Urteil des SozG Potsdam vom 04.08.2005

SozG Potsdam: geistige behinderung, eltern, unterricht, zeugenaussage, schulpflicht, gewissheit, kauf, anleitung, kreis, hauptsache

Sozialgericht Potsdam
Beschluss vom 04.08.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Potsdam S 20 SO 73/05 ER
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller im Schuljahr 2005/2006
vom 08.08.2005 an, längstens jedoch bis zu einer rechtskräftigen Hauptsacheentscheidung, Einzelfallhilfe zu seiner
Beschulung durch die Grundschule T ... (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII) im zeitlichen Umfang von 20 Stunden je
Schulwoche zu erbringen. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten dieses
Verfahrens zu erstatten.
Gründe:
I.
Gegenstand des Rechtsschutzbegehrens in diesem Verfahren ist eine Dienstleistung zum Besuch der Grundschule T
... im demnächst beginnenden Schuljahr (Schuljahr 2005/2006).
Der Antragsteller, geboren am ...1996, leidet unter einem Down-Syndrom, das als geistige Behinderung anerkannt ist.
Dem Wunsch seiner Eltern entsprechend besuchte er von Beginn der allgemeinen Schulpflicht an die Grundschule T
... (Schuljahre 2003/2004 und 2004/2005) und beabsichtigt, den Besuch dieser Schule im neuen Schuljahr
fortzusetzen. Das Staatliche Schulamt W ..., das das hier beigeladene Land vertritt, verfügte gemäß §§ 50 Abs. 2, 29
Abs. 2 BbgSchulG die Aufnahme des Antragstellers in diese Grundschule mit Wirkung vom Unterrichtsbeginn des
Schuljahres 2003/2004 an (Bescheid vom 19.08.2003); diese Verfügung besteht fort.
In den beiden vorangehenden Schuljahren unterstützte die Beigeladene den Schulbesuch des Antragstellers, indem
sie
- in der ersten Hälfte des Schuljahres 2003/2004 eine sonderpädagogische Fachkraft (§ 68 Abs. 1 Satz 2 BbgSchulG)
im zeitlichen Umfang von fünf Stunden je Woche
- und in der zweiten Hälfte dieses Schuljahres diesen Einsatz auf sieben Stunden je Woche erhöhte und daneben eine
Helferin (ausgebildete Erzieherin) zur Betreuerin des Antragsteller im zeitlichen Umfang von zehn Stunden je Woche
einsetzte
- und im Schuljahr 2004/2005 eine sonderpädagogische Fachkraft (§ 68 Abs. 1 Satz 2 BgbSchulG) im Umfang von
sechs Stunden je Woche einsetzte.
Die Eltern sorgten für eine Ergänzung, indem sie die Unterstützung durch eine Einzelfallhelferin an den Schultagen
veranlassten, nachdem ihnen die Antragsgegnerin die Gewährung von Einzelfallhilfe nach BSHG für die Beschulung
des Antragstellers abgelehnt hatte; die Erstattung der Kosten für die Einzelfallhilfe ist Gegenstand der hier noch
anhängigen Klagen S 20 SO 47/05 und S 20 SO 48/05; den Antrag, die Antragsgegnerin zur Gewährung von
Einzelfallhilfe im Schuljahr 2005/2006 im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, nahm der Antragsteller
gegen Ende dieses Schuljahres zurück (S 20 SO 30/05 ER).
Zur Unterstützung des Besuchs der Grundschule T ... im kommenden Schuljahr beantragte der Antragsteller
(Schreiben seiner Eltern vom 30.05.2005) Einzelfallhilfe nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII im zeitlichen Umfang
von 17 Stunden je Schulwoche; der Bedarf an Einzelfallhilfe ergebe sich dem Grunde und dem zeitlichen Umfang
nach aus dem Schreiben der Klassenlehrerin (Frau D. R., hier Zeugin) vom 02.05.2005, aus der Niederschrift des
Fallgesprächs vom 24.05.2005 auf der Grundlage des aktuellen Entwicklungsberichts der sonderpädagogischen
Fachkraft (Frau M. S.); die schriftlichen Unterlagen sind den Verfahrensbeteiligten und dem Gericht bekannt (Blatt 28
bis 30 der Akten S 20 SO 30/05 ER, Blatt 3 bis 6 der Akten S 20 SO 73/05 ER). Der Antragsgegner hat über den
Antrag vom 30.05.2005 im Einvernehmen mit dem Antragsteller noch nicht entschieden.
Mit Schreiben vom 06.07.2005 stellt der Antragsteller den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur
Einzelfallhilfe im kommenden Schuljahr. Zur Begründung nimmt er auf die bereits zitierten Unterlagen Bezug und führt
weiter aus, dass er und seine Eltern nicht in der Lage seien, in Bezug auf die Kosten der Einzelfallhilfe im neuen
Schuljahr in Vorleistung zu gehen.
Der Antragsteller beantragt,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, vom Beginn des Schuljahres
2005/2006 (Montag, den 08.08.2005) an dem Antragsteller Einzelfallhilfe im Umfang von 20 Wochenstunden zu
gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung führt er insbesondere an, aus den Schilderungen der Schulleiterin Frau P. und der Zeugenaussage
der Klassenlehrerin im Erörterungstermin am 02.08.2005 ergäbe sich kein den im zeitlichen Umfange nach
hinreichend klar feststellbarer Betreuungsbedarf, der durch Einzelfallhilfe nach SGB XII zu decken wäre, zumal die
Sonderpädagogin C. N. in ihrer schriftlichen Unterlage für die Sitzung des Förderausschusses vom 19.10.2004 (Blatt
399 bis 397 der beigezogenen Verwaltungsakten des Antragsgegners) ausführt, dass keine Einzelfallhilfe über die
Förderstunden hinaus erforderlich sei; überdies käme auch für diese weitere Hilfe nach dem Brandenburgischen
Schulgesetz allein die Zuständigkeit des beigeladenen Landes in Betracht.
Die Beigeladene stellt ausdrücklich keinen Antrag; in der Sache nimmt sie Bezug auf ihren Schriftsatz vom
01.08.2005 in den Hauptsacheverfahren S 20 SO 48/05 und S 20 SO 47/05 (Blatt 82 – 88 der letztzitierten Akten).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogenen Gerichtsakten des
Sozialgerichts Potsdam S 20 SO 30/05 ER, S 20 SO 47/05, S 20 SO 48/05, die Gerichtsakten dieses Verfahrens –
insbesondere auf die Niederschrift des Erörterungstermin vom 02.08.2005 und die Niederschrift über die
Zeugenaussage vom 02.08.2005 – und die beigezogenen Verwaltungsakten des Antragsgegners und der
Beigeladenen Bezug genommen, die Gegenstand der Erörterung am 02.08.2005 waren.
II.
Der Anordnungsantrag ist nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG zulässig, denn er zielt auf die Regelung eines vorläufigen
Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis. Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass in Bezug auf den
Gegenstand dieses Verfahrens noch keine definitive Verwaltungsentscheidung vorliegt.
Der Anordnungsantrag ist begründet. Nach § 86 b Abs. 2 SGG kann das Sozialgericht eine einstweilige Anordnung
treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Die einstweilige Anordnung setzt zunächst einen Anordnungsanspruch voraus. Dieser Anordnungsanspruch ist zu
bejahen, wenn der Rechtsanspruch nach den in Betracht zu ziehenden Anspruchsnormen – hier § 54 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 SGB XII oder § 3 BbgSchulG – aufgrund der hier nur möglichen summarischen Prüfung des zugrunde zu
legenden Sachverhalts begründet erscheint. Ob der Rechtsanspruch nach der einen oder nach der anderen Vorschrift
letztlich begründet ist, kann hier dahinstehen, weil der in dem Erörterungstermin gestellte Anordnungsantrag allein auf
die Verpflichtung der Antragsgegnerin und nicht hilfsweise auch auf die Verpflichtung der Beigeladenen gerichtet ist.
Nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 53 Abs. 1 SGB XII hat ein Behinderter Anspruch auf Einzelfallhilfe im Rahmen
der Eingliederungshilfe zur angemessenen Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht.
Wegen seiner Behinderung gehört der Antragsteller – unstreitig – zum Kreis der Leistungsberechtigten.
Der Anspruch setzt das Bestehen eines Betreuungsbedarfs in einem hinreichend sicher feststellbaren Umfang
während des kommenden Schuljahres voraus. Nach den verwaltungsseitigen Ermittlungen, nach dem Ergebnis der
gerichtlichen Beweisaufnahme (Aussage der Zeugin R.) liegt auch unter Würdigung der von der Schulleiterin (Frau P.)
im Erörterungstermin gegebenen Schilderungen der Sachverhalt eines (zusätzlichen) Betreuungsbedarfs im zeitlichen
Umfang von 20 Stunden je Schulwoche im Schuljahr 2005/2006 vor, wobei die Gewissheit, dass dieser Sachverhalt
vorliegt, über das im Anordnungsverfahren erforderliche Maß hinausgeht. Die Gegenstände der bedarfsgerechten
zusätzlichen Betreuung und ihr zeitlicher Umfang lassen sich anhand des sonderpädagogischen
Entwicklungsberichts, der Schilderung der Schulleiterin und der Klassenleiterin nachvollziehen, eine gewisse
Unsicherheit in Kauf nehmend, die sich daraus ergibt, dass es sich um eine Bedarfsprognose handelt, die sich nicht
anmaßt, Fortschritte oder Rückschritte in der Entwicklung des Antragstellers im kommenden Schuljahr sicher voraus
zu sagen: Zusätzliche Aufsicht und Anleitung im Unterricht, insbesondere während der in der 3. Klasse häufigen
Übungsphasen, in den normalen Unterrichtspausen, in den wegen der Behinderung notwendigen weiteren Ruhephasen
in der Unterrichtszeit außerhalb des Klassenraumes, Begleitung beim Verlassen und Wiederaufsuchen des
Klassenraumes während der Unterrichtsstunden (Notdurft, auch Hilfe zur Reinlichkeit). Der Unterricht, der in der 3.
Klassenstufe 25 Wochenstunden betragen wird, begrenzt zeitlich den denkbaren zusätzlichen Hilfebedarf. Von den 25
Stunden werden 5 Stunden durch eine Sonderpädagogin abgedeckt.
Die schriftliche Unterlage, die die Sonderpädagogin N. - sie ist nicht mit der laufenden sonderpädagogischen
Betreuung des Antragstellers betraut – zur Vorbereitung der Sitzung des Förderausschusses am 19.10.2004 gefertigt
hat, begründet keine Zweifel am Bestehen des zusätzlichen Hilfebedarfs und seines Umfangs im kommenden
Schuljahr, weil die dort mitgeteilte Auffassung zeitlich und inhaltlich überholt ist von der Bildungsempfehlung des
Förderausschusses vom 25.10.2004 sowie von den auch noch späteren Erkenntnissen der Schulleiterin und der
Klassenlehrerin.
Mit der Feststellung des Rechtsanspruchs auf 20 Stunden Eingliederungshilfe pro Schulwoche soll nicht aufgefordert
werden, diesen Rechtsanspruch entgegen pädagogischen und sonstigen praktischen Notwendigkeiten voll
auszuschöpfen. Im übrigen darf keineswegs davon ausgegangen werden, dass die Eltern den Hilfeanspruch entgegen
dem Rat der Klassenlehrerin oder der Sonderpädagogin zum Nachteil des Antragstellers etwa im Sinne einer
"Überbehütung" missbrauchen, allein um den Rechtsanspruch voll zu realisieren.
Ein Anordnungsgrund liegt vor. Mit der hier getroffenen einstweiligen Anordnung sollen wesentliche Nachteile für den
Antragsteller abgewendet werden, die dadurch entstünden, dass bei Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache
nicht gleich vom Beginn des Schuljahres an eine zusätzliche Betreuung möglich ist oder von den Eltern vorfinanziert
werden müsste, was ihnen nach der bisherigen Last in den beiden vorangegangenen Schuljahren nicht zuzumuten ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.