Urteil des SozG Osnabrück vom 27.10.2008
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Sozialgericht Osnabrück
Urteil vom 27.10.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Osnabrück S 24 AS 831/08
1. Der Bescheid des Beklagten vom 07. August 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. September
2008 wird aufgehoben. 2. Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten. 3. Die Berufung
wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darum, ob die der Klägerin gewährte freie Verpflegung während eines stationären Aufenthaltes
als Einkommen zu berücksichtigen ist. Die 1981 geborene Klägerin und ihre 2001 und 2003 geborenen Kinder G. und
H. erhalten seit Januar 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites
Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II). Der Beklagte bewilligte der Klägerin und ihren zwei Kindern
zuletzt mit Bescheid vom 21. April 2008 Leistungen für den Zeitraum 01. Mai 2008 bis 31. Oktober 2008 in Höhe von
757,30 EUR monatlich. Die Klägerin teilte im Mai 2008 mit, dass sie mit ihren Kindern vom 01. Oktober 2008 bis 22.
Oktober 2008 an einer Mutter-Kind-Vorsorgemaßnahme teilnehmen werde. Der Beklagte hob daraufhin den Bescheid
vom 21. April 2008 mit Bescheid vom 07. August 2008 teilweise wegen Eintritts einer wesentlichen Änderung auf. Er
berücksichtigte die freie Verpflegung mit einem Wert von 90,09 EUR als sonstiges Einkommen der Klägerin und
setzte davon den Pauschbetrag nach §§ 11 Abs. 2 Nr. 3 SGB II, 6 Abs. 1 ALG II-V ab. Hiergegen legte die Klägerin
am 18. August 2008 Widerspruch ein. Zur Begründung führte sie aus, dass die Anrechnung des Sachbezuges
rechtswidrig sei. Es fehle an einer wirksamen Rechtsgrundlage für die Anrechnung der häuslichen Ersparnis. Ein
Rückgriff auf die ALG II-V sei insoweit nicht zulässig, da der Verordnungsgeber eine Anrechnung der stationären
Verpflegung als Einkommen nicht regeln durfte, weil dies nicht von einer Ermächtigungsgrundlage gedeckt sei. Sie
verwies auf den Beschluss des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 25. Februar 2008 (L 9 AS
839/07 ER) und auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 18. Juni 2008, B 14 AS 22/07 R. Mit
Widerspruchsbescheid vom 11. September 2008 wies der Beklagte den Widerspruch zurück und stützte sich auf § 2
Abs. 5 ALG II-V. Hiergegen hat die Klägerin am 23. September 2008 Klage erhoben und einen Antrag auf Gewährung
einstweiligen Rechtsschutzes gestellt (S 24 AS 830/08 ER). Zur Begründung vertieft sie ihr Vorbringen aus dem
Vorverfahren.
Die Klägerin beantragt schriftlich sinngemäß, den Bescheid des Beklagten vom 07. August 2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 11. September 2008 aufzuheben. Der Beklagte beantragt schriftlich, die Klage
abzuweisen. Der Beklagte hält an seiner Auffassung fest. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne
mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Prozessakte und die
Verwaltungsakten des Beklagten ergänzend verwiesen. Sie sind Gegenstand der Beratung und Entscheidung
gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer konnte diesen Rechtsstreit gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche
Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten ihr Einverständnis erteilt haben. Die zulässige Klage ist begründet. Der
Bescheid des Beklagten vom 07. August 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. September 2008
ist rechtswidrig und beschwert die Klägerin. Der Beklagte war nicht befugt, die der Klägerin während der stationären
Mutter-Kind-Maßnahme gewährte freie Verpflegung bedarfsmindernd zu berücksichtigen. Es ist keine wesentliche
Änderung in den Verhältnissen eingetreten, die den Beklagten gemäß §§ 40 Abs. 1 SGB II, 330 SGB III, 48 Abs. 1
SGB X zu einer Aufhebung des ursprünglichen Bewilligungsbescheides berechtigt hätte. Nach §§ 40 Abs. 1 SGB II,
330 SGB III, 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den
tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen
haben, eine wesentliche Änderung eintritt. In diesem Sinne wesentlich ist eine Änderung dann, wenn sie
rechtserheblich ist. Vorausgesetzt wird also eine Änderung, die dazu führt, dass die Behörde unter den nunmehr
objektiv vorliegenden Verhältnissen den ergangenen Verwaltungsakt (so) nicht hätte erlassen dürfen, etwa weil der im
Bescheid festgestellte Anspruch materiell-rechtlich nicht mehr oder nicht mehr in dieser Höhe besteht (Steinwedel in
Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, § 48 SGB X, Rn. 13 m.w.N.). Nach §§ 40 Abs. 1 SGB II, 330 SGB
III, 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X ist der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse
aufzuheben, soweit nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden
ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde. Die der Klägerin während des
stationären Aufenthaltes gewährte freie Verpflegung stellt keine wesentliche Änderung in den tatsächlichen
Verhältnissen im vorgenannten Sinne dar. Weder mindert die unentgeltliche Verpflegung den Bedarf der Klägerin
(hierzu unter I.) noch stellt sie ein nach § 11 Abs. 1 SGB II zu berücksichtigendes Einkommen dar (hierzu unter II.). I.
Die freie Verpflegung mindert nicht den Bedarf der Klägerin. Sie hat als allein stehende Hilfebedürftige einen Anspruch
auf eine Regelleistung in Höhe von monatlich 351 EUR (§ 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II) auch während des stationären
Aufenthaltes. Bei der freien Verpflegung handelt es sich um einen von der Regelleistung nach dem SGB II umfassten
Bedarf. Diese für die Klägerin nicht mit Kosten verbundene Bedarfsdeckung kann nach der geltenden Rechtslage
nicht anspruchsmindernd berücksichtigt werden. Denn die Regelleistungen nach dem SGB II sind als strikte
Pauschalleistungen ausgestaltet. Ausnahmen hiervon sind nur in § 23 Abs. 3 SGB II vorgesehen. Mit der Einfügung
des § 3 Abs. 3 Satz 2 SGB II zum 01. August 2006 hat der Gesetzgeber klargestellt, dass eine abweichende
Festlegung der Bedarfe anders als im Anwendungsbereich des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch – Sozialhilfe –
(SGB XII) ausgeschlossen ist (vgl. dort § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII). Das Verbot der abweichenden
Bedarfsfeststellung gilt nicht nur für einen im Einzelfall höheren Bedarf, sondern auch für einen im Einzelfall – wie
vorliegend – geringeren Bedarf. Die Klägerin hat vielmehr einen Rechtsanspruch auf die volle nach § 20 SGB II
maßgebende Regelleistung (so auch BSG, Urteil vom 18. Juni 2008, B 14 AS 22/07 R; LSG Niedersachsen-Bremen,
Beschluss vom 30. Juli 2007 – L 8 AS 186/07 ER; Beschluss vom 26. November 2007 – L 6 AS 694/07 ER). II. Die
freie Verpflegung während des stationären Klinikaufenthaltes kann auch nicht als Einkommen im Sinne des § 11 Abs.
1 SGB II berücksichtigt werden. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind Einnahmen in Geld oder Geldeswert mit
Ausnahme der Leistungen nach dem SGB II, der Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz und nach den
Gesetzen, die eine entsprechende Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes vorsehen und der Renten oder
Beihilfen, die nach dem Bundesentschädigungsgesetz für Schaden an Leben sowie an Körper oder Gesundheit
erbracht werden, bis zur Höhe der vergleichbaren Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz als Einkommen zu
berücksichtigen. Nach Auffassung der Kammer stellt die freie Verpflegung während eines stationären Aufenthaltes
keine Einnahme in Geldeswert im Sinne des § 11 SGB II dar (str., offen gelassen vom BSG, Urteil vom 18. Juni
2008, B 14 AS 22/07 R; wie hier LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 30. Juli 2007, L 8 AS 186/07 ER; LSG
Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. November 2007, L 6 AS 694/07 ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil
vom 26. März 2008, L 9 AS 317/07; SG Freiburg, Urteil vom 24. Oktober 2006, S 9 AS 1557/06; SG Osnabrück,
Urteile vom 20. Juni 2007, S 24 AS 189/07, und vom 19. Dezember 2007, S 24 AS 786/07 und S 24 AS 368/07; a.A.
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29. Januar 2007, L 13 AS 14/06 ER; SG Osnabrück,
Urteil vom 29. August 2006, S 16 AS 522/05; SG Karlsruhe, Urteil vom 09. Januar 2007, S 14 AS 2026/06; SG Stade,
Gerichtsbescheid vom 26. Februar 2007, S 28 AS 319/05; SG Osnabrück, Urteil vom 25. April 2007, S 22 AS
985/06). Die Kammer geht davon aus, dass die Verpflegung insofern einen Geldwert besitzt, als der Bereitstellung von
Verpflegung durch die Klinik ein Kostenaufwand beim Renten- bzw. Krankenversicherungsträger gegenübersteht.
Allerdings besitzt die in der Klinik gewährte Verpflegung nach Auffassung der Kammer keinen Marktwert, ist also nicht
gegen Geld tauschbar (vgl. etwa Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 30. Juli 2007, L 8 AS 186/07 ER;
Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 26. November 2007, L 6 AS 694/07 ER). Nach Ansicht der Kammer
ist die Tauschbarkeit in Geld jedoch Voraussetzung für die Qualifizierung als Einkommen, da es dem Hilfebedürftigen
freisteht, wie er die pauschalierte Regelleistung verwendet. Nach Ansicht der Kammer kann eine unmittelbare
Bedarfsdeckung in Form von Bereitstellung von Verpflegung im Anwendungsbereich des SGB II nicht im Wege einer
ergebnisorientierten Auslegung als Einkommen "umetikettiert" werden. Die Gegenansicht umgeht nach Auffassung
der Kammer die vom Gesetzgeber beabsichtigte strikte Pauschalierung der Bedarfe. Die Berücksichtigung der
kostenlosen Verpflegung als Einkommen würde "durch die Hintertür" eine abweichende Festlegung der Bedarfe
ermöglichen. Der von der Gegenansicht vor dem Inkrafttreten des § 2 Abs. 5 der Verordnung zur Berechnung von
Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld
(ALG II-V) in der ab 01. Januar 2008 geltenden Fassung (BGBl. I 2007, Seite 2942) zur Ermittlung der Höhe des zu
kürzenden Betrages vorgenommene Rückgriff auf den in der Regelleistung enthaltenen Ernährungsanteil zeigt, dass
es sich in der Sache um eine unzulässige Kürzung der Regelleistung durch eine abweichende Bedarfsfestlegung
handelt. Auch die Einfügung des § 2 Abs. 5 ALG II-V n.F. lässt nach Ansicht der Kammer keine andere rechtliche
Beurteilung zu. Denn zum einen setzt die Anwendung der ALG II-V das Vorliegen von Einkommen (oder Vermögen)
voraus. Das ist aufgrund der vorstehenden Erwägungen nicht der Fall. Zum anderen steht § 2 Abs. 5 ALG II-V n.F.
nach Ansicht der Kammer mit der Ermächtigungsgrundlage des § 13 Nr. 1 SGB II nicht in Einklang (ebenso SG
Osnabrück, Urteil vom 24. Januar 2008, S 24 AS 900/07; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28. Februar
2008, L 9 AS 7/08 ER; offen gelassen vom BSG, Urteil vom 18. Juni 2008, B 14 AS 22/07 R). Als untergesetzliche
Norm unterfällt § 2 Abs. 5 ALG II-V n.F. nicht dem Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichtes, eine
Vorlagepflicht nach Art. 100 Grundgesetz besteht nicht. Die Kammer besitzt auf Grund ihres richterlichen
Prüfungsrechts die Befugnis zur eigenständigen "Verwerfung" der untergesetzlichen Norm. § 13 SGB II enthält die
nach Art. 80 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) erforderliche gesetzliche Ermächtigung zum Erlass der ALG II-V. Nach
Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden.
Dabei sind bei Ermächtigungen zu – wie hier – belastenden Regelungen strengere Anforderungen zu stellen als bei
Ermächtigungen zu begünstigenden Regelungen (BVerfG, Beschluss vom 30. Januar 1968, 2 BvL 15/65, BVerfGE
23, 62, 73). Nach § 13 Nr. 1 SGB II kann durch Rechtsverordnung bestimmt werden, welche weiteren Einnahmen
nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind und wie das Einkommen im Einzelnen zu berechnen ist. § 2 Abs. 5
ALG II-V n.F. bestimmt, dass bereitgestellte Vollverpflegung pauschal in Höhe von monatlich 35 Prozent der nach §
20 SGB II maßgebenden monatlichen Regelleistung als Einkommen zu berücksichtigen ist. Nach Auffassung der
Kammer handelt es sich dabei in der Sache nicht um eine Berechnungsmethode für eine bestimmte Einkommensart,
sondern um eine Bestimmung zur Feststellung eines im Einzelfall abweichenden – geringeren – Bedarfes. Der
Verordnungsgeber bestimmt damit, dass die Bereitstellung von Sachmitteln unmittelbar zur Bedarfsdeckung
Einkommen darstellt. Es handelt sich damit auch nach dem Wortlaut um eine positive Begriffsbestimmung, was als
Einkommen zu berücksichtigen ist. Der Bundesgesetzgeber hat den Verordnungsgeber in § 13 Nr. 1 SGB II aber
gerade nicht ermächtigt, Einnahmen, die nach dem Gesetz nicht als Einkommen zu qualifizieren sind, auf dem
Verordnungswege als Einkommen zu definieren. Damit hat der Verordnungsgeber die ihm eingeräumte
Rechtssetzungskompetenz überschritten. § 2 Abs. 5 ALG II-V n.F. ist nicht ermächtigungskonform. Der
Verordnungsgeber kann weder festlegen, wie eine Bedarfsdeckung anspruchsmindernd zu berücksichtigen ist, noch
kann er bestimmen, was positiv als Einkommen im Sinne des § 11 SGB II anzusehen ist. Eine solche Regelung kann
derzeit nur vom Gesetzgeber und nicht vom Verordnungsgeber getroffen werden, da die Verordnungsermächtigung
des § 13 SGB II hierfür nicht ausreicht. Eine erweiternde Auslegung von § 13 SGB II scheidet angesichts der
Anforderungen von Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG aus. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Berufung war
nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen.