"Zuschläge und Nachlässe von wirtschaftlichen Gewicht vorsehen" muss (BSG, Urteil vom 16.11.2005, Az.: B 2 U
15/04 R; BSG, Urteil vom 06.05.2003, Az.: B 2 U 7/02 R; ferner LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.10.2005,
Az.: L 17 U 156/04; Burchardt, in: Brackmann [Begr.], Handbuch der Sozialversicherung, Band 3/2, Gesetzliche
Unfallversicherung, § 162 [2004] Rdnr. 16 – Hervorhebung nicht in den Originalen) und die Feststellung, dass mit §
162 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ein Zuschlags-Nachlass-Verfahren als solches zwingend vorgeschrieben ist (BSG, Urteil
vom 16.11.2005, Az.: B 2 U 15/04 R; BSG, Urteil vom 06.05.2003, Az.: B 2 U 7/02 R; ferner LSG Nordrhein-
Westfalen, Urteil vom 19.10.2005, Az.: L 17 U 156/04; LSG Berlin, Beschluss vom 04.05.2004, Az.: L 2 U 7/03).
(3) Richtig ist, dass die Berufsgenossenschaften bei der näheren Ausgestaltung des gesetzlich vorgeschriebenen
Zuschlags- bzw. Nachlassverfahren einen weiten Gestaltungsspielraum haben (BSG, Urteil vom 06.05.2003, Az.: B 2
U 7/02 R; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 22.08.2005, Az.: L 2 U 39/04; LSG Berlin, Beschluss vom 04.05.2004,
Az.: L 2 U 7/03; SG Stuttgart, Urteil vom 26.04.2006, Az.: S 1 U 4141/04). Ob das beschlossene Verfahren die
zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Regelung ist, ist von den Gerichten nicht zu entscheiden (BSG, Urteil
vom 16.11.2005, Az.: B 2 U 15/04 R; BSG, Urteil vom 06.05.2003, Az.: B 2 U 7/02 R; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil
vom 22.08.2005, Az.: L 2 U 39/04; LSG Berlin, Beschluss vom 04.05.2004, Az.: L 2 U 7/03; SG Stuttgart, Urteil vom
26.04.2006, Az.: S 1 U 4141/04).
Indes beschränkt sich der Gestaltungsspielraum auf das Wie der satzungsrechtlichen Ausgestaltung, nicht aber auf
die vorgelagerte Frage des Obs. Die Frage, ob die Berufsgenossenschaften ein reines Nachlassverfahren, ein reines
Zuschlagsverfahren oder ein kombiniertes Nachschlags- und Zuschlagsverfahren in ihrer Satzung zu verankern
haben, berührt aber nicht erst die Frage der Ausgestaltung, sondern schon die Frage des Obs. Diese Frage hat der
Gesetzgeber nach Auffassung der erkennenden Kammer jedoch dahingehend entschieden, dass die
Berufsgenossenschaften verpflichtet sind, ein kombiniertes Nachschlags- und Zuschlagsverfahren einzurichten. Nur
im Rahmen dieser Vorgabe besteht dann der Gestaltungsspielraum der Berufsgenossenschaften. In diesem Sinne hat
auch das Bundessozialgericht ausgesprochen, dass die Entscheidung, "auf welche Weise Zuschläge bzw. Nachlässe
im Einzelnen berechnet werden", im Rahmen des Gestaltungsspielraums der Berufsgenossenschaften steht (BSG,
Urteil vom 16.11.2005, Az.: B 2 U 15/04 R – Hervorhebung nicht im Original).
(4) Bereits der Wortlaut von § 162 Abs. 1 Satz 1 SGB VII streitet für diese Auslegung (a.A. LSG Berlin-Brandenburg,
Beschluss von 09.01.2006, Az.: L 3 U 58/03), ohne – das ist zu konzedieren – zwingend zu sein. Eine unbefangene
Betrachtung des Normtextes lässt ihm die Anordnung entnehmen, dass die Berufsgenossenschaften beides in
gleicher Weise – kumulativ und nicht eben alternativ – zu tun haben: Zuschläge aufzuerlegen und Nachlässe zu
bewilligen. Dass das Gesetz die Konjunktion "oder" und nicht die Konjunktion "und" verwendet, steht dem nicht
entgegen. Das Wort "oder" bezieht sich nach der zutreffenden Auffassung der Klägerin – worauf im übrigen auch das
Bundessozialgericht bereits hingewiesen hat – auf das einzelne beitragspflichtige Mitgliedsunternehmen, für das eine
kumulative Auferlegung von Zuschlägen und Gewährung von Nachlässen denknotwendig nicht möglich ist (BSG,
Urteil vom 16.11.2005, Az.: B 2 U 15/04 R). Die Klägerin hat in diesem Sinne zu Recht darauf hingewiesen, dass
dann, wenn der Gesetzgeber den Berufsgenossenschaften die Entscheidung überlassen wollte, ein reines
Nachlassverfahren, ein reines Zuschlagsverfahren oder ein kombiniertes Verfahren vorzusehen, eine nicht auf das
einzelne beitragspflichtige Mitgliedsunternehmen zielende Formulierung, sondern eine auf die Satzungsgebung
zielende Formulierung, nach der die Satzung Regelungen zur Auferlegung von Zuschlägen oder Regelungen zur
Bewilligung von Nachlässen zu enthalten habe, nahegelegen hätte. Anders gewendet: Eine gesetzliche Regelung, die
dazu verpflichtet, Nachlässe oder Zuschläge zu gewähren, hat einen ganz anderen normativen Gehalt als eine
gesetzliche Regelung, die dazu verpflichtet, in der Satzung Zuschläge oder Nachlässe festzulegen (insofern den
Wortlaut nicht präzise erfassend Benz, BB 1995, 1901 [1901 f.]).
Nur mit diesem Verständnis, dass sich § 162 Abs. 1 Satz 1 SGB VII nur auf das einzelne beitragspflichtige
Mitgliedsunternehmen bezieht, dem entweder Zuschläge auferlegt oder Nachlässe gewährt werden müssen, lässt sich
auch § 162 Abs. 1 Satz 3 SGB VII widerspruchsfrei in die Gesamtregelung einordnen. Diese Norm ordnet nämlich an,
nach welchem Kriterien sich "die Höhe der Zuschläge und Nachlässe" (Hervorhebung hinzugefügt) richtet.
(5) Entscheidend sind indes genetisch-systematische und teleologische Überlegungen. In genetisch-systematischer
Hinsicht ist die Vorgängerregelung von § 162 Abs. 1 SGB VII von Bedeutung. § 725 Abs. 2 Satz 1 RVO ordnete an,
dass den einzelnen Unternehmen von der Berufsgenossenschaft unter Berücksichtigung der Zahl und Schwere der
vorgekommenen Arbeitsunfälle Zuschläge aufzuerlegen oder Nachlässe zu bewilligen sind, wobei Wegeunfälle außer
Ansatz bleiben. § 725 Abs. 2 Satz 2 RVO erlaubte, dass anstelle von Nachlässen oder zusätzlich zu den Nachlässen
nach der Wirksamkeit der Unfallverhütung gestaffelte Prämien gewährt werden können.
Damit wird zum einen deutlich, dass der Gesetzgeber auf jeden Fall ein "belohnendes" Element – Nachlass oder
Prämie – im Rahmen der Beitragserhebung verankert sehen wollte, er aber den Weg eines unkonditionierten
Verzichtes auf ein Nachlassverfahren versperren wollte. Der Verzicht auf ein Nachlassverfahren wird vielmehr unter
die Bedingung gestellt, dass Prämien gewährt werden.
Zum anderen wäre diese Regelung, soweit durch sie die Gewährung auch an Stelle von Nachlässen legitimiert wird,
unter der Prämisse, dass die herrschende Meinung zutreffend ist, überflüssig, weil einerseits die
Berufsgenossenschaft gar nicht verpflichtet wäre, Nachlässe zu gewähren, solange sie nur Zuschläge auferlegt, sie
aber andererseits von dieser Verpflichtung durch § 725 Abs. 2 Satz 2 RVO nicht befreit ist. Anders gewendet: Die
Entbehrlichkeit einer Nachlassgewährung hätte in diesem Fall nicht geregelt werden müssen, da sie – sofern ein
Zuschlagsverfahren vorgesehen ist – ohnehin zur Disposition der Berufsgenossenschaft gestanden hätte. Dann aber
hätte § 725 Abs. 2 Satz 2 RVO aus dem Blickwinkel der herrschenden Meinung für den Fall der Möglichkeit der
Prämiengewährung nicht nur die Entbehrlichkeit der Nachlassgewährung, sondern auch – und erst Recht – die
Entbehrlichkeit der Auferlegung von Zuschlägen anordnen müssen.
Zwar enthält das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung heute mit § 162 Abs. 2 SGB VII bezüglich der Möglichkeit
der Prämiengewährung eine andere Regelung als früher § 725 Abs. 2 Satz 2 RVO; Prämien können nur noch
zusätzlich und nicht mehr anstatt von Nachlässen gewährt werden. Die hier entscheidende Regelung des § 162 Abs.
1 Satz 1 SGB VII ist aber im wesentlichen (vgl. auch BSG, Urteil vom 16.11.2005, Az.: B 2 U 15/04 R; BSG, Urteil
vom 06.05.2003, Az.: B 2 U 7/02 R) mit derjenigen des § 725 Abs. 2 Satz 1 RVO identisch. Anhaltspunkte, dass der
Gesetzgeber der durch ihn veranlassten Regelung mit der Aufnahme in das SGB VII einen anderen Gehalt geben
wollte, als dies die aufgezeigten systematischen Erwägungen für § 725 Abs. 2 Satz 1 RVO nahe legen, bestehen
nicht.
Auch ein weiterer Blick auf die Entstehungsgeschichte stützt die Auffassung der erkennenden Kammer. So wird im
Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik zum Entwurf des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes darauf
hingewiesen, dass es schon bislang möglich war, "Zuschläge aufzuerlegen und Nachlässe zu bewilligen"
(Hervorhebung nicht im Original), dass hiervor aber zu wenig Gebrauch gemacht worden sei. Deshalb solle dieses
Verfahren künftig zur Pflicht werden (Bundestags-Drucksache IV/938 [neu], S. 24). Den entstehungsgeschichtlichen
Dokumenten lässt sich somit ein Argument für die Ansicht, dass auch ein reines Zuschlags- oder ein reines
Nachlassverfahren dem gesetzlichen Auftrag genüge, jedenfalls nicht entnehmen (a.A. von Hoyningen-
Huene/Compensis, SGb 1992, 145 [146]).
In teleologische Hinsicht ist von Bedeutung, dass die Möglichkeit, ein reines Zuschlagsverfahren durchzuführen, dem
Zweck, die Unternehmer zu Bemühungen um Unfallsicherheit anzuhalten (vgl. den Ausschussbericht zu § 722 – dem
späterem § 725 RVO – auf Bundestags-Drucksache IV/938 [neu], S. 23 f.; BSG, Urteil vom 16.11.2005, Az.: B 2 U
15/04 R; BSG, Urteil vom 06.05.2003, Az.: B 2 U 7/02 R) und "durch finanzielle Be- und Entlastung auf eine
verstärkte Unfallverhütung durch die Unternehmer hinzuwirken" (so zu § 725 Abs. 2 RVO BSG, Urteil vom
18.10.1984, Az.: 2 RU 31/83, m.w.N. – Hervorhebung nicht im Original) nicht gerecht würde. Entsprechend hat auch
die Mehrheit der Berufsgenossenschaften eine kombiniertes Zuschlags-Nachlass-Verfahren gewählt (so für das Jahr
1999 Mehrtens, in: Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 162 [2007] Rdnr. 5).
Zwar profitieren auch in einem reinen Zuschlagssystem diejenigen Unternehmen, die einen solchen Zuschlag nicht
entrichten müssen. Nach den Zuschlags- bzw. Nachlassverfahren findet nämlich nur eine Umverteilung der
Beitragsbelastungen ohne Veränderung des Gesamtbeitragsvolumens statt (siehe Freischmidt, in: Hauck/Noftz
[Begr.], SGB VII, § 162 [2004] Rdnr. 7; Ricke, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 162 [2003]
Rdnr. 13). Die (positiven) Auswirkungen für diejenigen Unternehmen, die besonders erfolgreich auf eine Einhaltung der
Unfallverhütungsvorschriften achten, sind gleichwohl abhängig davon, ob ein reines Zuschlags-, ein reines Nachlass-
oder ein kombiniertes Zuschlags-Nachlass-Verfahren Anwendung findet, unterschiedlich (siehe dazu etwa Platz, in:
Schulin [Hrsg.], Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 2, 1996, § 58 Rdnr. 77 ff.; Schulz, Grundfragen des
berufsgenossenschaftlichen Beitragsausgleichsverfahrens, 1987, S. 53 ff.). Wenn der Zweck des § 162 Abs. 1 Satz 1
SGB VI aus zwei Elementen besteht, nämlich aus Belohnung und Motivation (so zu § 725 Abs. 2 RVO von
Hoyningen-Huene/Compensis, SGb 1992, 145 [149]), dann streitet dies gegen die Vermutung, dass der Gesetzgeber
auch zur Durchführung eines reinen Zuschlags- oder eines reinen Nachlassverfahren ermächtigen wollte.
d) Der Verstoß von Satzungsbestimmungen gegen die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage führt zu Unwirksamkeit
der entsprechenden Satzungsbestimmung (vgl. BVerwG, Urteil vom 03.07.2002, Az.: 6 CN 8/01; VGH Baden-
Württemberg, Urteil vom 18.03.2004, Az.: 1 S 2261/02; Benz, BB 1995, 1901 [1903]). Da § 28 der Satzung der
Beklagten im Jahr 2004 lediglich ein Zuschlags-, aber kein Nachlassverfahren vorsah, ist die Satzung insoweit
teilnichtig. Die Kammer verkennt nicht, dass dies (zunächst) eine Fassung der Satzung zur Folge hat, die dem
gesetzlichen Auftrag auch nicht entspricht. Die Nichtigkeitsfolge ist aber die einzige mögliche Sanktion, um die
Beklagte zu einer Satzungsgestaltung anzuhalten, die den gesetzlichen Vorgaben entspricht.
Die Wirksamkeit der Satzung im übrigen bleibt davon unberührt. Grundsätzlich ist zwar davon auszugehen, dass die
Nichtigkeit eines Teils einer Satzung die Nichtigkeit der gesamten Satzung zur Folge hat, weil es sich insoweit um ein
komplexes Regelungswerk handelt, für das alle Teile von Bedeutung sind (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom
19.10.2006, Az.: L 10 U 1323/04). Dies gilt jedoch nicht, wenn – wie hier - die restlichen Bestimmungen auch ohne
den nichtigen Teil sinnvoll bleiben und mit Sicherheit anzunehmen ist, dass sie auch ohne diesen erlassen worden
wären (BVerwG, Urteil vom 27.01.1978, Az.: VII C 44.76, m.w.N.; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.10.2006,
Az.: L 10 U 1323/04).
e) Auf die weiteren von der Klägerin aufgeworfenen Fragen, namentlich, ob der Unfall ihres Mitarbeiters ... von diesem
mit der Absicht der Eigenschädigung herbeigeführt wurde – was eher fernliegend ist – und ob die von der Beklagten in
diesem Zusammenhang übernommenen Kosten tatsächlich auf dieses Unfallereignis zurückzuführen sind, kommt es
demnach nicht an.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.