Urteil des SozG Neuruppin vom 20.07.2006
SozG Neuruppin: sinn und zweck der norm, pauschalierung, anrechenbares einkommen, verfügung, heizung, erlass, anteil, deckung, rückerstattung, gewährleistung
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Gericht:
SG Neuruppin 18.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 18 AS 1063/09 WA
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 11 Abs 1 S 1 SGB 2, § 3 Abs 3
S 1 Halbs 2 SGB 2 vom
20.07.2006, § 3 Abs 3 S 2 SGB 2
vom 20.07.2006, § 20 Abs 1
SGB 2, § 22 Abs 1 S 4 Halbs 2
SGB 2 vom 20.07.2006
Grundsicherung für Arbeitsuchende -
Einkommensberücksichtigung - Stromkostenerstattung -
Einsparungen im Bereich des Haushaltsenergieanteils der
pauschalierten Regelleistung - Anspruch auf menschenwürdiges
Existenzminimum
Leitsatz
1. Stromkostenerstattungen sind bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht als
Einkommen zu berücksichtigen.
2. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Vorauszahlungen an den Energieversorger aus den
Mitteln der Grundsicherung geleistet wurden.
Tenor
1. Der Änderungs- und Erstattungsbescheid vom 11.06.2007 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 02.10.2007 wird aufgehoben.
2. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin wehrt sich gegen die Anrechnung einer Stromkostenerstattung als
Einkommen.
Die 53-jährige Klägerin wohnt zusammen mit ihrer Tochter H. R. (Klägerin des
Parallelverfahrens S 18 AS 1064/09 WA) in einer Dreizimmerwohnung in O. Sie bezieht
seit dem 01.01.2005 ununterbrochen Leistungen der Grundsicherung nach dem
Sozialgesetzbuch Zweites Buch – SGB II –.
Am 21.11.2006 stellte die Klägerin einen erneuten Folgeantrag. Der Beklagte bewilligte
ihr darauf hin mit Bescheid vom 04.12.2006 Leistungen für den Zeitraum Januar 2007
bis Juni 2007. Die Höhe des Arbeitslosengeldes II betrug monatlich 257,11 Euro.
Berücksichtigt wurde dabei ein Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung in Höhe von
56,30 Euro.
Am 15.05.2007 reichte die Klägerin die Stromabrechnung der Stadtwerke O. GmbH für
das Jahr 2006 beim Beklagten ein. Danach ergab sich für die Klägerin und ihre Tochter
ein Guthaben von insgesamt 164,35 Euro. Das Guthaben wurde am 23.02.2007
ausgezahlt.
Der Beklagte hob darauf hin den Bescheid vom 04.12.2006 teilweise auf und gewährte
nun mehr mit Änderungsbescheid vom 11.06.2007 für den Monat Februar 2007
Arbeitslosengeld II in Höhe von 174,94 Euro. Er rechnete dabei das Guthaben aus der
Stromabrechnung in Höhe von 82,17 Euro als Einkommen an. Zugleich forderte er von
der Klägerin einen Betrag von 82,17 Euro zurück. Hiergegen legte die Klägerin mit
Schreiben vom 25.06.2007 Widerspruch ein.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 02.10.2007 zurück.
Bezüglich des Mehrbedarfs für kostenaufwendige Ernährung gab er an, dass dieser zwar
zu Unrecht bewilligt worden sei, diesbezüglich jedoch Vertrauensschutz bestehe. Das
Stromguthaben sei als Einkommen zu berücksichtigen. Der Gesamtbetrag des
Guthabens von 164,35 Euro sei dabei zu halbieren gewesen. Hieraus ergebe sich ein
anzurechnendes Einkommen in Höhe von 82,17 Euro.
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Mit ihrer Klage vom 05.07.2007 verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Das Verfahren wurde mit Beschluss vom 11.06.2008 im Hinblick auf das Verfahren des
8. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) zum Aktenzeichen B 8 SO 35/07 R ruhend
gestellt. Nach Erlass des Urteils vom 19.05.2009 wurde das Verfahren fortgesetzt. Der 8.
Senat des BSG hat entschieden, dass Stromkostenerstattungen auf
Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – SGB XII – als
Einkommen anzurechnen sind.
Die Klägerin macht geltend, dass sie die Stromvorauszahlungen aus der Regelleistung
bezahlt habe. Die Anrechnung des Guthabens sei daher rechtswidrig. Es könne zudem
nicht zu ihren Lasten gehen, wenn der Stromversorger Vorauszahlungen erhebt, die
nicht dem tatsächlichen Verbrauch entsprechen. Die Entscheidung des 8. Senats des
BSG zum SGB XII sei im Übrigen auf das SGB II nicht übertragbar.
Die Klägerin beantragt,
den Änderungs- und Erstattungsbescheid vom 11.06.2007 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 02.10.2007 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
1. die Klage abzuweisen,
2. die Revision zuzulassen.
Er verweist auf seine Bescheide und hält die dort genannte Auffassung weiter Aufrecht.
Die Entscheidung des 8. Senats des BSG zum SGB XII könne dabei auf das SGB II
übertragen werden. Dem stehe nicht entgegen, dass Stromkosten grundsätzlich aus der
Regelleistung zu zahlen seien. Insoweit ergäben sich zwischen SGB II und SGB XII keine
Unterschiede. Auch habe der 8. Senat des BSG diesbezüglich keine
verfassungsrechtlichen Bedenken gesehen. Die Auffassung, dass
Stromkostenerstattungen anzurechnen sind, werde auch durch die Neufassung des § 22
Abs. 1 Satz 4 SGB II in der Fassung ab dem 01.08.2006 gestützt. Dadurch sei ersichtlich,
dass der Gesetzgeber von einer Anrechenbarkeit von Stromkostenerstattungen als
Einkommen ausgehe. Zudem ergebe sich aus dem SGB II auch kein Belohnungssystem
für eine Bedarfsverringerung. Das System der Grundsicherung stelle grundsätzlich ein
am jeweils bestehenden Bedarf des Einzelnen orientiertes Leistungssystem dar. Soweit
der Einzelne in der Lage sei, seinen Bedarf aus eigenen Mitteln ganz oder teilweise zu
decken, sei er hierzu ausdrücklich verpflichtet. Die Nichtanrechnung von
Stromkostenerstattungen würde dieses System ad absurdum führen und zur Folge
haben, dass trotz geringeren Bedarfs eine über den tatsächlichen Bedarf hinausgehende
Alimentation von Hilfebedürftigen stattfände.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte
dieses Verfahrens, die Gerichtsakte des Verfahrens S 18 AS 1064/09 WA sowie die
Verwaltungsakten des Beklagten mit den Nummern x. und x. verwiesen, die Gegenstand
der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Klage ist zulässig und begründet. Der
angefochtene Bescheid des Beklagten ist rechtwidrig und verletzt die Klägerin in ihren
Rechten. Die Voraussetzungen für eine (teilweise) Aufhebung der ursprünglichen
Bewilligung liegen nicht vor. Bei der zugeflossenen Stromkostenerstattung handelt es
sich nicht um berücksichtigungsfähiges Einkommen.
Gegenstand des Klageverfahrens ist der Bescheid vom 11.06.2007 in Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 02.10.2007, mit dem der Beklagte die Leistungsgewährung
aus dem ursprünglichen Bewilligungsbescheid vom 04.12.2006 für den Monat Februar
2007 teilweise aufhob. Die Klage ist als Anfechtungsklage im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz
1 Sozialgerichtsgesetz – SGG – zulässig. Nicht Gegenstand ist demgegenüber der
Bewilligungsbescheid vom 04.12.2006 selbst, da dieser von der Klägerin nicht
angefochten wurde und daher bestandskräftig geworden ist.
Die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids misst sich an § 40 Abs. 1 Sätze 1 und
2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – SGB III – i.V.m.
§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – SGB X –. Hiernach ist, soweit
in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines
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in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines
Verwaltungsakts mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung
eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Gemäß § 40 Abs. 1
Satz 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III ist dabei mit Wirkung vom Zeitpunkt
der Veränderung der Verhältnisse der Verwaltungsakt aufzuheben, soweit nach
Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsakts Einkommen erzielt worden ist, das zum
Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt hat (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X).
Als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse gilt in Fällen, in denen Einkommen oder
Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum auf Grund der besonderen Teile dieses
Gesetzbuches anzurechnen ist, der Beginn des Anrechnungszeitraumes (§ 48 Abs. 1
Satz 3 SGB X). Dies ist gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-
Verordnung – Alg II-V – (i.d.F. vom 22.08.2005 – BGBl I, S. 2499) bei einmaligen, nicht
laufenden Einnahmen der Beginn des Monats, in dem das Einkommen zufließt.
Eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen in diesem Sinne ist
entgegen der Auffassung des Beklagten durch die am 23.02.2007 zugeflossene
Stromkostenerstattung nicht eingetreten.
Die Klägerin erfüllte während des streitgegenständlichen Monats die Voraussetzungen
für den Bezug von Arbeitslosengeld II. Sie war insbesondere hilfebedürftig im Sinne der
§§ 7, 9 SGB II. Zum Zeitpunkt des Erlasses des nicht angefochtenen und damit
bestandskräftig gewordenen Bewilligungsbescheides vom 04.12.2006 war von einem
monatlichen Bedarf in Höhe von 591,41 Euro auszugehen. Auf diesen monatlichen
Bedarf war im Monat Februar 2007 lediglich die Witwenrente in Höhe von 364,30 Euro
(abzüglich einer Versicherungspauschale von 30 Euro) als Einkommen anzurechnen.
Als Einkommen sind gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II zu berücksichtigen Einnahmen in
Geld oder Geldeswert mit Ausnahme der Leistungen nach dem SGB II, der Grundrente
nach dem Bundesversorgungsgesetz – BVG – und den Gesetzen, die eine
entsprechende Anwendung des BVG vorsehen und Renten oder Beihilfen, die nach dem
Bundesentschädigungsgesetz für Schaden an Leben sowie an Körper oder Gesundheit
erbracht werden. Nach der Rechtsprechung des BSG, der sich die Kammer anschließt,
ist Einkommen grundsätzlich alles das, was jemand nach Antragstellung wertmäßig dazu
erhält, und Vermögen das, was er vor Antragstellung bereits hatte. Dabei ist in
Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom
tatsächlichen Zufluss auszugehen, es sei denn rechtlich wird ein anderer Zufluss als
maßgeblich bestimmt (siehe exemplarisch BSG, Urteil v. 30.07.2008 - B 14 AS 26/07 R).
Aus dem Wortlaut des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II folgt keine weitergehende Definition
dessen, was Einkommen ist. Lediglich die im zweiten Satzteil genannten Leistungen sind
von vornherein von der Berücksichtigung ausgenommen. Nach Sinn und Zweck der
Norm kann jedoch eine Stromkostenerstattung infolge einer periodischen
Stromkostenabrechnung, deren Vorauszahlungen zuvor vom Hilfebedürftigen aus
Mitteln der Grundsicherung geleistet wurden, ebenfalls nicht als Einkommen qualifiziert
werden (so auch die Hinweise der Bundesagentur für Arbeit zu § 11, Rz 11.61).
Diese Sichtweise ergibt sich aus dem System der ausnahmslosen Pauschalierung der
Leistungen nach dem SGB II (siehe dazu Spellbrink, in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl.
2008, § 20 Rz. 4). Diese sind Ausfluss des Grundrechts auf Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums (siehe dazu Bundesverfassungsgericht (BVerfG),
Urteil v. 09.02.2010 - 1 BvL 1/09) und decken gemäß § 3 Abs. 3 Satz 1 2. Hs. SGB II den
gesamten existenznotwendigen Bedarf ab, insbesondere Nahrung, Kleidung, Hausrat,
Unterkunft, Heizung, Hygiene, Gesundheit sowie die Teilhabe am gesellschaftlichen,
kulturellen und politischen Leben. Eine davon abweichende Festlegung der Bedarfe ist
gemäß § 3 Abs. 3 Satz 2 SGB II ausgeschlossen (siehe BSG, Urteil v. 18.06.2008 - B 14
AS 22/07 R). Ein maßgeblicher Bestandteil dieser Leistungen ist die Regelleistung nach §
20 SGB II. Diese wird Hilfebedürftigen in ihrer Gesamtheit zur Verfügung gestellt und
dient zur selbstverantwortlichen Lebensgestaltung (BT-Drucksachen 15/1514, S. 50, 52;
15/1516, S. 46). Hilfebedürftige sollen daher selbst entscheiden können, für welche der
Grundbedarfe sie die Regelleistung in welcher Höhe einsetzen. Dies führt dazu, dass
Hilfebedürftige bei bestimmten Bedarfspositionen Einsparungen vornehmen können, um
so mehr Mittel für andere Bedarfspositionen zur Verfügung zu haben. Auch können auf
diese Weise Ansparungen vorgenommen werden, um größere Bedarfe zu befriedigen.
Die Pauschalierung bedingt, dass die von Hilfebedürftigen vorgenommen Einsparungen
nicht als weggefallener Bedarf angesehen und daher zur „Leistungskürzung“ genutzt
werden dürfen. Zugleich dürfen Einsparungen auch nicht als quasi fiktives Einkommen
angesehen werden, welches Hilfebedürftigen zur Deckung ihres Lebensunterhalts zur
Verfügung steht.
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Das vom Gesetzgeber gewählte System der strengen Pauschalierung muss dabei
ausnahmslos gelten. Dies hat zur Folge, dass Einsparungen nicht nur dann
berücksichtigungsfrei bleiben, wenn sie dadurch zustande kommen, dass Hilfebedürftige
ihre Regelleistung nur teilweise verbrauchen und sich die übrig gebliebenen Mittel für
andere Bedarfe bzw. für einen späteren Zeitpunkt „aufheben“. Gleiches muss auch für
Einsparungen gelten, die der Hilfebedürftige mittelbar tätigt, d. h. über den Umweg eines
Dritten (hier: Stromversorger). Dies gilt jedenfalls dann, wenn eine eigenverantwortliche
Verwendung der Regelleistung ohne den Dritten nicht möglich ist, da dieser seine Ware
nur mittels pauschalierter Vorauszahlungen und einer später folgenden Endabrechnung
(mit entsprechenden Rückzahlungen/Nachforderungen) anbietet.
Die Anrechnung der Stromkostenerstattung als Einkommen würde das System der
strengen Pauschalierung durchbrechen. Es würde für die Klägerin faktisch eine
„rückwirkende“ Kürzung ihrer Regelleistung darstellen, da sie den nichtverbrauchten
Anteil der Stromvorauszahlungen für andere Bedarfe hätte einsetzen können. Damit
würde ein Teil der Zahlungen (an den Stromversorger), die bereits die Regelleistung in
den Monaten der Vorauszahlungen gemindert haben, im Monat des Zuflusses der
Stromkostenerstattung (im Wege der Anrechnung als Einkommen) erneut zu einer
Verringerung der Regelleistung führen. Eine solche „Doppelberücksichtigung“ entspricht
jedoch weder dem Sinn und Zweck von Pauschalierung und Eigenverantwortung noch
wird sie dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums gerecht.
Soweit der 8. Senat des BSG für den Rechtskreis des SGB XII Stromkostenerstattungen
als anrechenbares Einkommen ansieht (siehe BSG, Urteil v. 19.05.2009 – a.a.O.),
können daraus für das SGB II keine Rückschlüsse gezogen werden. Das SGB XII
unterliegt einer deutlich weniger rigiden Pauschalierung als das SGB II (siehe dazu
Spellbrink, in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, § 20 Rz. 35) und folgt zudem dem
Individualisierungsgrundsatz. Demgemäß hat der 8. Senat des BSG maßgeblich darauf
abgestellt, dass der sich aus § 9 SGB XII ergebende Grundsatz, dass sich Art, Form und
Maß der Sozialhilfe nach den Besonderheiten des Einzelfalles richten (vor allem nach der
Person des Hilfeempfängers, der Art seines Bedarfes und den örtlichen Verhältnissen),
Vorrang hat vor der in § 28 SGB XII vorgesehenen Pauschalierung des Regelsatzes.
Zudem sei zu berücksichtigen, dass eine Stromkostenerstattung dem Hilfebedürftigen
im Auszahlungsmonat tatsächlich zur Deckung seines Lebensunterhalts zur Verfügung
steht und daher dessen Bedarf mindere (sogenanntes „bereites Mittel“). Dabei stützt er
sich auf die bereits vom BVerwG für das Bundessozialhilfegesetz herangezogenen
Strukturprinzipien (hier: Gegenwärtigkeitsprinzip und Bedarfsdeckungsprinzip), ohne
diese im Einzelnen zu benennen (zu den Strukturprinzipien siehe Grube, in
Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl. 2010, Einleitung Rz. 32 ff.). All dies kann nicht auf den
Rechtskreis des SGB II übertragen werden. Dieses kennt weder den
Individualisierungsgrundsatz noch die Strukturprinzipien des BVerwG (vgl. BSG, Urteil v.
17.06.2010 – B 14 AS 46/09 R). Es gibt daher weder eine § 9 SGB XII vergleichbare
Vorschrift noch ist eine abweichende Bedarfsdeckung im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 2
SGB XII möglich.
Stromkostenerstattungen sind auch nicht mit Betriebs- und Heizkostenerstattungen
vergleichbar. Dies folgt bereits daraus, dass für Betriebs- und Heizkostenerstattungen
mit § 22 Abs. 1 Satz 4 SGB II eine spezielle Regelung eingeführt wurde (durch das
Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.07.2006 –
BGBl I, S. 1706 –; zur Rechtslage vor Einführung des § 22 Abs. 1 Satz 4 SGB II siehe BSG,
Urteil v. 15.04.2008 – B 14/7b AS 58/06 R), die es für Stromkostenerstattungen nicht
gibt. § 22 Abs. 1 Satz 4 SGB II kann dabei weder direkt noch analog auf
Stromkostenerstattungen angewendet werden, da dies in § 22 Abs. 1 Satz 4 2. Hs. SGB
II explizit ausgeschlossen wird („Rückzahlungen, die sich auf die Kosten für
Haushaltsenergie beziehen, bleiben insoweit außer Betracht“). Entgegen der Ansicht des
Beklagten kann hieraus jedoch nicht gefolgert werden, dass der Gesetzgeber (weiter)
von einer Anrechenbarkeit von Stromkostenerstattungen als Einkommen ausgeht. Den
Gesetzesmaterialien zu § 22 Abs. 1 Satz 4 SGB II (siehe BT-Drucksache 16/1696, S. 26 f)
ist nicht zu entnehmen, dass der Gesetzgeber zu dieser Frage überhaupt eine Regelung
treffen wollte.
Aus § 22 Abs. 1 Satz 4 SGB II können auch deswegen keine Rückschlüsse auf die
Anrechenbarkeit von Stromkostenerstattungen gezogen werden, weil dieser eine
Besonderheit im System des SGB II darstellt. Betriebs- und Heizkostenerstattungen
werden – entgegen der eigentlich in § 11 Abs. 1 SGB II vorgesehenen Regelung – nicht
als Einkommen angerechnet, sondern mindern unmittelbar den Unterkunftsbedarf des
Hilfebedürftigen. Damit soll sichergestellt werden, dass die von den Kommunen zu
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Hilfebedürftigen. Damit soll sichergestellt werden, dass die von den Kommunen zu
gewährenden Leistungen für die Kosten der Unterkunft und Heizung im Falle einer
Erstattung wieder an diese zurückfließen und nicht – wie grundsätzlich bei der
Anrechnung von Einkommen vorgesehen – zuerst auf die Leistungen des Bundes
angerechnet werden. Eine vergleichbare Konstellation gibt es bei
Stromkostenerstattungen nicht, da die Stromkostenvorauszahlungen nicht durch die
Kommunen zu leisten sind. Auch ist zu berücksichtigen, dass die Leistungen gemäß § 22
Abs. 1 SGB II grundsätzlich in Höhe der tatsächlich anfallenden Aufwendungen für
Unterkunft und Heizung zu leisten sind. Eine Pauschalierung – wie bei der Regelleistung –
gibt es nicht. Es ist daher angemessen, dass der erstattete Anteil der Unterkunftskosten
(und damit der nicht „verbrauchte“) an den Leistungsträger zurückfließt.
Aus § 22 Abs. 1 Satz 4 SGB II können auch deswegen keine Rückschlüsse auf die
Anrechenbarkeit von Stromkostenerstattungen gezogen werden, weil im Falle einer
Nachforderung des Stromlieferanten diese nicht vom Leistungsträger übernommen wird.
Diese muss der Hilfebedürftige neben der ohnehin anfallenden Vorauszahlung im
Fälligkeitsmonat selbst aus der Regelleistung zahlen. Die Nachzahlung kann weder als
zusätzlicher Bedarf übernommen werden noch zählt sie zu den Aufwendungen der
Kosten der Unterkunft (vgl. dazu BSG, Urteil v. 19.02.2009 – B 4 AS 48/08 R).
Nachforderungen des Vermieters/Versorgers bezüglich Betriebs- und Heizkosten sind
demgegenüber (im Rahmen der Angemessenheit) als Kosten der Unterkunft nach § 22
Abs. 1 Satz 1 SGB II zu übernehmen.
Letztlich sind Stromkostenerstattungen auch nicht mit
Einkommenssteuerrückerstattungen vergleichbar (diese werden vom BSG grundsätzlich
als Einkommen angesehen, siehe beispielhaft Urteil v 13.05.2009 - B 4 AS 49/08 R). Die
vom Hilfebedürftigen im Vorjahr gezahlten Einkommenssteuern, die als Grundlage für
die Berechnung der verbleibenden Steuerschuld dienen, sind vom Hilfebedürftigen zuvor
nicht aus der Regelleistung geleistet worden. Insoweit stellt die Anrechnung einer
Rückerstattung als Einkommen nicht die „rückwirkende“ Kürzung der Regelleistung dar.
Hinzu kommt, dass durch die Anrechnung der Einkommenssteuerrückerstattung die
Leistungen eines Hilfebedürftigen nicht geschmälert werden. Der Anteil des Lohnes
eines Hilfebedürftigen, der die zu zahlende Einkommenssteuer betrifft, ist gemäß § 11
Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB II nicht als Einkommen anzurechnen. Berücksichtigt wird im
Vorjahreszeitraum lediglich das Einkommen (unter Berücksichtigung der sonstigen
Abzüge und Freibeträge), was nach Abzug der auf das Einkommen entrichteten Steuern
an den Hilfebedürftigen ausgezahlt wird. Diese Freistellung rechtfertigt es, die
Rückerstattung zuviel geleisteter (quasi nicht „verbrauchter“) Einkommenssteuern
nachträglich als Einkommen anzurechnen, da diese dem Sinn und Zweck des § 11 Abs.
2 Satz 1 Nr. 1 SGB II nicht (mehr) unterfällt und sie daher als zusätzlicher Netto-
Arbeitslohn zu betrachten ist.
Ob die obigen Ausführungen auch für den Fall gelten, dass die Vorauszahlungen nicht
aus den Mitteln der Grundsicherung geleistet wurden (d. h. insbesondere für Zeiten vor
Beginn des Leistungsbezugs), kann dahinstehen.
Da die Klägerin den ursprünglichen Rückforderungsbetrag in Höhe von 82,17 Euro am
20.06.2007 an den Beklagten geleistet hat (siehe Kontoauszug der Klägerin vom
01.07.2007), ist dieser zurückzuerstatten, soweit dies nicht bereits geschehen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG und entspricht dem Ergebnis des
Verfahrens.
Die Zulassung der (Sprung-) Revision beruht auf § 161 SGG. Die Rechtssache hat
grundsätzliche Bedeutung, weil die rechtliche Behandlung von Stromkostenerstattungen
– soweit für die Kammer ersichtlich – höchstrichterlich (jedenfalls für den Bereich des
SGB II) noch nicht geklärt ist. Es sind zudem zahlreiche weitere Verfahren zu dieser
Rechtsfrage am Sozialgericht Neuruppin anhängig.
In der Zulassung der (Sprung-) Revision liegt zugleich die Zulassung der Berufung (siehe
Leitherer, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 161 Rz. 2).
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