Urteil des SozG Nürnberg vom 26.08.2009

SozG Nürnberg: gewöhnlicher aufenthalt, getrennt lebender ehegatte, mittelpunkt der lebensverhältnisse, eheliche wohnung, aufenthaltserlaubnis, besitz, leistungsanspruch, ausländer, erwerbsfähigkeit

Sozialgericht Nürnberg
Urteil vom 26.08.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 20 AS 906/09
I. Die Beklagte wird unter Abänderung des Änderungsbescheides vom 12.05.2009 in der Fassung des
Änderungsbescheides vom 22.06.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.06.2009 verurteilt, dem Kläger
dem Grunde nach für Juni 2009 Leistungen nach dem SGB II zu gewähren. II. Dem Kläger sind die notwendigen
außergerichtlichen Kosten dem Grunde nach zu erstatten. III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger, der mit einer deutschen Ehefrau verheiratet, aber lediglich im Besitz
einer sogenannten Fiktionsbescheinigung ist, einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II (Zweites Buch
Sozialgesetzbuch) hat.
Der am 17.02.1966 geborene Kläger besitzt die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit. Er ist seit dem 09.03.2009
unter der Anschrift A.-K.-Str. in N. gemeldet. Er bewohnt dort zusammen mit der am 01.09.1967 geborenen M. L., die
deutsche Staatsangehörige ist und laufende Leistungen nach dem SGB II bezieht, eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Frau
L. wurden zuletzt mit Änderungsbescheid vom 26.01.2009 Leistungen für den Zeitraum 01.01.2009 bis 30.06.2009 in
Höhe von monatlich 540,74 EUR (Regelleistung i.H.v. 351 EUR; Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von
387,34 EUR; angerechnetes Einkommen i.H.v. 197,60 EUR) bewilligt. Am 08.04.2009 informierte Frau L. die Beklagte
telefonisch darüber, dass sie den Kläger am 01.04.2009 geheiratet habe. Am 21.04.2009 übersandte sie die in
Dänemark ausgestellte Heiratsurkunde, eine Meldebescheinigung sowie den Ausweis des Klägers mit einer bis zum
05.07.2009 gültigen Fiktionsbescheinigung in Kopie. Die Fiktionsbescheinigung wurde zwischenzeitlich verlängert bis
05.10.2009.
Mit Änderungsbescheid vom 12.05.2009 bewilligte die Beklagte der Ehefrau des Klägers für Juni 2009 nur noch
Leistungen in Höhe von 309,59 EUR (Regelleistung i.H.v. 316 EUR; Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von
191,19 EUR; angerechnetes Einkommen i.H.v. 197,60 EUR). Zur Begründung wurde lediglich ausgeführt, aufgrund
einer Überzahlung für die Monate April und Mai 2009 würden monatlich 35 EUR von der Leistung einbehalten und
direkt an den Forderungseinzug Bogen abgeführt.
Gegen den Bescheid legte die Ehefrau des Klägers am 18.05.2009 Widerspruch ein. Sie machte unter anderem
geltend, es sei eine Neuberechnung unter Einbeziehung ihres Ehemannes durchzuführen. Dieser gehöre nunmehr zu
ihrer Bedarfsgemeinschaft und könne ebenfalls seinen Lebensunterhalt nicht aus eigenen Kräften decken. Ihm
stünden nach § 7 Abs. 2 S. 1 in Verbindung mit § 28 SGB II Leistungen zu. Zudem habe er ab dem 01.04.2009, dem
Zeitpunkt der Eheschließung und seiner Aufnahme in den gemeinsamen Haushalt seinen gewöhnlichen Aufenthalt in
der Bundesrepublik Deutschland. Ihm hätte die Aufnahme einer Beschäftigung gem. § 90 Abs. 5 AufenthG
(Aufenthaltsgesetz) grundsätzlich bereits am Tag der Anmeldung erlaubt werden können. Die Verspätung der
amtlichen Anordnung beruhe lediglich auf den zu erledigenden Formalien.
Daraufhin erließ die Beklagte am 22.06.2009 einen Teilabhilfebescheid für den Monat Juni, mit dem der Ehefrau des
Klägers wieder Leistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung der Regelleistung für einen alleinstehenden
Hilfebedürftigen sowie der vollen Kosten für Unterkunft und Heizung i.H.v. 540,74 EUR gewährt wurden. Eine
Leistungsgewährung für den Ehemann wurde abgelehnt. In einem Begleitschreiben teilte die Beklagte der Ehefrau des
Klägers mit, der Kläger habe zwar grundsätzlich ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik, aktuell jedoch keinen
Aufenthaltstitel, der einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II zulasse. Bei Vorlage eines endgültigen
Aufenthaltstitels könne über eine Gewährung der Regelleistung für den Ehemann entschieden werden. Unter dem
Aspekt des Schutzes der Ehe und Familie würden der Ehefrau des Klägers Leistungen in bisheriger Höhe gewährt,
das bedeute die volle Regelleistung sowie die vollen Mietkosten ab 01.04.2009.
Am 25.06.2009 teilte das Ausländeramt der Stadt N. der Beklagten auf telefonische Anfrage u.a. mit, dass derzeit der
Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis noch nicht erledigt sei. Es würden unter anderem noch der
Sprachnachweis sowie der Nachweis über die Sicherung des Lebensunterhalts fehlen. Falls diese nicht vorgelegt
würden oder nicht beigebracht werden könnten, werde der Antrag abgelehnt, der Kläger zur Ausreise verpflichtet.
Mit Widerspruchsbescheid vom 25.06.2009 wies die Beklagte den Widerspruch zurück, soweit ihm mit
Änderungsbescheid vom 22.06.2009 nicht stattgegeben worden war. Zur Begründung führte die Beklagte im
wesentlichen aus, dass dem Kläger keine Leistungen nach dem SGB II zustünden, da er nicht erwerbsfähig im Sinne
des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II sei. Nach § 8 Abs. 2 SGB II könnten Ausländer nur erwerbsfähig sein, wenn ihnen
die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt sei oder erlaubt werden könne. Eine Beschäftigung sei dem Kläger, der
gegenwärtig im Besitz einer Fiktionsbescheinigung sei, aktuell nicht erlaubt. Auch seien beim Kläger die rechtlichen
Voraussetzungen einer Zulassung zum Arbeitsmarkt nicht grundsätzlich gegeben, so dass ihm auch keine
Beschäftigung erlaubt werden könne. Vielmehr prüfe das Ausländeramt der Stadt N. derzeit noch, ob ihm
gegebenenfalls ein Aufenthaltstitel erteilt werden könne oder ob er zur Ausreise verpflichtet werde. Erst anschließend
könne dem Kläger gegebenenfalls eine Erwerbstätigkeit gestattet werden. Damit stehe der Kläger dem rechtlichen
Arbeitsmarktzugang derzeit aber derart fern, dass es nicht gerechtfertigt sei, ihn dem arbeitsmarktbezogenen
Existenzsicherungssystem des SGB II zuzuordnen. Allein die abstrakte Möglichkeit, dass ihm eine
Beschäftigungserlaubnis erteilt werden könne, reiche für eine Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 8 SGB II nicht aus.
Am 13.07.2009 hat der Kläger hiergegen Klage zum Sozialgericht Nürnberg erhoben. Zugleich hat er einen Antrag auf
Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gestellt (Verfahren S 20 AS 905/09 ER). Er trägt im Wesentlichen
vor, dass ihm Leistungen nach dem SGB II gem. § 7 Abs. 2 S. 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 SGB II zustünden, da
er Mitglied der Bedarfsgemeinschaft seiner Ehefrau sei, die die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II erfülle.
Im übrigen könne ihm jederzeit eine Beschäftigung erlaubt werden; die Verspätung der amtlichen Anordnung beruhe
lediglich auf den zu erledigenden Formalien. Ihm seien daher ab 01.04.2009 Leistungen im vollen Umfang zu
gewähren.
Der Kläger beantragt in der mündlichen Verhandlung am 26.08.2009, die Beklagte unter Abänderung des Bescheides
vom 12.05.2009 in Fassung des Änderungsbescheides vom 22.06.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
25.06.2009 zu verurteilen, ihm dem Grunde nach Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen und die Berufung gegen das Urteil zuzulassen.
Sie trägt - im Rahmen des Antragsverfahrens S 20 AS 905/09 ER - ergänzend vor, dass ein Anspruch des Klägers
auf Sozialgeld gem. § 28 SGB II als nicht erwerbsfähiger Angehöriger eines erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen ebenfalls
nicht bestehe. Der Kläger sei mit einem Besuchervisum eingereist. Dieses gelte aufgrund der Fiktionsbescheinigung,
die ihm für die Dauer seines Antragsverfahrens auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis von der Stadt N. ausgestellt
worden sei, bis zur Entscheidung über seinen Antrag weiter. Solange aber ein Aufenthalt nur besuchsweise bestehe,
könne - insbesondere beim erstmaligen Zugzug aus dem Ausland - kein gewöhnlicher Aufenthalt begründet werden.
Auch wenn der Kläger die Absicht habe, dauerhaft in der Bundesrepublik Deutschland zu verweilen, so sei doch die
Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis völlig offen, nachdem er die notwendigen
Unterlagen und den Nachweis über seine deutschen Sprachkenntnisse bislang nicht beigebracht habe. Selbst wenn
man aber davon ausgehen, dass der Kläger in der Bundesrepublik seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet habe,
wäre er gem. § 7 (1) S. 2 Nr. 1 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Im übrigen verweist die Beklagte auf
den Inhalt der Verwaltungsakten sowie die Ausführungen im angefochtenen Widerspruchsbescheid.
Der Kläger hat das Antragsverfahren im Termin am 26.08.2009 für erledigt erklärt.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift, der Gerichtsakte, der Verfahrensakte
S 20 AS 905/09 ER sowie der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
I. Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 12.05.2009 in Fassung des
Änderungsbescheides vom 22.06.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.06.2009 ist rechtswidrig und
verletzt den Kläger in seinen Rechten, soweit die Beklagte die Erbringung von Leistungen nach dem SGB II an den
Kläger ablehnt. Der Bescheid ist daher insoweit abzuändern. Dem Kläger ist für Juni 2009 dem Grunde nach ein
Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II zuzuerkennen.
1. Im Verfahren ist der Bewilligungszeitraum Juni 2009 streitgegenständlich. Die Beklagte hat mit ihrem Bescheid
vom 12.05.2009 in Fassung des Änderungsbescheids vom 22.06.2009 nur für diesen Monat eine Regelung darüber
getroffen, welche Leistungen den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft der Ehefrau des Klägers und damit dem Kläger
selbst zustehen. Die Ablehnung von Ansprüchen des Klägers nach dem SGB II betrifft somit auch nur diesen
Zeitraum.
2. Der Kläger hat Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II, insbesondere auf Sozialgeld nach § 28 SGB II.
a. Ein Anspruch des Klägers auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende gem. § 7 (1) S. 1 SGB II ist
ausgeschlossen.
Der Kläger selbst ist nicht erwerbsfähig im Sinne des § 8 (2) SGB II, da er weder im Besitz eines eine
Erwerbstätigkeit gestattenden Aufenthaltstitels noch einer Beschäftigungserlaubnis ist, sondern sich lediglich
aufgrund einer Fiktionsbescheinigung rechtmäßig in Deutschland aufhält. Zwar hat er die Erteilung eines
Aufenthaltstitels unter Gestattung der Erwerbstätigkeit beantragt; ob dieser erteilt wird, ist derzeit u.a. aufgrund
fehlender Nachweise über seine deutschen Sprachkenntnisse/-fähigkeiten und Existenzmittel noch offen. Die
abstrakt-generelle Möglichkeit, dass der Kläger den beantragten Aufenthaltstitel im Rahmen des ausländerrechtlichen
Verfahrens erhält, genügt jedoch nicht, um eine Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 8 (2) SGB II zu begründen. Vielmehr
steht der Kläger derzeit dem rechtlichen Arbeitsmarkt noch derart fern, dass es nicht gerechtfertigt wäre, ihn dem
arbeitsmarktbezogenen Existenzsicherungssystem des SGB II zuzuordnen (siehe dazu Blüggel in Eicher/Spellbrink,
SGB II, 2. Aufl., § 8 Rz. 65 ff. m.w.N.).
b. Beim Kläger liegen jedoch die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 (2) S. 1 SGB II vor. Er hat infolgedessen auch
gem. § 28 SGB II Anspruch auf Gewährung von Sozialgeld.
Nach § 7 (2) S. 1 SGB II erhalten auch Personen Leistungen, die mit erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einer
Bedarfsgemeinschaft leben. Nicht erwerbsfähige Angehörige, die mit erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einer
Bedarfsgemeinschaft leben, erhalten Sozialgeld, soweit sie keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel
des Zwölften Buches haben (§ 28 (1) S. 1 SGB II).
Der Kläger wohnt mit Frau M. L. in einem gemeinsamen Haushalt. Er ist somit als deren nicht dauernd getrennt
lebender Ehegatte Partner i.S.d. § 7 (3) Nr. 3 SGB II und bildet mit ihr eine Bedarfsgemeinschaft. Frau L. ist
erwerbsfähig und hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Die Ehefrau des Klägers
konnte im Juni 2009 den gemeinsamen Lebensunterhalt nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem
nicht aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern und bekommen die erforderliche Hilfe auch
nicht von anderen. Über der Freibetragsgrenze liegendes gemeinsames Vermögen im Sinne des § 12 SGB II war nach
Aktenlage und Angaben des Klägers im Termin vom 26.08.2009 im Verfahren S 20 AS 905/09 ER nicht vorhanden.
Dem Bedarf von 1019,34 EUR (2 x 316 EUR Regelleistung sowie Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von
387,34 EUR (§ 19 i.V.m. §§ 22, 28 SGB II)) stand lediglich ein anrechenbares Erwerbseinkommen der Ehefrau des
Klägers in Höhe von 197,60 EUR gegenüber. Somit lag bei der Ehefrau des Klägers Hilfebedürftigkeit im Sinne des §
7 (1) S. 1 Nr. 3 i.V.m. § 9 SGB II vor.
Der Kläger selbst hat keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches. Er ist nicht
erwerbsfähig und Angehöriger - d.h. Mitglied der Bedarfsgemeinschaft (Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, § 28 Rz.
70 m.w.N.) - seiner Ehefrau. Ihm steht daher ein Anspruch auf Sozialgeld nach § 28 SGB II zu.
c. Der Anspruch des Klägers auf Leistungen nach dem SGB II ist auch nicht deswegen ausgeschlossen, weil er nach
Auffassung der Beklagten seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in der Bundesrepublik Deutschland hat. Denn der
Anspruch auf Sozialgeld setzt nicht voraus, dass der Anspruchsberechtigte gem. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II seinen
gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland begründet hat.
aa. In der Literatur wird vertreten, dass ein Anspruch auf Sozialgeld nach § 7 (2) S. 1 i.V.m. § 28 SGB II nur bei
gleichzeitigem Vorliegen der Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II bestehen kann (vgl. Knickrehm in
Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl., § 28 Rz. 10: "§ 7 definiert und steuert als Einweisungsvorschrift den Zugang zu
dem System des SGB II. Hieraus folgt: Erfüllt der hilfebedürftige Angehörige die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 S.
1 - mit Ausnahme der Erwerbsfähigkeit - nicht, besteht selbst dann kein Anspruch auf Sozialgeld, wenn er mit einem
erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einer Bedarfsgemeinschaft lebt."; Birk in LPK-SGB II, 2. Aufl., § 28 Rz. 5: "Nach
Abs. 1 S. 1 HS 1 sind Angehörige erwerbsfähiger Hilfebedürftiger anspruchsberechtigt, sofern sie hilfebedürftig i.S.d.
§ 9 sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben."; Herold-Tews in Löns/Herold-
Tews, SGB II, 2. Aufl., § 28 Rz.: "Ebenso wie der Anspruch auf ALG II setzt auch der Anspruch auf Sozialgeld einen
gewöhnlichen Aufenthalt in der BRD voraus (§ 7 Abs. 1 Nr. 4).").
Dieser Auffassung schließt sich das Gericht nicht an. Weder der Wortlaut des Gesetzes noch die
Gesetzessystematik lassen einen solchen Schluss zu.
§ 7 Abs. 1 S. 1 SGB II definiert in den Nummern 1. bis 4. den "erwerbsfähigen Hilfebedürftigen" (15. Lebensjahr
vollendet und Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht, erwerbsfähig, hilfebedürftig und gewöhnlicher Aufenthalt in
der Bundesrepublik Deutschland) und gibt ihm - als primär Leistungsberechtigten - einen Anspruch auf Leistungen
nach dem SGB II. § 7 Abs. 2 S. 1 SGB II knüpft an die Person des "erwerbsfähigen Hilfebedürftigen" an und gibt den
Personen, die mit diesem in einer Bedarfsgemeinschaft (i.S.d. § 7 (3) SGB II) leben, - als sekundär
Leistungsberechtigten - einen eigenen Leistungsanspruch. Dies geht unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut
"Leistungen erhalten auch Personen ..." hervor. Der Anspruch unterliegt auch nach § 7 Abs. 2 S. 2 SGB II speziellen
Einschränkungen, die für den Anspruch nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II nicht gelten. Die Auffassung, die die in den
Ziffern 1 bis 4 des § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II genannten Voraussetzungen als allgemeine Voraussetzungen für einen
Leistungsanspruch nach dem SGB II ansieht (s.o.), übersieht somit, dass der Gesetzgeber durch die Schaffung der
Bedarfsgemeinschaft nach § 7 (3), also einer Einstandsgemeinschaft (vgl. § 9 (1) u. Abs. 2 SGB II) dem originär
Leistungsberechtigten angehörige Personen in die Regelungen des SGB II miteinbeziehen wollte, auch wenn diese -
z.B. mangels Hilfebedürftigkeit oder Erwerbsfähigkeit - selbst nicht dem Bereich der Grundsicherung für
Arbeitsuchende zuzuordnen wären. Im Gegenzug wird diesen Personen in § 7 (2) S. 1 SGB II ein eigenständiger
Leistungsanspruch eingeräumt. Zudem wäre eine konsequente Anwendung der zitierten Literaturmeinung nicht mit der
Gesetzessystematik vereinbar: So kann - entgegen § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II - eine nicht erwerbsfähige Person
einen Leistungsanspruch nach dem SGB II, d.h. auf Sozialgeld haben (vgl. § 28 Abs. 1 S. 1 SGB II). Gleiches gilt für
Personen, die hinsichtlich ihres Lebensalters nicht die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II erfüllen
(vgl. § 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 SGB II). Schließlich können auch Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft
Leistungsansprüche nach dem SGB II haben, die mit ihrem Einkommen den eigenen Bedarf decken können und
somit individuell nicht hilfebedürftig i.S.d. § 7 (1) S. 1 Nr. 3 SGB II sind. Deren Hilfebedürftigkeit wird erst über die
Regelung des § 9 (2) S. 3 SGB II fingiert, wenn der gesamte Bedarf der Bedarfsgemeinschaft aus eigenen Kräften
und Mitteln nicht gedeckt werden kann (siehe dazu u.a. Bundessozialgericht, Urt. v. 07.11.2006 - B 7b AS 10/06 R).
§ 7 Abs. 2 S. 1 SGB II stellt somit neben § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II eine weitere, selbstständige Grundlage für
Ansprüche auf Leistungen nach dem SGB II dar (vgl. u.a. Brühl/Schoch in LPK-SGB II, § 7 Rz.42), deren einzige
Voraussetzung ist, dass der Anspruchsberechtigte mit einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in Bedarfsgemeinschaft
lebt. Weitere Voraussetzungen muss der Anspruchsberechtigte nach dem Wortlaut der Norm nicht erfüllen;
insbesondere müssen in seiner Person nicht die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II, auch nicht zum Teil
vorliegen. § 28 (1) S. 1 SGB II, der an § 7 Abs. 2 S. 1 SGB II unmittelbar anknüpft, weist ebenfalls keine derartige
tatbestandliche Voraussetzung auf. Ausreichend ist, dass der Anspruchsinhaber Angehöriger eines erwerbsfähigen
Hilfebedürftigen ist, nicht selbst erwerbsfähig ist und keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des
Zwölften Buches hat (so auch SG Dessau, Beschl. v. 15.07.2005 - S 9 AS 396/05 ER; so im Ergebnis auch
Hengelhaupt a.a.O. Rz. 51ff.).
Die genannten Voraussetzungen des § 7 (2) S. 1 i.V.m. § 28 (1) SGB II erfüllt der Kläger. Nicht erforderlich ist
dagegen, dass der Kläger gem. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik
Deutschland begründet hat.
bb. Selbst für den Fall, dass man die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland
gem. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II als Voraussetzung für einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II,
insbesondere auf Sozialgeld sähe, hätte der Kläger im Übrigen einen solchen Anspruch. Denn er hat seinen
gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland begründet.
Nach § 30 (3) S. 2 SGB I (Erstes Buch Sozialgesetzbuch) hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er
sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur
vorübergehend verweilt.
Diese Definition ist grundsätzlich für alle sozialen Leistungsbereiche des SGB heranzuziehen, wenn auch wegen des
Vorbehalts abweichender Regelungen (vgl. § 37 S. 1 SGB I) und der unterschiedlichen Funktion des Begriffs innerhalb
einzelner Regelungsbereiche nur unter Berücksichtigung des Zwecks des Gesetzes, in welchem der Begriff gebraucht
wird (vgl. u.a. Bundessozialgericht, Urt. v. 01.09.1999 - B 9 SB 1/99 R m.w.N.). Sie gilt somit grundsätzlich auch für
das SGB II. Vom Wohnsitz unterscheidet sich der gewöhnliche Aufenthalt dadurch, dass ersterer auf Dauer angelegt
ist und den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse bildet, während der gewöhnliche Aufenthalt mehr zukunftsoffen ist und
den örtlichen Schwerpunkt der Lebensverhältnisse angibt (Hauck in Hauck/Noftz, SGB I, § 30 Rz. 14).
Der Kläger wohnt zusammen mit seiner Ehefrau in einer Wohnung in N. Die Heirat am 01.04.2009 sieht er laut eigenen
Angaben im Termin vom 26.08.2009 im Verfahren S 20 AS 905/09 ER als Gründung einer Familie. Dies sei der
Ausgangspunkt für seinen Wunsch, dauerhaft in Deutschland zu leben und - als Selbstständiger - zu arbeiten, zumal
auch seine Eltern in Deutschland leben würden. Damit liegt der gewöhnliche Aufenthalt des Klägers in der
Bundesrepublik Deutschland. Der Kläger beabsichtigt nicht, sich hier nur kurzzeitig aufzuhalten. Vielmehr liegt der
örtliche Schwerpunkt seiner Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland, da hier seine eheliche Wohnung
ist und seine nächsten Angehörigen, die Eltern, leben.
Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger lediglich im Besitz einer Fiktionsbescheinigung ist. Aufgrund dieser
Fiktionsbescheinigung ist der Aufenthalt des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland rechtmäßig. Es ist derzeit
auch nicht absehbar oder gar festgelegt, dass der Aufenthalt des Klägers aus ausländerrechtlichen Gründen zeitlich
begrenzt ist. Vielmehr läuft derzeit noch ein aufenthaltsrechtliches Verfahren des Klägers; eine Entscheidung über
seinen weiteren Aufenthalt bzw. die Erteilung eines Aufenthaltstitels ist noch nicht gefallen. Bis zu dieser
Entscheidung wird die dem Kläger ausgestellte befristete Aufenthaltserlaubnis (Fiktionsbescheinigung nach § 81 (5)
AufenthG) stetig verlängert. Somit ist gegenwärtig die für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts notwendige
Zukunftsoffenheit des Aufenthalts gegeben (in diesem Sinne auch SG Dessau, Beschl. v. 15.07.2005 - S 9 AS
396/05 ER; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 17.04.2008 - L 7 B 70/08 AS ER; Brühl/Schoch in
LPK-SGB II, § 7 Rz. 18). Anders wäre gegebenenfalls zu entscheiden, wenn der Kläger lediglich im Besitz einer
abschließend befristeten Aufenthaltserlaubnis oder sogar bereits ausreisepflichtig wäre. In diesem Fall wäre die
Aussicht auf einen zukünftigen (rechtmäßigen) Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland nicht gegeben; ein
gewöhnlicher Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland könnte nicht begründet werden.
Eine einschränkendere Auslegung des tatbestandlichen Merkmals "gewöhnlicher Aufenthalt" in § 7 (1) S. 1 Nr. 4 SGB
II ist auch nach dem Sinn und Zweck des SGB II aus zweierlei Gründen nicht geboten. Zum einen sollen nach dem
Willen des Gesetzgebers über das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft gerade auch Personen in den Rechts- und
Pflichtenkreis des SGB II miteinbezogen werden, die originär nicht leistungsberechtigt nach dem SGB II sind. Als
Anknüpfungspunkt reicht aus, dass sie im weiteren Sinne Angehörige des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen sind. Zum
anderen hat der Gesetzgeber in § 7 (1) S. 2 SGB II eine ausdrückliche Regelung darüber getroffen, unter welchen
Voraussetzungen Ausländer von Leistungsansprüchen nach dem SGB II ausgeschlossen sind (siehe dazu noch im
Folgenden).
d. Der Anspruch des Klägers auf Leistungen nach dem SGB II ist schließlich auch nicht nach § 7 (1) S. 2 Nr. 1 SGB
II in der am 28.08.2007 in Kraft getretenen Fassung ausgeschlossen. Danach sind Ausländer, die weder in der
Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbstständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 des
Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres
Aufenthalts vom Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ausgenommen.
Der Kläger fällt nicht in den Anwendungsbereich dieser Vorschrift. Aus dem Regelungszusammenhang mit § 7 (1) S. 1
SGB II und dem Wortlaut der Vorschrift wird erkennbar, dass der Leistungsausschluss Mitglieder einer
Bedarfsgemeinschaften erfassen soll, die aus einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, der nicht die deutsche
Staatsbürgerschaft besitzt, und seinen Angehörigen gebildet werden (siehe dazu auch BT-Drs. 16/5065, 234). Der
Kläger gehört jedoch zu einer Bedarfsgemeinschaft, deren Anknüpfungspunkt seine erwerbsfähige, hilfebedürftige
Ehefrau, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, bildet. Auch die Gesetzeshistorie und der Regelungszweck des
§ 7 (1) S. 2 Nr. 1 SGB II sprechen dafür, dass Familienangehörige deutscher Erwerbsfähiger nicht von dem
Leistungsausschluss erfasst werden. Nach der bis zum 27.08.2007 gültigen Fassung des § 7 (1) S. 2 SGB II waren
vom Leistungsanspruch ausgenommen Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der
Arbeitssuche ergibt, ihre Familienangehörigen sowie Leistungsberechtigte nach § 1 des
Asylbewerberleistungsgesetzes. Die Vorschrift ist wortgleich in § 7 (1) S. 2 Nr. 2 u. 3 SGB II übernommen worden.
Nach der Begründung des Gesetzgebers (BT-Drs. 16/5065,13) sollten von der Regelung, die auf arbeitsuchende
Ausländer und ihre Familienangehörigen zugeschnitten war, nicht Bürger erfasst werden, die als Familienangehörige
eines Deutschen in die Bundesrepublik Deutschland einreisen. Am 28.08.2007 trat § 2 (5) Freizügigkeitsgesetz/EU in
Kraft. Danach können sich Unionsbürger und ihre Familienangehörigen für drei Monate ohne besonderes
Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Da solche Unionsbürger vom Wortlaut des bisher
gültigen § 7 (1) S. 2 SGB II nicht erfasst wurden, hat der Gesetzgeber mit Wirkung zum 28.08.2007 den Tatbestand
des § 7 (1) S. 2 Nr. 1 SGB II durch das Gesetz zur Umsetzung von aufenthalts- und asylrechtlichen Richtlinien der
Europäischen Union neu geschaffen. Er hat dabei von der Option des Artikels 24 (2) der Richtlinie 2004/38/EG des
Rates vom 29.04.2004 Gebrauch gemacht. Danach ist ein aufnehmender Mitgliedsstaat nicht verpflichtet, anderen
Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren
Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren
Zeitraums nach Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf
Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder
Studiendarlehens, zu gewähren. Zielsetzung des § 7 (1) S. 2 Nr. 1 SGB II ist es somit sicherzustellen, dass EU-
Bürger und ihre Familienangehörigen auch in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik
Deutschland keine Ansprüche nach dem SGB II geltend machen können (vgl. BT-Drs. 16/5065). Nicht bezweckt ist
dagegen, abweichend von der bis zum 27.08.2007 gültigen Gesetzeslage nunmehr auch Familienangehörige
deutscher erwerbsfähiger Hilfebedürftiger in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts von Leistungen nach dem SGB
II auszuschließen. Damit kann dahingestellt bleiben, ob eine solche Regelung im Hinblick auf Art. 6 (1) Grundgesetz
verfassungskonform wäre.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG (Sozialgerichtsgesetz).
III. Die Revision ist gem. § 161 (1) S. 1, Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 160 (2) Nr. 1 SGG wegen der grundsätzlichen Bedeutung
der Rechtssache zuzulassen.