Urteil des SozG Potsdam vom 15.09.2010

SozG Potsdam: auflage, versorgung, residenzpflicht, genehmigung, vertragsarzt, vertretung, vertreter, berufsausübung, wohnung, verfügung

Sozialgericht Potsdam
Urteil vom 15.09.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Potsdam S 1 KA 90/08
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer Auflage zur Durchsetzung der so genannten vertragsärztlichen
Präsenz- und Residenzpflicht.
Die Klägerin ist eine Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) nach § 95 Abs. 1 Satz 2 Fünftes
Buch/Sozialgesetzbuch (SGB V). Am 29.05.2007 beantragte sie die Anstellung von zwei Fachärzten für
Strahlentherapie zum 01.07.2007 für 40 Stunden pro Woche. Dazu legte sie den jeweils vorgesehenen Arbeitsvertrag
vor. Die Wohnsitze der anzustellenden Ärzte lagen in G. (230 km Entfernung) und in B. (69 km Entfernung).
Mit zwei Beschlüssen vom 26.09.2007 genehmigte der Zulassungsausschuss die Anstellung der beiden
Strahlentherapeuten ab dem 01.10.2007 für 40 Stunden die Woche. Beide Beschlüsse enthielten jeweils die Auflage,
dass der betroffene Arzt seinen Wohnsitz in die Nähe der Praxis zu verlegen habe.
Gegen diese Beschlüsse legte die Klägerin Widerspruch ein. Sie wandte sich ausschließlich gegen die Auflage zur
Residenzpflicht der anzustellenden Ärzte. Diese Auflagen seien nicht rechtmäßig, da durch die besondere
Versorgungsform der Klägerin, nämlich der eines MVZ, die Versorgung insgesamt gesichert sei. § 24 Abs. 2 der
Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV) sei daher hier nicht anwendbar.
Mit Beschluss vom 15.04.2008 wies der Beklagte beide Widersprüche zurück. Die Residenzpflicht nach § 24 Abs. 2
Ärzte-ZV gelte gem. § 1 Abs. 3 Nr. 2 Ärzte-ZV auch für das MVZ, so dass die Auflage zu Recht in beiden Fällen
ergangen sei. Die von der Rechtsprechung vorgesehene Toleranzgrenze von 30 min. sei in beiden Fällen
überschritten. Der von der Klägerin angeführte eine Vertreter vor Ort sei für eine zweifache Vertretung nicht
ausreichend. Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer am 13.06.2008 vor dem Sozialgericht Potsdam erhobenen
Klage. § 24 Abs. 2 Ärzte-ZV sei hier nicht anzuwenden, da dieser von einer Zulassung als Einzelpraxis ausgehe. Dies
sei im Falle der Klägerin nicht zutreffend, da bei ihr mehrere Ärzte in einem Anstellungsverhältnis arbeiten, selbst
keine zugelassenen Vertragsärzte sind. § 24 Ärzte-ZV gelte lediglich für das MVZ insgesamt, jedoch nicht für den
Einzelnen angestellten Arzt, da dieser selbst kein zugelassener niedergelassener Vertragsarzt sei. Beide Ärzte seien
vor der Anstellung bereits ermächtigt gewesen; eine Residenzpflicht sei nicht notwendig gewesen. Die Versorgung im
Sinne des Urteils des Bundessozialgerichts vom 05.11.2003 (B 6 KA 2/03 R) sei durch die besondere
Organisationsform eines MVZ gesichert. Diese Besonderheit habe der Beklagte bei den Auflagen nicht berücksichtigt.
Darüber hinaus sei hier die Fachgruppe der angestellten Ärzte, Fachärzte für Strahlentherapie, zu berücksichtigen.
Diese seien in keiner Weise mit einem niedergelassenen Facharzt für Allgemeinmedizin vergleichbar. Hinsichtlich der
Behandlung von Notfällen verweist die Klägerin auf ein Schreiben der Kassenärztlichen Vereinigung, dass sie für den
Bereitschaftsdienst nicht mehr einzelne Ärzte benennen müsse, sondern alternativ nur das jeweilige MVZ.
Die Klägerin beantragt,
den Beschluss des Beklagten vom 15.04.2008 insoweit abzuändern, dass die Anstellung der Beigeladenen zu 2) und
3) ohne Auflagen genehmigt wird.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist er auf den Inhalt seines Beschlusses. Er weise insbesondere darauf hin, dass es nicht um
die Organisierung des Bereitschaftsdienstes gehe, sondern um die Erfüllung der vertragsärztlichen Pflichten der
angestellten Ärzte während ihrer Arbeitszeit.
Das Gericht hat die Kassenärztliche Vereinigung Brandenburg sowie die beiden betroffenen Ärzte beigeladen. Die
Beigeladene zu 1) schließt sich dem Vorbringen des Beklagten an. Es seien sicherlich Besonderheiten eines MVZ
gegeben, jedoch seien auch die Fahrzeiten der angestellten Ärzte zu berücksichtigen. Der von der Klägerin benannte
dritte Arzt als Vertretung sei hier nicht ausreichend. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes
und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der
Beklagten Bezug genommen. Diese haben dem Gericht vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer hat in der Besetzung mit zwei ehrenamtlichen Richtern aus den Kreisen der Vertragsärzte und
Krankenkassen entschieden, da es sich um eine Angelegenheit nach § 12 Abs. 3 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
handelt.
Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet. Der Beschluss des Beklagten ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin
nicht in ihren Rechten.
Durch das GKV-Modernisierungsgesetz vom 14.November 2003 (BGBl. I S. 2190) ist seit dem 01.01.2004 entgegen
der vorherigen Rechtslage der in einen MVZ angestellte Arzt als tragendes Versorgungselement eingeführt und die
ärztliche Berufsausübung in der Rechtsform vom Kapital- und Handelsgesellschaften zugelassen (Wigge in:
Schnapp/Wigge, Vertragsarztrecht, 2. Aufl., § 6 Rdnr. 62). Die MVZ nehmen an der vertragsärztlichen Versorgung
nicht als eine ermächtigte Institution sondern vielmehr auf Grund einer Zulassung teil. Grundsätzlich sind nach § 72
Abs. 1 Satz 2 SGB V alle auf Vertragsärzte bezogenen Vorschriften des 4. Kapitels des SGB V auch für die MVZ
anzuwenden, soweit nichts Abweichendes bestimmt ist. Dies gilt auch hinsichtlich der Regelungen der Ärzte-ZV.
Nach § 1 Abs. 3 Nr. 2 Ärzte-ZV gelten die Regelungen der Ärzte-ZV für medizinische Versorgungszentren
entsprechend. Dies hat zur Folge, dass auch § 24 Abs. 2 Ärzte-ZV gilt. Danach hat der Vertragsarzt seine Wohnung
so zu wählen, dass er für die ärztliche Versorgung der Versicherten an seinem Vertragsarztsitz zur Verfügung steht.
Damit war der Beklagte grundsätzlich berechtigt, auch im Falle der Organisationsform der Klägerin die Genehmigung
zur Anstellung der beiden Fachärzte für Strahlentherapie mit der Auflage zu verbinden, den Wohnsitz in die Nähe der
Praxis zu verlegen. Wie das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 05.11.2003 (SozR 4-5520 § 24 Nr. 1)
ausgeführt hat, darf die sog. Residenzpflicht im Sinne von § 24 Abs. 2 Satz 2 Ärzte-ZV von den Zulassungsgremien
mit einer der Zulassung beigefügten Auflage im Sinne des § 32 Abs. 2 Nr. 4 Zehntes Buch/Sozialgesetzbuch (SGB X)
durchgesetzt werden, weil insoweit die gesetzlichen Voraussetzungen des Verwaltungsaktes (hier der Zulassung)
erfüllt werden sollen (§ 32 Abs.1 SGB X). Die Erteilung einer Genehmigung zur Anstellung von Ärzten in Verbindung
mit einer Auflage ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig.
Der Klägerin geht es nur um die Frage, ob inhaltlich die Auflage und somit die Residenzpflicht nach § 24 Abs. 2 Ärzte-
ZV auf ihre besondere Organisationsstruktur anzuwenden sei. Dieser Auffassung steht grundsätzlich die Regelung in
§ 1 Abs. 3 Nr. 2 Ärzte ZV entgegen, da hier eindeutig geregelt wird, dass die Ärzte-ZV auch für die medizinischen
Versorgungszentren entsprechend gelte. Die Kammer geht davon aus, dass dem Gesetzgeber mit der Neuregelung
zum 01.01.2004 und der Einführung der medizinischen Versorgungszentren als Leistungserbringer in die
vertragsärztliche Versorgung durchaus die besondere Organisationsform eines MVZ bekannt war. Gleichwohl ist
zeitgleich auch § 1 Abs. 3 Ärzte-ZV dahingehend geändert worden, dass die Regelungen der Ärzte-ZV auch für das
MVZ anzuwenden sind.
Die von dem Beklagten in seinem Beschluss bestätigte Auflage wiederholt lediglich den Inhalt des § 24 Abs. 2 Ärzte
ZV. Einen konkreten Hinweis auf hinnehmbare Entfernungen zwischen Wohnsitz und Arbeitsstelle oder auf einen
zeitlichen Rahmen des Arbeitsweges enthält die jeweilige Auflage nicht, so dass die Kammer diese Auflagen als
rechtmäßig ansieht. Denn der von der Klägerin zitierten o. g. Entscheidung des Bundessozialgerichtes lag ein anderer
Sachverhalt zugrunde. Hier hatten die Zulassungsgremien auf der Grundlage des § 24 Abs. 2 Ärzte-ZV konkret die
Entfernung bestimmt, in welcher der Arzt seinen Wohnsitz nehmen sollte. § 24 Abs. 2 Ärzte-ZV selbst gibt jedoch
keine konkreten Vorgaben hinsichtlich der kilometermäßigen Entfernung oder der zeitlichen Erreichbarkeit.
Die Residenzpflicht nach § 24 Abs. 2 Ärzte-ZV hat zum Zweck, dass der Arzt die mit der Zulassung bzw.
Anstellungsgenehmigung übernommenen Pflichten ausfüllen kann. Sie dient somit der Sicherung der Beratungs- und
Behandlungstätigkeit in seiner Praxis während der Sprechstunden. Denn entgegen der Auffassung der Klägerin geht
es dem Beklagten mit der Auflage nicht um die Absicherung des Notfall- und Bereitschaftsdienstes (allein darauf
bezieht sich auch das von der Klägerin eingebrachte Schreiben der Kassenärztlichen Vereinigung) und somit um die
Versorgung außerhalb der Sprechstunden. Es kommt daher auch nicht vordergründig auf das Fachgebiet der
angestellten Ärzte an. Die grundsätzlichen Pflichten eines Arztes nach seiner Zulassung bzw. wie hier nach einer
genehmigten Anstellung übernehmen die von der Klägerin angestellten Ärzte gegenüber der Klägerin selbst. Insofern
wird ihr die Genehmigung zur Anstellung der Ärzte, ggf. mit Auflagen, erteilt, und es obliegt ihr die Verantwortung für
eine ordnungsgemäße Versorgung der von ihren angestellten Ärzten behandelten Patienten. Das wird von der Klägerin
auch nicht bestritten. Vielmehr trägt sie selbst vor, dass auf Grund der Organisationsform in einem MVZ die ärztliche
Versorgung immer gesichert ist. Sie fungiert als Arbeitgeber für die angestellten Ärzte und haftet zunächst "auch für
eine Schlecht- bzw. Nichtleistung" eines von ihr angestellten Arztes.
Das Bundessozialgericht hat in der bereits zitierten Entscheidung ausgeführt, dass § 24 Abs. 2 Ärzte ZV den Zweck
hat, die sich in Satz 1 beschriebene Verpflichtung abzusichern, in der Praxis Sprechstunden abzuhalten und in dieser
Zeit für die Versicherten erreichbar zu sein, ohne eine konkrete Vorgabe zu machen. In diesem eingeschränkten
Verständnis erweist sie sich als zulässige Regelung der vertragsärztlichen Berufsausübung im Sinne des Art. 12 Abs.
1 Satz 2 Grundgesetz (BSG, a. a. O.).
§ 24 Abs. 2 Ärzte-ZV hat somit allein eine Sicherungsfunktion. Das beinhaltet nach Auffassung der Kammer auch,
dass diese im Einzelfall konkret als Auflage in eine Zulassung oder wie hier in eine Genehmigung aufgenommen wird.
Welche tatsächliche kilometermäßige Entfernung oder zeitliche Erreichbarkeit als angemessen gilt, ist gesetzlich
nicht geregelt und darf grundsätzlich auch nicht vorgegeben werden. Allein im Fall von Belegärzten geht die
Rechtsprechung von einem bis 30mintügem hinnehmbarem Anfahrtsweg aus, was sich aus seiner Verpflichtung der
unverzüglichen und ordnungsgemäßen Versorgung der von ihm ambulant und stationär zu betreuenden Versicherten
ergibt. Im Übrigen bedarf es einer Beurteilung im Einzelfall (BSG, a. a. O., m. w. N.). Eine schematische Kilometer-
bzw. Minutenvorgabe ist nicht möglich, denn gerade in Großstädten oder Ballungsgebieten können bereits zehn
Kilometer eine Fahrzeit von fast einer Stunde nach sich ziehen. Es muss vielmehr in jedem Fall u. a. durch einen
angemessenen Anfahrtsweg zur Praxis gesichert sein, dass der Arzt in der gesundheitlich erforderlichen Form die
Sprechstundenzeiten grundsätzlich pünktlich eingehalten kann. Diese Verantwortung trägt in einem MVZ wie die
Klägerin diese selbst, ist die Auflage ihr gegenüber zu erteilen.
Im Fall des Beigeladenen zu 3) dürfte nach Auffassung der Kammer aufgrund einer Entfernung zwischen Wohnsitz
und Praxis von 230 Kilometern eine tägliche Anreise ausgeschlossen sein bzw. zumindest eine ordnungsgemäße
Durchführung täglicher Sprechzeiten gefährdet sein. Ob dies bei dem Beigeladenen zu 2) (Entfernung 69 Kilometer,
Fahrzeit ca. 40 Minuten) auch der Fall ist, kann hier dahinstehen. Denn für keinen der beiden Ärzte enthält die Auflage
eine konkrete Vorgabe. Letztendlich bedeutet die Auflage in den Genehmigungsbescheiden nur, dass die Klägerin ihre
Verantwortung als Arbeitgeber für den angestellten Arzt wahrnimmt und auch unter dem Aspekt der Fürsorgepflicht
daraufhin wirkt, dass ihre angestellten Ärzte in angemessener Zeit die Praxis zu den Sprechzeiten erreichen, was
bspw. auch bereits durch einen Zweitwohnsitz gesichert werden kann. Wie nochmals im Termin zur mündlichen
Verhandlung vom Beklagten angeboten, obliegt es der Klägerin damit nur, einen Organisationsplan für den Fall des
nicht möglichen pünktlichen Beginns der Sprechzeiten vorzulegen. Sicherlich hat zwar nicht jeder niedergelassene
Vertragsarzt einen derartigen Notfallplan. Zumindest ist es dann jedoch durchaus gängige Praxis, dass zumindest die
Schwester weiß, an welchen Vertreter sie besonders dringende Fälle verweisen muss. Diese Aufgabe obliegt hier der
Klägerin und zwar unabhängig von der Fachrichtung eines Arztes, da jeder Arzt grundsätzlich an bestimmte Sprech-
und Behandlungszeiten gebunden ist und diese auch erfüllen muss.
Da die Auflage in dem angefochtenen Beschluss allein die Verpflichtung zur Beachtung der Residenzpflicht nach § 24
Abs. 2 Ärzte-ZV enthält, ohne eine konkrete kilometer- bzw. minutenmäßige Vorgabe zu bezeichnen, ist diese
Auflage als rechtmäßig anzusehen, ist die Klägerin insofern ggf. nicht einmal beschwert.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).