Urteil des SozG Regensburg vom 11.02.2004

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Sozialgericht Regensburg
Urteil vom 11.02.2004 (rechtskräftig)
Sozialgericht Regensburg S 2 KR 85/03
Der Bescheid der Beklagten vom 23.10.2002 in Gestalt des Wider- spruchsbescheides vom 21.02.2003 wird
aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger mit einem HdO-Sprachprozessor zu versorgen und ihn von den
für die Miete dieses Gerätes bislang angefallenen Kosten freizustellen. Die Beklagte trägt die notwendigen
außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand:
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Beklagte verpflichtet ist, den Kläger im Austausch des von ihm benutzten
Chochlear-Implantat Taschenprozessors mit einem Hinter-dem-Ohr Sprachprozessor (HdO-Sprachprozessor) zu
versorgen bzw. ihn von den bislang angefallenen Mietkosten freizustellen.
Der 1992 geborene Kläger ist nahezu taub, er wurde im März 1999 in der Universitätsklinik Regensburg mit einem
Chochlear-Implantat linksseitig versorgt. Entsprechend dem technischen Stand im Jahr 1999 wurde der Kläger bei den
externen Teilen des Gesamtsystems Chochlear-Implantat mit einem damals üblichen Taschenprozessor ausgestattet,
dieser wird dabei um den Hals hängend oder in einem Rucksack getragen. Dieser Taschenprozessor enthält die
Akkumulatoren und die Rechnereinheiten, die für die Umwandlung der über das Mikrophon eingefangenen Schallwellen
in elektromagnetische Impulse sorgen. Das Mikrophon, das mit Hilfe einer besonderen Halterung, einem Ohrhaken,
am Ohr getragen wird, ist mit einem Kabel am Taschenprozessor angeschlossen. Vom Taschenprozessor aus
wiederum wird eine Spule versorgt, die direkt an der Stelle des im Kopf verankerten Implantats mit Hilfe eines
Magneten fixiert wird und die das Implantat mit Hilfe von modulierten Induktionsströmen mit Energie versorgt. Im
Laufe des technischen Fortschrittes haben alle Hersteller von Chochlear-Implantaten in den letzten Jahren HdO-
Sprachprozessoren entwickelt, Kabelverbindungen zu einem nicht am Kopf sondern am Körper zu tragenden
Taschenprozessors sind nicht mehr erforderlich, gleichzeitig wurde die Leistungsstärke der Prozessoren ebenfalls
deutlich verbessert.
Die HNO-Klinik der Universität Regensburg verordnete (formlos) am 23.09.2002 dem Kläger einen Chochlear-Implantat
Sprachprozessor ESPrit 3G, zur Begründung wurde ein Schreiben des Bayer. Chochlear Implant Centrums (BCIC)
vom 18.09.2002 vorgelegt, wonach nach einer mehrwöchigen Erprobung der Kläger den streitigen Prozessor subjektiv
als besser einschätze, insbesondere falle ihm das Hören im Störlärm leichter, dieses Ergebnis habe durch einen
Sprachtest im Störlärm bestätigt werden können, aus diesen Gründen und weiteren technischen Verbesserungen des
Prozessors sei eine Versorgung des Klägers dringend zu empfehlen. Vorgelegt wurde ein Kostenvoranschlag über
7.820,- EURO.
Der von der Beklagten eingeschaltete Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) kam in einem Gutachten
nach Aktenlage vom 11.10.2002 zu dem Ergebnis, es gäbe prinzipiell keinen Anspruch auf Austausch, solange das
alte Hilfsmittel ausreichend funktioniere, bei Sprachprozessoren, die 6 bis 8 Jahre alt seien, werde eine vorzeitige
Neuversorgung empfohlen, da bei Kindern die Regelgebrauchszeit diese Zeit nicht übersteige. Im Falle des Klägers
liege die Implantation 3 Jahre zurück, es be- stehe also keine Pflicht zum Austausch, es könne jedoch im Rahmen
einer Kulanzentscheidung gegenüber der Herstellerfirma eine Kostenbeteiligung in Höhe von 50 % des Neupreises
angeregt werden, weiter wurde darauf hingewiesen, dass der vorhandene Taschenprozessor in einer Art Ringtausch
weiter verwendet werden könne.
Mit Bescheid vom 23.10.2002 lehnte die Beklagte die Versorgung des Klägers mit dem HdO-Gerät ab mit der
Begründung, er sei bereits mit einem Hilfsmittel versorgt, angesichts des für die Krankenversicherung bestehenden
Wirtschaftlichkeitsgebot sei ein Austausch des funktionsfähigen Hilfsmittels nicht möglich.
Hiergegen legte die Mutter des Klägers am 04.11.2002 Widerspruch ein mit der Begründung, das HdO-Gerät habe der
Kläger vom BCIC zur Erprobung erhalten, dabei sei zu beobachten gewesen, dass der Kläger wesentlich besser und
schneller Sprache verstehe und Geräusche wahrnehme, die er bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht registriert
habe, diese Verbesserung habe auch die Lehrerin des Klägers festgestellt. Der Kläger habe nach der
Erprobungsphase seinen alten Taschenprozessor abgelehnt, weil er mit diesem schlechter hören könne. Er besuche
z.Zt. die 4. Klasse einer integrativen Grundschule, es stehe die Entscheidung an, ob er auf eine weiterführende
Schule bzw. auf eine normale Regelschule wechseln könne, hierfür sei er auf bestmöglichstes Hören angewiesen.
Zudem habe der Kläger wahrscheinlich aufgrund des Gewichts und der Größe des Taschenprozessors und der
Verkabelung an seinem Körper unbewußt eine Fehlhaltung eingenommen, die zu Verspannungen führe. Zudem
brachte die Mutter des Klägers vor, dass die Beklagte in vergleichbaren Fällen den HdO-Prozessor jeweils ohne
weiteres genehmigt habe. Vorgelegt wurde ein Attest der HNO-Klinik der Universität Regensburg vom 04.12.2002 in
dem ausgeführt wird, beim Kläger konnte mit dem HdO-Gerät sogar unter verschärften Testbedingungen im Störlärm
eine große Verbesserung des Sprachverstehens von 60 % auf 80 % festgestellt werden, dieser Zugewinn sei
besonders hoch einzuschätzen, da Chochlear-Implantat-Patienten durch eine ungenügende Frequenzauflösung
besonders unter Störgeräuschen litten, beim Kläger sei erst durch das neue Gerät ein hinreichend gutes
Sprachverstehen im Störgeräusch ermöglicht worden.
Ohne weitere Sachaufklärung wies die Beklagte den Rechtsbehelf mit Widerspruchsbescheid vom 21.02.2003 zurück
mit der Begründung, der Kläger sei mit einem funktionsfähigen Taschenprozessor versorgt, so dass seine
Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse sichergestellt sei, mit dem vorhandenen
Taschenprozessor werde dem Kläger die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglicht und seine Entwicklung
gefördert, es sei jedoch zu berücksichtigen, dass im Rahmen der Krankenversicherung ein Anspruch auf
ausreichende Versorgung nach dem jeweiligen Stand der Medizin und Technik bestehe, soweit Grundbedürfnisse
betroffen seien, nicht jedoch auf eine optimale Ausstattung zum umfassenden Ausgleich aller Lebenslagen. Zudem
sei der MDK in seinem Gutachten vom 11.10.2002 zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Kostenübernahme zu
Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht empfohlen werden könne, prinzipiell gebe es keinen Anspruch auf
Austausch, solange das alte Hilfsmittel ausreichend funktioniere.
Hiergegen erhob der Bevollmächtigte am 05.03.2003 Klage mit der Begründung, der bislang vom Kläger verwendete
Taschenprozessor sei zwar noch funktionsfähig, er bringe aber eine deutlich geringere Leistung als ein HdO-
Sprachprozessor, mit dem streitigen Gerät sei beim Kläger eine erhebliche Verbesserung der Hörleistung festgestellt
worden, insbesondere beim Einsatz bei starkem Störlärm, hierbei sei zu berücksichtigen, dass gerade in der Schule
nicht immer dafür Sorge getragen werden könne, dass in den Klassenräumen absolute Ruhe herrsche. Diese
überzeugenden Verbesserungen hätten die gesetzlichen Krankenkassen dazu veranlasst, in den meisten
Verordnungsfällen nach der Vorlage der Testergebnisse in den Austausch der Taschenprozessoren gegen die HdO-
Sprachprozessoren einzuwilligen, was auch in den meisten Fällen Praxis der Beklagten selbst sei. Im Übrigen habe
die Auffassung der Beklagten, ein Taschenprozessor könne erst nach Ablauf von etwa 8 Jahren ausgetauscht
werden, keine ge- setzliche Grundlage.
Vorgelegt wurde vom Bevollmächtigten ein Schreiben des BCIC vom 23.10.2003 in dem wegen der festgestellten
wesentlichen Verbesserung der Hörfähigkeit des Klägers mit dem HdO-Prozessor der Beklagten dringend empfohlen
wurde, dieses Gerät zu genehmigen.
In der mündlichen Verhandlung vom 11.02.2004 beantragte der Bevollmächtigte sinngemäß, den Bescheid der
Beklagten vom 23.10.2002 in Form des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2003 aufzuheben und den Kläger mit
einem HdO-Sprachprozessor zu versorgen sowie ihn von den für die Miete dieses Gerätes bislang angefallenen
Kosten freizustellen sowie der Beklagten die notwendigen außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen.
Die Vertreterin der Beklagten beantragte, die Klage abzuweisen.
Beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurden die Akten der Beklagten, auf deren
Inhalt sowie auf den Inhalt der gegenständlichen Streitakte wird hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist auch begründet, die Beklagte hat es zu Unrecht abgelehnt, den Kläger mit dem streitigen
HdO-Sprachprozessor zu versorgen.
Unstreitig ist zwischen den Beteiligten die Notwendigkeit der Versorgung des Klägers mit einem Sprachprozessor,
strittig ist lediglich die Frage, ob der Kläger den Austausch des noch voll funktionsfähigen Taschenprozessors
verlangen kann gegen ein technisch verbessertes Gerät mit Gebrauchsvorteilen gegenüber dem bisherigen Hilfsmittel.
Ein solcher Anspruch auf Austausch gegen ein besseres Gerät besteht dann nicht, wenn die Verbesserung sich nur in
einzelnen Lebensbereichen auswirkt, die nicht zu den allgemeinen Grundbedürfnissen gehören (vgl. BSG SozR 3-
2500 § 33 Nr. 34 SGB V). Das Wirtschaftlichkeitsgebot schließt darüber hinaus eine Leistungspflicht der
Krankenversicherung für solche Neuerungen aus, die nicht die Funktionalität, sondern in erster Linie Bequemlichkeit
und Komfort bei der Nutzung des Hilfsmittels betreffen. Speziellen Wünschen des Behinderten trägt insoweit nunmehr
die neu geschaffene Regelung in § 31 Abs. 3 SGB IX Rechnung.
Die Gebrauchsvorteile des HdO-Prozessors - die zwischen den Beteiligten unstrittige Besserung des Hörvermögens
insbesondere bei Störlärm und der Wegfall der Notwendigkeit des Tragens eines Taschenprozessors und des Kabels
zwischen Prozessor und Ohr - sind weder auf spezielle Lebensbereiche begrenzt, noch erschöpfen sie sich in der
Bequemlichkeit oder im Komfort der Nutzung. Der Einsatz des Hörvermögens ist jederzeit und überall erforderlich und
damit ein Grundbedürfnis, das der streitige Prozessor nach dem gegenwärtigen Stand der Technik soweit wie möglich
deckt. Der Vorteil des HdO-Prozessors besteht nicht nur in einer größeren Bequemlichkeit beim Tragen gegenüber
dem Taschenprozessor, auf die ohne Nachteil auf die Hörfähigkeit verzichtet werden könnte, vielmehr hat sich das
Hörvermögen des Klägers, insbesondere bei Störgeräuschen, deutlich verbessert (vgl. Attest des Bayer. Chochlear
Implant Centrums vom 18.09.2002), diese Besserung wirkt sich also insbesondere beim schulischen Unterricht aus.
Nach § 9 Abs. 1 Satz 3 SGB IX ist bei Entscheidungen über die Leistungen und bei der Ausführung der Leistungen
den besonderen Bedürfnissen behinderter Kinder Rechnung zu tragen. Zu den besonderen Bedürfnissen des 1992
geborenen Klägers gehört aber die Möglichkeit möglichst "barrierefrei" - also mit technisch bestmöglich zu
erreichendem Gerät - am Schulunterricht teilnehmen zu können.
Die Beklagte kann sich zur Abwendung ihrer Leistungspflicht auch nicht darauf berufen, dass durch den "vorzeitigen"
Austausch der Sprachprozessoren erhebliche Mehrkosten entstünden. Zum einen ist der Kammer keine Regelung
ersichtlich, aus der sich ergäbe, dass eine Neuversorgung mit einem Sprachprozessor nach 6 bis 8 Jahren nach der
Erstversorgung durchzuführen sei. In den Hilfsmittelrichtlinien ist der Fall der Sprachprozessoren - anders als bei
Hörgeräten - nicht geregelt. Zum anderen kann sich die Beklagte auch nicht darauf berufen, dieser vorzeitige
Austausch führe zu erheblichen Mehrkosten. Zwar hat das BSG (Urteil vom 06.06.2002, B 3 KR 68/01 R mit weiteren
Nachweisen) in mehreren Urteilen ausgeführt, zwischen den Kosten und dem Gebrauchsvorteil eines Hilfsmittels
müsse eine "begründbare Relation" bestehen, doch bedeutet dies nach der Rechtsprechung des BSG keine
zusätzliche Kosten-Nutzung-Erwägung, die immer zusätzlich zum Erfordernis der umfassenden Einsetzbarkeit des
Hilfsmittels bzw. (bei einer Innovation) des Gebrauchsvorteils bei einem Grundbedürfnis anzustellen wäre. Eine solche
Erwägung kann allenfalls dann geboten sein, wenn der zusätzliche Gebrauchsvorteil des Hilfsmittels im Alltagsleben
eher gering, die dafür anfallenden Kosten im Vergleich zu einem bisher als ausreichend angesehenen
Versorgungstandard als unverhältnismäßig hoch einzuschätzen sind. Der Schutz der Solidargemeinschaft vor
Überforderung kann dann gerade im Interesse der vordringlich auf Hilfe angewiesenen behinderten Menschen
Einschränkungen erfordern. Ein solcher Sachverhalt liegt aber hier nicht vor, die mit dem HdO-Prozessor verbundenen
Funktionsvorteile wirken sich nicht nur am Rande des Alltagslebens, sondern in einem der besonderen Bedürfnisse
des Klägers, nämlich beim Schulbesuch aus.
Die Beklagte war daher verpflichtet, den Kläger mit dem streitigen HdO-Prozessor zu versorgen, sie hat dies
ursprünglich zu Unrecht abgelehnt, so dass der Kläger, der sich das Gerät selbst verschafft hat, von den dadurch
entstandenen (Miet-) Kosten freizustellen und weiterhin mit dem HdO-Prozessor von der Beklagten zu versorgen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.