Urteil des SozG Nürnberg vom 21.06.2006

SozG Nürnberg: arbeitsgemeinschaft, hauptsache, sozialhilfe, ausländer, aufenthalt, erlass, beweggrund, freizügigkeitsgesetz, unterhalt, begünstigter

Sozialgericht Nürnberg
Beschluss vom 21.06.2006 (rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 19 SO 60/06 ER
I. Die Antragsgegnerin wird im Wege der Einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller Hilfe zum
Lebensunterhalt nach §§ 27 ff SGB XII ab dem Datum dieses Beschlusses bis zur Entscheidung über die Hauptsache
zu gewähren. II. Die Antragsgegnerin hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Antragsteller beantragte mit Telefax vom 02.06.2006,
die Antragsgegnerin im Wege der Einstweiligen Anordnung zur Hilfegewährung durch die Zahlung von Sozialhilfe bzw.
Grundsicherungsleistungen nach SGB XII für seine Person zu verpflichten und der Antragsgegnerin die Kosten des
Verfahrens aufzuerlegen.
Der Antragsteller ist ungarischer Staatsangehöriger und erhielt durch die Arbeitsgemeinschaft Nürnberg seit
01.01.2005 bis 31.03.2006 Arbeitslosengeld II. Im Verfahren S 19 AS 44/06 ER wurde die Arbeitsgemeinschaft
Nürnberg verpflichtet, dem Antragssteller weiterhin Arbeitslosengeld II bis zur Entscheidung über seinen Widerspruch
gegen einen Ablehnungsbescheid zu gewähren. Einen am 17.03.2006 gestellten Fortzahlungsantrag lehnte die
Arbeitsgemeinschaft Nürnberg ab. Einen gegen die Arbeitsgemeinschaft Nürnberg gestellten Antrag auf Erlass einer
Einstweiligen Anordnung lehnte das Sozialgericht Nürnberg, 20. Kammer, mit Beschluss vom 16. Mai 2006, S 20 AS
329/06 ER, ab. Der Antragsteller sei nicht erwerbsfähig im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 8 Abs. 2 SGB II.
Bereits am 10. Januar 2006 stellte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin einen formlosen Antrag auf Sozialhilfe.
Mit Schriftsatz der H. vom 23.03.2006 erneuerte er diesen Antrag mit Blick auf eine ab April 2006 drohenden
Mittellosigkeit. Den Ablehnungsbescheid der Arbeitsgemeinschaft Nürnberg legte er bei.
Mit Bescheid vom 15.05.2006 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Sozialhilfe ab. Der Antragsteller sei dem
Grunde nach leistungsberechtigt nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II), da er die Voraussetzungen des
§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erfülle. Der Ausschluss vom Leistungen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ändere nichts an
dieser dem Grunde nach vorhandenen Leistungsberechtigung (siehe dazu Drucksache Bundestag 16/688 vom
15.02.2006 Seite 13 B. zu § 7). Nach § 21 Abs. 1 SGB XII habe er deshalb keinen Anspruch auf Leistungen für den
Lebensunterhalt im Rahmen der Sozialhilfe. Mit Telefax vom 30.05.2006 legte der Antragsteller hiergegen
Widerspruch ein.
Die Antragsgegnerin beantragte mit Schriftsatz vom 16.06.2006,
den Antrag abzulehnen.
Der Antragsteller erfülle sämtliche Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 SGB II und sei damit gemäß
§ 21 Satz 1 SGB XII von Leistungen nach diesem Buch ausgeschlossen. Er habe sich seit August 2003 in Nürnberg
aufgehalten, nachdem er bereits von 1988 bis 2000 in Nürnberg wohnhaft gewesen sei. Sein derzeitiges
Aufenthaltsrecht sei folglich nicht allein mit dem Zweck der Arbeitsuche begründet.
II.
Der nach § 86 b Abs. 2 SGG zulässige Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung ist begründet. Gemäß § 86 b
Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht in der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in
Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden
Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte.
Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Ein
solcher Antrag ist gemäß § 86 b Abs. 3 SGG auch schon vor der Klageerhebung in der Hauptsache zulässig.
Vorliegend sind sowohl ein Anordnungsgrund als auch ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht (§ 86 b Abs. 2
SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Ein Anordnungsgrund liegt vor, weil der Antragsteller mittellos ist und sein gegenwärtiger Lebensunterhalt nicht
sichergestellt ist. Auch ein Anordnungsanspruch liegt vor. Der Antragsteller ist leistungsberechtigt nach § 23 Abs. 1
SGB XII i. V. m. §§ 27 ff SGB XII. Sein Leistungsanspruch ist nicht gemäß § 21 Satz 1 SGB XII ausgeschlossen.
Nach § 21 SGB XII erhalten Personen, die nach dem Zweiten Buch als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem
Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt. Wer nach dem SGB II
leistungsberechtigt ist, ist in dessen § 7 geregelt. § 7 Abs. 1 SGB II (Berechtigte) hat in seiner ab 01.04.2006
geltenden Fassung folgenden Wortlaut:
"Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die 1. das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch
nicht vollendet haben, 2. erwerbsfähig sind 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der
Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Hilfebedürftige). Ausgenommen sind Ausländer, deren
Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, ihre Familienangehörigen sowie
Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben
unberührt."
Bei grammatikalischer wie teleologischer Auslegung folgt hieraus, dass Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein
aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, nicht dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II sind. Zwar geht
die Begründung des Gesetzesentwurfes, auf die die Antragsgegnern zutreffend hinweist, davon aus, dieser
Personenkreis sei von Leistungen des SGB XII ausgeschlossen, weil er dem Grunde nach leistungsberechtigt nach
dem SGB II sei. Diese Auffassung ist aber im Gesetzeswortlaut nicht zum Ausdruck gekommen. Wenn sich nach § 7
SGB II bestimmt, wer dem Grunde nach leistungsberechtigt ist, der genannte Personenkreis jedoch von der
Leistungsberechtigung gleichzeitig ausgenommen wird, ist er nicht dem Grunde nach leistungsberechtigt sondern
überhaupt nicht leistungsberechtigt im Sinne des SGB II.
Der Antragsteller ist auch diesem Personenkreis zuzuordnen. Die Formulierung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II knüpft
nicht an den Aufenthaltszweck der, sondern an das Aufenthaltsrecht an. Art. 24 Abs. 2 i. V. m. Art. 14 Abs. 4
Buchstabe b) der Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 bestimmt
gerade, dass im nationalen Recht Personen und ihre Familienangehörigen vom Bezug sozialer Leistungen
ausgeschlossen werden können, wenn sich ihr Aufenthaltsrecht allein auf den Zweck der Arbeitsuche gründet. Damit
sind gerade solche EU-Bürger gemeint, deren einziger begünstigter Aufenthaltszweck nach § 2 des
Freizügigkeitsgesetzes/EU in der Arbeitsuche liegt. Unabhängig davon, dass die Arbeitsuche sicherlich nicht der
einzige Beweggrund des Antragstellers für seinen Aufenthalt in Deutschland ist, ist der einzige ersichtlich begünstigte
Aufenthaltszweck nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU die Arbeitsuche, d. h. allein hieraus kann er ein
Aufenthaltsrecht, das über den bloßen Fremdenverkehr hinausgeht, ableiten.
Selbst wenn sich in der Hauptsache diese Rechtsauffassung als unzutreffend erweisen sollte, überwiegt das
Interesse des Antragstellers, der lebensnotwendig auf irgend eine Form von Unterhalt angewiesen ist, das Interesse
der Antragsgegnerin an der sparsamen Verwendung ihrer Haushaltsmittel, weil der Antragsgegnerin für den Fall, dass
der Antragsteller leistungsberechtigt nach dem SGB II sein sollte, ein Erstattungsanspruch gegen die
Arbeitsgemeinschaft Nürnberg zusteht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.