Urteil des SozG Neuruppin vom 30.09.2010

SozG Neuruppin: aufschiebende wirkung, wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, schutz der menschenwürde, eingliederung, vollziehung, gewährleistung, verwaltungsakt, eng, grundrecht

1
2
3
4
5
Gericht:
SG Neuruppin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 18 AS 1569/10 ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsstellerin vom
30.09.2010 gegen den Absenkungsbescheid vom 24.09.2010 sowie die
Aufhebung der Vollziehung des zuvor genannten Bescheides werden
angeordnet.
2. Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der
Antragstellerin zu erstatten.
Gründe
Der bei Gericht am 13.10.2010 eingegangene sinngemäße Antrag der Antragsstellerin,
1. die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 30.09.2010
gegen den Absenkungsbescheid vom 24.09.2010 anzuordnen sowie
2. unter Aufhebung der Vollziehung des Bescheids vom 24.09.2010 die
Nachzahlung der seit dem 01.10.2010 einbehaltenen Leistungen
anzuordnen
ist als Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom
30.09.2010 gegen den Absenkungsbescheid vom 24.09.2010 nach § 86b Abs. 1 Satz 1
Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG – ebenso zulässig und begründet wie der Antrag auf
Aufhebung der Vollziehung des zuvor genannten Bescheides für die Monate Oktober
2010 und November 2010 nach § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG. Es bestehen ernsthafte
Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Absenkungsbescheids, mit dem der Antragsgegner
das Arbeitslosengeld II der Antragstellerin für den Zeitraum 01.10.2010 bis 31.12.2010
um 30 Prozent der für sie maßgebenden Regelleistung abgesenkt hat.
Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag in den Fällen, in
denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die
aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Sofern der Verwaltungsakt im
Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen oder befolgt worden ist, kann das Gericht
zudem die Aufhebung der Vollziehung anordnen (§ 86b Abs. 1 Satz 2 SGG). Eine
derartige Sachlage ist hier gegeben, denn nach § 39 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Zweites
Buch – SGB II –, der eine Regelung im Sinne von § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG trifft, haben
Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der – wie im
vorliegenden Fall – Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende herabsetzt, keine
aufschiebende Wirkung. Die Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden
Wirkung des Widerspruchs steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts und erfolgt
aufgrund einer Interessenabwägung (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
Sozialgerichtsgesetz, 9. Aufl. 2008, § 86b Rz. 12). Abzuwägen sind die betroffenen, vom
Zweck der Ermächtigung zum Erlass des infrage stehenden Bescheides relevanten
konkreten Interessen. Zu berücksichtigen sind dabei vor allem auch der Zweck des
Gesetzes, die Entscheidung des Gesetzgebers, ob Anfechtungsklagen gegen derartige
Bescheide grundsätzlich aufschiebende Wirkung haben sollen, sowie der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit. Das Gericht hat bei der Interessenabwägung auch die
Erfolgsaussichten des Widerspruchs zu berücksichtigen, soweit sich diese bereits
übersehen lassen. Dabei ist im Hinblick auf die Eilbedürftigkeit der Entscheidung nur eine
summarische Überprüfung möglich. Je größer die Erfolgsaussichten der Klage sind, um
so geringere Anforderungen sind an das Aussetzungsinteresse des Antragstellers zu
stellen. Je geringer umgekehrt die Erfolgsaussichten zu bewerten sind, umso höher
müssen die erfolgsunabhängigen Interessen des Antragstellers zu veranschlagen sein,
um eine Aussetzung zu rechtfertigen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
Sozialgerichtsgesetz, 9. Aufl. 2008, § 86b Rz. 12e ff.).
6
7
8
9
10
11
Gemessen an diesen Maßstäben bestehen ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit
des Absenkungsbescheids vom 24.09.2010.
Der Antragsgegner hat die Absenkung für den Zeitraum vom 01.10.2010 bis 31.12.2010
darauf gestützt, dass sich die Antragstellerin trotz Belehrung über die Rechtsfolgen
geweigert habe, im Eingliederungsbescheid vom 16.04.2010 festgelegte Pflichten zu
erfüllen (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b) i. V. m. Abs. 4 Nr. 3 b) SGB II). In Nr. 3 c) des
Eingliederungsbescheids sei die Pflicht festgelegt worden, monatlich mindestens zehn
schriftliche, persönliche oder telefonische Bewerbungsbemühungen nachzuweisen und
die Nachweise dem Fallmanager am 15.06.2010, 17.08.2010 sowie 14.10.2010 im
Rahmen des Sprechbetriebs vorzulegen. Dem sei die Klägerin nicht nachgekommen, als
sie für den Zeitraum 16.06.2010 bis 17.08.2010 am 17.08.2010 keine
Bewerbungsbemühungen nachwies.
Dem stehe nicht entgegen, dass sich die verletzte Pflicht aus einem
Eingliederungsbescheid ergebe. Ein solcher sei hinsichtlich § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b)
SGB II einer Eingliederungsvereinbarung gleichzusetzen. Sinn und Zweck einer
Eingliederungsvereinbarung wie eines Eingliederungsbescheids sei die Eingliederung des
erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in Arbeit. Es würde dem zuwiderlaufen, wenn bei
Verstößen gegen eine Pflicht aus einem Eingliederungsbescheid eine Sanktion nicht
möglich ist. Der Hilfebedürftige könnte sich durch eine bloße Verweigerungshaltung den
Eingliederungsbemühungen des Leistungsträgers sanktionslos entziehen. Auch ginge
ein überwiegender Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung davon aus, dass
Eingliederungsvereinbarung und Eingliederungsbescheid gleichwertig seien. Bezüglich
des Sanktionstatbestandes des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 a) SGB II werde argumentiert,
dass ein Eingliederungsbescheid ein gleich geeignetes Mittel sei, um die Eingliederung
des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zu erreichen. Diese Argumentation sei jedoch nicht
haltbar, wenn die Regelungen eines Eingliederungsbescheids nicht sanktionsbewehrt
sind. Zudem habe das Bundessozialgericht (BSG) in seinem Urteil vom 22.09.2009 – B 4
AS 13/09 R entschieden, dass es dem Leistungsträger obliege, ob er den Weg über eine
Eingliederungsvereinbarung oder über einen Eingliederungsbescheid wählt. Im Übrigen
verweise er darauf, dass der Gesetzgeber im Referentenentwurf des „Gesetzes zur
Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches
Sozialgesetzbuch“ die Unklarheiten im Hinblick auf die Sanktionsmöglichkeiten bei
Erlass eines Eingliederungsbescheids klarstellend regeln wolle.
Die Antragsstellerin hält dem unter anderem entgegen, dass bereits der
Eingliederungsbescheid vom 16.04.2010 rechtswidrig sei. Dieser sei mangels Profilings
und Ausgestaltung nicht hinreichend konkret und weise ein Missverhältnis hinsichtlich
der gegenseitigen Pflichten und Rechte auf. Zudem sei eine Absenkung nach § 31 Abs. 1
SGB II bei Verstößen gegen eine Pflicht aus einem Eingliederungsbescheid nicht möglich.
Eine solche könne nur bei Verstößen gegen eine Pflicht aus einer
Eingliederungsvereinbarung erfolgen. Die Sanktionsnormen seien dabei aufgrund ihrer
gravierenden Folgen eng und am Wortlaut auszulegen. Eine erweiternde Auslegung auf
Eingliederungsbescheide verbiete sich. Es obliege vielmehr dem Gesetzgeber, Mängel
der Sanktionsvorschriften zu beseitigen. Eingliederungsvereinbarungen und
Eingliederungsbescheide seien auch nicht gleichwertig. Ein Eingliederungsbescheid greife
tiefer und vielfältiger in die Rechte eines Hilfebedürftigen ein. Eine Absenkung könne
auch deshalb nicht erfolgen, weil die Rechtsfolgenbelehrung des Antragsgegners
unzureichend gewesen sei. Im Übrigen sei darauf hinzuweisen, dass sie nicht unwillig sei,
sich nach Arbeit umzusehen. Sie unternehme aus eigenem Antrieb
Bewerbungsbemühungen. Diese hätte im Zeitraum August 2010 und September 2010
zu vier Vorstellungsgesprächen und einem Probearbeiten geführt.
Ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Absenkungsbescheids vom 24.09.2010
bestehen bereits deshalb, weil es für die Absenkung der Regelleistung an einer
entsprechenden Rechtsgrundlage fehlt.
Der Antragsgegner kann die Absenkung insbesondere nicht auf § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
b) SGB II stützen. Danach wird das Arbeitslosengeld II abgesenkt, wenn der
erwerbsfähige Hilfebedürftige sich trotz Belehrung über die Rechtsfolgen weigert, die in
einer Eingliederungsvereinbarung festgelegten Pflichten zu erfüllen. Vorliegend hat die
Antragsstellerin zwar gegen die vom Antragsgegner festgelegte Pflicht, monatlich
mindestens zehn schriftliche, persönliche oder telefonische Bewerbungsbemühungen
nachzuweisen und die Nachweise dem Fallmanager am 15.06.2010, 17.08.2010 sowie
14.10.2010 im Rahmen des Sprechbetriebs vorzulegen, verstoßen. Sie reichte den
Nachweis für ihre Bewerbungsbemühungen für den Zeitraum 16.06.2010 bis 17.08.2010
erst mit Schreiben vom 13.09.2010 beim Antragsgegner ein. Diese Pflicht ergab sich
12
13
14
15
16
erst mit Schreiben vom 13.09.2010 beim Antragsgegner ein. Diese Pflicht ergab sich
jedoch nicht aus einer Eingliederungsvereinbarung im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB
II, sondern aus einem Eingliederungsbescheid im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II.
§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b) SGB II kann nicht auf Eingliederungsbescheide angewendet
werden. Dies ergibt sich aus dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift, die auf eine
Eingliederungsvereinbarung abstellt. Voraussetzung ist demnach eine wirksam
abgeschlossene und nicht nichtige Eingliederungsvereinbarung im Sinne des § 15 Abs. 1
Satz 1 SGB II (siehe dazu Berlit, in LPK-SGB II, 3. Aufl. 2009, § 31 Rz. 28).
Der Begriff „Eingliederungsvereinbarung“ in § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b) SGB II kann
entgegen der Ansicht des Antragsgegners auch nicht in einem weiten,
Eingliederungsbescheide umfassenden Sinne verstanden werden. Dies ergibt sich aus
der Legaldefinition des § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Danach stellt die
Eingliederungsvereinbarung eine Vereinbarung mit einem erwerbsfähigen
Hilfebedürftigen über die für seine Eingliederung erforderlichen Leistungen dar.
Erforderlich ist demnach ein Einvernehmen mit dem Hilfebedürftigen über Inhalt und
Abschluss von Eingliederungsregelungen. Dieses Erfordernis erfüllt ein
Eingliederungsbescheid nicht. Der Leistungsträger setzt in diesem Fall die
Eingliederungsregelungen einseitig fest. Eingliederungsbescheide fallen daher auch nicht
in den Anwendungsbereich des § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB II, sondern werden unter § 15
Abs. 1 Satz 6 SGB II eigens behandelt. Es handelt es sich bei der
Eingliederungsvereinbarung und dem Eingliederungsbescheid um zwei
Verfahrensmöglichkeiten des Leistungsträgers, die zwar beide einem ähnlichen Zweck
dienen, aber dennoch grundlegend verschieden sind. Es ist nicht ersichtlich, dass der
Gesetzgeber in § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b) SGB II hiervon eine Abweichung machen
wollte.
§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b) SGB II kann entgegen der Ansicht des Antragsgegners auch
nicht entsprechend auf Eingliederungsbescheide angewendet werden. Dem steht der
eindeutige Wortlaut der Vorschrift entgegen. Auch ist die Vorschrift als Sanktionsnorm,
die für Hilfsbedürftige gravierende finanzielle Folgen hat, eng am Wortlaut der Regelung
orientiert auszulegen (siehe dazu LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 08.07.2009 - L
19 B 140/09 AS ER; LSG Hessen, Beschluss v. 09.02.2007 - L 7 AS 288/06 ER; LSG
Bayern, Beschluss v. 09.11.2007 - L 7 B 748/07 AS; Rixen in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2.
Aufl. 2008, § 31 Rz. 13a; Valgolio in Hauck/Noftz, SGB II, § 31 Rz. 34).
Der Antragsgegner verkennt zudem, dass das Arbeitslosengeld II ein Ausfluss des
Grundrechts auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums
darstellt (siehe insoweit Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Urteil vom 09.02.2010 – 1
BvL 1/09). Es dient als unterstes soziales Netz dazu, den Lebensunterhalt von
erwerbsfähigen Hilfebedürftigen sicher zu stellen. Der Staat hat im Rahmen seines
Auftrags zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen
Gestaltungsauftrags dafür Sorge zu tragen, dass die dafür notwendigen materiellen
Voraussetzungen zur Verfügung stehen. Damit korrespondiert ein Leistungsanspruch
des Grundrechtsträgers, dessen Menschenwürde in solchen Notlagen nur durch
materielle Unterstützung gesichert werden kann. Er gewährleistet das gesamte
Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie. Diese umfasst nicht
nur die physische Existenz des Menschen (also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft,
Heizung, Hygiene und Gesundheit), sondern auch die Sicherung der Möglichkeit zur
Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am
gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Die Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums muss durch einen gesetzlichen Anspruch
gesichert sein, der so ausgestaltet ist, dass er stets den existenznotwendigen Bedarf
jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt.
Der Gesetzgeber ist seinem verfassungsrechtlichen Auftrag bei erwerbsfähigen
Hilfebedürftigen (grundsätzlich) durch Schaffung des SGB II nachgekommen. Das
Arbeitslosengeld II stellt in seiner Gesamtheit die Konkretisierung des Grundrechts auf
Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums dar. Nach den
Vorstellungen des Gesetzgebers sollte dieses all die Mittel umfassen, die zur
Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Die
Regelungen über die Absenkung des Arbeitslosengeldes II in § 31 SGB II stellen demnach
einen Eingriff in dieses Grundrecht dar, der entsprechend der einschlägigen
Grundrechtsdogmatik gerechtfertigt sein muss. Zwar dürfte derzeit noch offen sein,
anhand welcher Kriterien dies im Einzelnen zu prüfen ist. Jedoch kann davon
ausgegangen werden, dass ein Eingriff in das Grundrecht auf Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums nur aufgrund einer eindeutigen gesetzlichen
Rechtsgrundlage ergehen kann.
17
18
19
20
21
Im Übrigen ist auch eine ungewollte Regelungslücke des Gesetzgebers nicht erkennbar.
Angesichts der bereits seit der Einführung des SGB II bestehenden Streitfrage, ob
Eingliederungsbescheide unter die Sanktionsnorm des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b) SGB II
zu fassen sind (siehe zu dieser Problematik z. B. VG Bremen, Beschluss v. 17.05.2005 –
S1 V 725/05), und angesichts der überwiegend ablehnenden Haltung der Instanzgerichte
hätte der Gesetzgeber bei den zahlreich erfolgten Gesetzesänderungen die Gelegenheit
gehabt, bei entsprechendem Regelungswillen § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b) SGB II um
Eingliederungsbescheide zu ergänzen. Da dies (noch) nicht geschehen ist, muss davon
ausgegangen werden, dass eine Einbeziehung von Eingliederungsbescheiden in das
Sanktionssystem des § 31 SGB II nicht gewollt ist.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass dem Gesetzgeber ebenfalls seit 2005 bekannt ist,
dass der Sanktionstatbestand des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 a) SGB II von Teilen der
Rechtsprechung als verfassungsrechtlich bedenklich angesehen wird (siehe dazu z. B.
SG Berlin, Beschluss v. 31.08.2005 - S 37 AS 7807/05 ER). Dies insbesondere deshalb,
weil den Leistungsträgern mit der Möglichkeit des Erlasses eines
Eingliederungsbescheids nach § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II ein milderes Mittel zur
Verfügung steht, um die Mitwirkungspflichten eines Hilfebedürftigen zu konkretisieren
(siehe Berlit, in LPK-SGB II, 3. Aufl. 2009, § 31 Rz. 14 m. w. N.). Es gab daher bereits seit
längerem die Überlegung, § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 a) SGB II zu streichen (beispielsweise
im Referentenentwurf zum Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen
Instrumente im Mai 2008, siehe Berlit, in LPK-SGB II, 3. Auflage 2009, § 31 Rz. 6).
Spätestens dabei musste dem Gesetzgeber bewusst geworden sein, dass § 31 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 b) SGB II eine Regelung nur bezüglich Eingliederungsvereinbarungen und
damit eine bedeutende Lücke enthält. Diese ist dennoch bis heute nicht geschlossen
worden, so dass auch deshalb davon ausgegangen werden muss, dass eine
Einbeziehung von Eingliederungsbescheiden in das Sanktionssystem des § 31 SGB II
nicht gewollt ist. Es wäre dem Gesetzgeber ein leichtes gewesen, mittels Hinzufügung
einiger weniger Worte Eingliederungsbescheide in den Anwendungsbereich des § 31 Abs.
1 Satz 1 Nr. 1 b) SGB II einzubeziehen.
Dies wird verdeutlich durch den nunmehr vorliegenden Referentenentwurf des „Gesetzes
zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches
Sozialgesetzbuch“ vom 26.10.2010 (BT-Drucksache 17/3404, S. 36, 182 f). Danach soll §
31 SGB II ab dem 01.01.2011 insoweit neu gefasst werden, als in § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
SGB II-E (der den derzeitigen § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b) SGB II ersetzen soll) auch
Eingliederungsbescheide explizit genannt werden. Dies dient nach der
Entwurfsbegründung zur „Klarstellung“, dass bei einem Verstoß gegen in einem
Eingliederungsbescheid festgelegten Pflichten die gleichen Rechtsfolgen wie bei einem
Verstoß gegen die in einer Eingliederungsvereinbarung festgelegten Pflichten eintreten.
Entgegen der Ansicht des Antragsgegners können daraus jedoch keine
Schlussfolgerungen dergestalt gezogen werden, dass die „Klarstellung“ für die
Rechtslage ab dem 01.01.2011 zugleich auch den Regelungswillen des Gesetzgebers für
die Auslegung des derzeitigen § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b) SGB II verdeutlichen soll. Die
beabsichtigte Neufassung des § 31 SGB II zeigt vielmehr, dass die Entwurfsverfasser auf
die Kritik aus Rechtsprechung und Literatur reagieren und Unzulänglichkeiten der
bisherigen Sanktionsvorschriften beseitigen wollen. So werden nicht nur
Eingliederungsbescheide in § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II-E aufgenommen. Auch der
bereits genannte § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 a) SGB II soll nunmehr gestrichen werden. Die
„Klarstellung“ der Entwurfsbegründung dient daher lediglich dazu, diesen Willen deutlich
zum Ausdruck zu bringen. Eine beabsichtigte Rückwirkung bzw. eine Klarstellung
dergestalt, dass die Neufassung dem schon immer vorhandenen Regelungswillen des
Gesetzgebers entsprochen hätte, kann daraus nicht entnommen werden.
Dem Antragsgegner wird dabei zuzugeben sein, dass die Frage, ob § 31 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 b) SGB II in direkter oder erweiternder Auslegung auch auf Eingliederungsbescheide
anzuwenden ist, bisher höchstrichterlich nicht eindeutig entschieden worden ist. Jedoch
hat das BSG angedeutet, dass es der oben dargelegten Auffassung folgt. Es hat in
seinem Urteil vom 22.09.2009 (a.a.O.) über den dortigen Kläger ausgeführt:
„Eine rechtsförmige Durchsetzung seiner Ansprüche auf
Eingliederungsleistungen hängt nicht davon ab, ob diese in einer
Eingliederungsvereinbarung oder einem ersetzenden Verwaltungsakt "festgelegt"
worden sind. Andererseits steuert jedoch die Entscheidung über das
verfahrensrechtliche Vorgehen die Durchsetzungsmöglichkeiten des
Grundsicherungsträgers im Hinblick auf die Pflichten des erwerbsfähigen
Hilfebedürftigen, die in § 15 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 3 SGB II in der
Eingliederungsvereinbarung festzulegen sind. Denn Sanktionsmöglichkeiten bei
22
23
24
25
26
27
Eingliederungsvereinbarung festzulegen sind. Denn Sanktionsmöglichkeiten bei
Nichterfüllung der Pflichten in § 31 Abs. 1 SGB II sind eng mit dem Abschluss einer
Eingliederungsvereinbarung verknüpft, teilweise ohne eine Eingliederungsvereinbarung
tatbestandlich nicht vorgesehen. Der Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung liegt
damit eher im Interesse des Grundsicherungsträgers als im Interesse des
erwerbsfähigen Hilfebedürftigen.“
Ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Absenkungsbescheids vom 24.09.2010
bestehen auch deshalb, weil er ausschließlich auf die verspätete Einreichung von
Nachweisen gestützt wurde. Es erscheint fraglich, ob sich hieraus eine Absenkung nach §
31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b) SGB II ergeben kann.
Zwar kann der Norm selbst nicht entnommen, welche Pflichten in einer
Eingliederungsvereinbarung Grundlage einer Absenkung sein können. Jedoch wird bei der
Anwendung von § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b) SGB II der Sinn und Zweck von
Eingliederungsvereinbarungen zu berücksichtigen sein. Diese dienen – wie das SGB II
insgesamt – der Eingliederung des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in Arbeit (siehe § 1
SGB II). Zulässig dürften daher nur solche Vereinbarungen sein, die zumindest auch
diesen Zweck verfolgen. Bezüglich des Erfordernisses, Bewerbungsbemühungen in
bestimmter Anzahl für einen bestimmten Zeitraum vorzunehmen, ist der Zweck der
Eingliederung in Arbeit ohne weiteres ersichtlich. Bezüglich des Erfordernisses,
Nachweise hierüber bis zu einem bestimmten Zeitpunkt vorzulegen, ist dies nicht der
Fall. Zwar wird man dem Leistungsträger nicht verwehren dürfen, Nachweise über die
verlangten Bewerbungsbemühungen anzufordern und dies als Regelung in eine
Eingliederungsvereinbarung aufzunehmen. Nicht zulässig dürfte jedoch sein, dazu
bindende Fristen oder Stichtage zu setzen, bei denen bereits eine geringfügige
Überschreitung zu einer Absenkung der Regelleistung führt. Es ist für die Kammer nicht
ersichtlich, dass gerade der Nachweis von Bewerbungsbemühungen zu einem
bestimmten Tag der Eingliederung in Arbeit dient. Diese dürfte auch durch die
„verspätete“ Einreichung nicht gefährdet sein. Dies gilt umso mehr, wenn der
erwerbsfähige Hilfebedürftige die verlangten Nachweise kurze Zeit später nachreicht und
damit seiner Verpflichtung zur Vorlage von Bewerbungsbemühungen noch zeitnah
nachkommt (und – wie hier von der Antragsstellerin angegeben – sogar
Bewerbungsgespräche und Probearbeiten durchführt). Dabei ist zu berücksichtigen, dass
die Regelungen über die Absenkung des Arbeitslosengelds II nicht primär dazu dienen,
den Willen von Leistungsträgern sanktionsbewehrt durchzusetzen. Vielmehr stellen sie
das „Fordern“ im „Fördern und Fordern“-Konzept des SGB II dar und sollen die
Motivation des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft
fördern. Vorliegend dürfte auch der Grundgedanke des § 67 Sozialgesetzbuch Erstes
Buch – SGB I – zu beachten sein, wonach bei einer Nachholung einer unterlassenen
Mitwirkungshandlung Sozialleistungen nachträglich ganz oder teilweise erbracht werden
können.
Die Kammer weist im Übrigen darauf hin, dass auch die im Eingliederungsbescheid
enthaltene Pflicht, monatlich zehn Bewerbungen nachzuweisen, Bedenken unterliegt. Da
der Antragsgegner die Sanktion hierauf jedoch nicht gestützt hat (und dies auch in der
Vergangenheit nicht getan hat, obwohl die Antragsstellerin bisher – soweit ersichtlich – in
keinem Monat die erforderlichen zehn Bewerbungen nachgewiesen hat), kann dies offen
bleiben.
Der Antragsgegner kann für die Absenkung des Arbeitslosengeldes II auch nicht einen
anderen Sanktionstatbestand heranziehen. Insbesondere ist der im
Absenkungsbescheid vom 24.09.2010 genannte § 31 Abs. 4 Nr. 3 b) SGB II vorliegend
nicht einschlägig. Gemäß der Rechtsprechung des BSG, der sich die Kammer anschließt,
ist § 31 Abs. 4 Nr. 3 b) SGB II nur anwendbar, wenn das dem erwerbsfähigen
Hilfebedürftigen abverlangte Verhalten nicht bereits in § 31 Abs. 1 SGB II geregelt ist und
eine Beziehung des Hilfebedürftigen zum Rechtskreis des Sozialgesetzbuch Drittes Buch
– SGB III – vorliegt (siehe BSG, Urteil v. 17.12.2009 - B 4 AS 20/09 R). Letzteres ist bei
der Antragsstellerin nicht erkennbar.
Ob die dem Eingliederungsbescheid vom 16.04.2010 beigefügte Rechtsfolgenbelehrung
ausreichend bestimmt, konkret und verständlich war (siehe hierzu BSG, Urteil v.
10.12.2009 – B 4 AS 30/09 R), um Grundlage einer Absenkung sein zu können, kann
vorliegend dahin stehen.
Im Hinblick auf die besondere Bedeutung der Regelleistung zur Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. auch BVerfG, Beschluss v. 12.05.2005 - BvR
569/05) kann der Antragsstellerin das Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache
nicht zugemutet werden. Daher war neben der Anordnung der aufschiebenden Wirkung
28
nicht zugemutet werden. Daher war neben der Anordnung der aufschiebenden Wirkung
des Widerspruchs auch die Aufhebung der bereits erfolgten Vollziehung anzuordnen. Der
Antragsgegner hat daher die Beträge auszuzahlen, um die die Regelleistung der
Antragsstellerin mit dem angefochtenen Bescheid vom 24.09.2010 in den Monaten
Oktober 2010 und November 2010 abgesenkt wurde.
Die Kostenentscheidung ergeht analog § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis des
Verfahrens.
Datenschutzerklärung Kontakt Impressum