Urteil des SozG Neubrandenburg vom 11.09.2008

SozG Neubrandenburg: BVerfG 1 BvL 9/08 -, vergleich, vorsorge, rente, reform, versicherungsschutz, bemessungsgrundlage, verfahrensgegenstand, gleichheit

Sozialgericht Neubrandenburg
Beschluss vom 11.09.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Neubrandenburg S 4 RA 152/03
1. Das Verfahren wird ausgesetzt.
2. Der Rechtsstreit wird gemäß Art. 100 GG dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt, um zu prüfen, ob § 70 Abs 2
Satz 2 SGB VI in der Fassung des Gesetzes vom 16.12.1997 gegen das Grundgesetz verstößt.
- BVerfG 1 BvL 9/08 -
Gründe:
I.
Die Parteien streiten um die Höhe des der Klägerin zustehenden Altersrentenanspruchs, konkret um die Bewertung
von Kindererziehungszeiten bei gleichzeitgen Pflichtbeitragszeiten wegen abhängiger Beschäftigung.
Die im Februar 1938 geborene Klägerin bezieht auf ihren Antrag vom 26.11.2002 aufgrund Bescheides der Beklagten
vom 9. Januar 2003 seit dem 1. März 2003 eine Regelaltersrente der gesetzlichen Rentenversicherung. Der
Rentenzahlbetrag betrug anfänglich 1.436,26 EUR (Monatsrente in Höhe von 1.592,22 EUR abzüglich Beiträge zur
Kranken- und Pflegeversicherung). Der Rentenberechnung hat die Beklagte 70,1420 persönliche Entgeltpunkte (Ost)
zugrundegelegt.
Im Versicherungsverlauf der Klägerin hat die Beklagte für die Erziehung der beiden Söhne der Klägerin, J, geboren am
28.03.1970, und R, geboren am 09.01.1972, gemäß § 249 SGB VI die der Klägerin zugeordneten
Kindererziehungszeiten im Sinne von § 56 SGB VI jeweils für die zwölf Monate nach Ablauf des Monats der Geburt
berücksichtigt (April 1970 bis März 1971 und Februar 1972 bis Januar 1973).
Bei der Ermittlung der persönlichen Entgeltpunkte der Klägerin für die vorgenannten Kindererziehungszeiten hat die
Beklagte berücksichtigt, dass die Klägerin zugleich versicherungspflichtige Entgelte aus abhängiger Beschäftigung
als Ärztin (beitragspflichtige Entgelte und vom Versorgungsträger mitgeteilte Entgelte nach dem AAÜG) erzielt hat,
welche bereits zu 1,3260 persönlichen Entgeltpunkten für den Zeitraum April 1970 bis März 1971 und zu 1,2627
persönlichen Entgeltpunkten für den Zeitraum Februar 1972 bis Januar 1973 führen.
Anstelle von weiteren 0,0833 persönlichen Entgeltpunkten für jeden Monat der Kindererziehungszeiten, die sich aus
der Anwendung des ersten Teils von § 70 Abs 2 Satz 2 SGB VI ergeben hätten, wurden die persönlichen
Entgeltpunkte gemäß § 70 Abs 2 Satz 2 SGB VI i.V.m. den sich aus der Anlage 2b zum SGB VI ergebenden
Höchstwerten (Jahres-Höchstwert für 1970: 1,6188; für 1971: 1,5270; für 1972: 1,5427 und für 1973: 1,5086) begrenzt.
Diese Begrenzung wirkte sich in den Zeiträumen Juni 1970 bis März 1971 und März 1972 bis Januar 1973 (mithin in
21 Monaten) derart aus, dass anstelle von möglichen 1,7493 persönlichen Entgeltpunkten für Kindererziehungszeiten
lediglich 0,1847 persönliche Entgeltpunkte berücksichtigt wurden. In den Monaten Juli bis Dezember 1970 wurden
effektiv keine persönlichen Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten berücksichtigt, da im Versicherungskonto bereits
für Entgeltpunkte aus Pflichtbeiträgen aus abhängiger Beschäftigung der (monatliche) Höchstwert der Anlage 2b des
SGB VI ausgeschöpft war. Für die Monate April und Mai 1970 sowie Februar 1972, für welche mangels Entgelt aus
Beschäftigung keine Entgeltpunkte für andere Beitragszeiten gespeichert sind, wurden die Kindererziehungszeiten
hingegen voll mit monatlich 0,0833 persönlichen Entgeltpunkten berücksichtigt.
Durch die Begrenzungsregelung sind der Klägerin im Ergebnis 1,5646 persönliche Entgeltpunkte "entgangen". Ihre
Kindererziehungszeiten wurden im Ergebnis mit lediglich 0,4346 statt mit 1,9992 persönlichen Entgeltpunkten (Ost)
berücksichtigt. Wegen der weiteren Einzelheiten der Entgeltpunkt-Ermittlung wird auf Blatt 29 Rückseite und 30 der
Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Mit ihrem am 3. Februar 2003 gegen den Rentenbescheid erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, die
gewährte Rente entspreche ihrer Lebensleistung nicht hinreichend, zumal sie während ihrer beruflichen Tätigkeit als
Ärztin auch noch zwei Kinder großgezogen habe. Sie rügt eine Ungleichbehandlung im Vergleich zu einer kinderlosen
Ärztin. Gegen den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 30. April 2003, welchen die Beklagte dahingehend
begründete, dass bei der Rentenberechnung alle nachgewiesenen und unwidersprochenen rentenrechtlichen Zeiten
entsprechend den gesetzlichen Vorschriften berücksichtigt worden seien, hat die Klägerin am 19. Mai 2003 die
vorliegende Klage erhoben, mit welcher sie ihr Anliegen weiterverfolgt.
Nachfolgende Änderungsbescheide, die gemäß § 96 SGG Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens geworden sind,
berühren aufgrund Änderung des aktuellen Rentenwertes bzw. des Beitragssatzes zur Krankenversicherung lediglich
den Rentenzahlbetrag, nicht jedoch die persönlichen Entgeltpunkte.
Die Klägerin beantragt:
Der Bescheid der Beklagten vom 09.01.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.04.2003 sowie der
Änderungsbescheid vom 13.05.2004 werden dahingehend abgeändert, dass bei der Rentenberechnung
Kindererziehungszeiten für die Erziehung des am 28.03.1970 geborenen Sohnes J und des am 09.01.1972 geborenen
Sohnes R ohne Beachtung der Begrenzungsregelung des § 70 Abs 2 Satz 2 SGB VI berücksichtigt werden.
Die Beklagte beantragt:
Die Klage wird abgewiesen.
Sie beruft sich auf die zutreffende Anwendung der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften.
II.
Die Kammer setzt das Verfahren gem. Art. 100 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) aus und legt dem
Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vor, ob § 70 Abs 2 Satz 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch -
Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) mit Art 3 Abs 1 GG vereinbar ist.
Die Entscheidung der Beklagten beruht hinsichtlich der Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten auf § 70 Abs 2
Satz 2 SGB VI in der Fassung des Art 1 des Gesetzes zur Reform der Gesetzlichen Rentenversicherung
(Rentenreformgesetz 1999) vom 16. Dezember 1997, BGBl. I 2998 (3003).
Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift hat die Beklagte zutreffend die Entgeltpunkte für Pflichtbeiträge aus abhängiger
Beschäftigung nur so weit erhöht, bis die Höchstwerte der Anlage 2b zum SGB VI erreicht wurden, was zu der oben
dargelegten Begrenzung der an sich möglichen insgesamt 1,9992 Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten auf
0,4346 Entgeltpunkte und für Teilzeiträume dazu führt, dass der Klägerin keinerlei Entgeltpunkte für
Kindererziehungszeiten bei gleichzeitiger Beschäftigung angerechnet werden (Juli bis Dezember 1970) bzw. nur in so
geringer Höhe, dass sie faktisch keine Wirksamkeit entfalten (0,0001 Entgeltpunkte für den Zeitraum Januar bis März
1971).
Im Hinblick auf den eindeutigen Wortlaut von § 70 Abs 2 Satz 2 SGB VI sieht die Kammer keine Möglichkeit, die
Regelung anders als in der von der Beklagten praktizierten Weise auszulegen. § 70 Abs 2 Satz 2 SGB VI in der seit
dem 1. Juli 1998 geltenden Fassung des Gesetzes zur Reform der Gesetzlichen Rentenversicherung
(Rentenreformgesetz 1999 - RRG 1999) vom 16. Dezember 1997, BGBl. I 2998 (3003) hat folgenden Wortlaut:
Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten sind auch Entgeltpunkte, die für Kindererziehungszeiten mit sonstigen
Beitragszeiten ermittelt werden, indem die Entgeltpunkte für sonstige Beitragszeiten um 0,0833 erhöht werden,
höchstens um die Entgeltpunkte bis zum Erreichen der jeweiligen Höchstwerte nach Anlage 2b.
Durch den letzten Satzteil (höchstens um die Entgeltpunkte bis zum Erreichen der jeweiligen Höchstwerte nach
Anlage 2b) verbietet sich eine Erhöhung der Entgeltpunkte für sonstige Beitragszeiten um volle 0,0833, wenn
hierdurch die Höchstwerte nach Anlage 2b überschritten werden. Neben dem Wortlaut steht der vom Gesetzgeber
ausdrücklich formulierte Wille einer Erhöhung über die Höchstwerte der durch Art 1 Nr 131 RRG 1999 eingeführten
Anlage 2b entgegen. In der Begründung zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P., BT-Drucks
13/8011 vom 24.06.1997, heißt es insoweit auf S 67:
Die Anlage stellt sicher, daß die zusätzlichen Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten auf die Zahl an
Entgeltpunkten begrenzt werden, die bei einer Beitragszahlung bis zur Beitragsbemessungsgrenze höchstens
erreichbar ist.
Es lässt sich danach festhalten, dass das Begehren der Klägerin, die Tatsache ihrer Kindererziehungsleistung bei der
Rentenberechnung in größerem Maße zu berücksichtigen, nur Erfolg haben kann, wenn die Begrenzungs-Regelung
des § 70 Abs 2 Satz 2 SGB VI i.V.m. Anlage 2b zum SGB VI verfassungswidrig und deshalb nicht anzuwenden ist.
Ohne die Annahme der Verfassungswidrigkeit wäre die ansonsten zulässige Klage mangels Begründetheit
abzuweisen, zumal abgesehen von dem hier problematisierten Zusammentreffen von Kindererziehungszeiten mit
Pflichtbeiträgen aus Beschäftigung Unrichtigkeiten oder "Ungerechtigkeiten" bei der Rentenberechnung weder konkret
vorgetragen noch sonst ersichtlich sind.
Die Kammer ist der Überzeugung, dass § 70 Abs 2 Satz 2 SGB VI i.V.m. Anlage 2b zum SGB VI verfassungswidrig
ist, weil die Begrenzungs-Regelung gegen Art 3 Abs 1 GG verstößt. Die zutreffenden Erwägungen, die das BVerfG in
seiner Entscheidung vom 12.03.1996, 1 BvR 609/90, 1 BvR 692/90 (BVerfGE 94, 241) angestellt hat, gelten
vollumfänglich auch für die hier anzuwendende Gesetzeslage.
Art. 3 Abs 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber zwar nicht
jede Differenzierung verwehrt. Der Gleichheitssatz will aber ausschließen, daß eine Gruppe von Normadressaten im
Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede
von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten, BVerfGE
55, 72, seither ständige Rechtsprechung. In gleicher Weise kann der Gleichheitssatz verletzt sein, wenn für die
gleiche Behandlung verschiedener Sachverhalte - bezogen auf den in Rede stehenden Sachbereich und seine
Eigenart - ein vernünftiger, einleuchtender Grund fehlt (vgl. BVerfGE 90, 226).
§ 70 Abs 2 Satz 2 SGB VI i.V.m. Anlage 2b zum SGB VI führt zu einer ungleichen Behandlung verschiedener
Personengruppen insoweit, als sich Kindererziehungszeiten nicht bei allen Versicherten gleich günstig auf die Rente
auswirken. Sie benachteiligt diejenigen Versicherten, die während des ersten Lebensjahres (bei ab 1992 geborenen
Kindern während der ersten drei Lebensjahre) ihres Kindes die Solidargemeinschaft durch die Entrichtung von
Beiträgen zur Rentenversicherung unterstützt, die auf versicherungspflichtige Entgelte entfallen, welche (abhängig
vom anzuwenden Jahreshöchstwert) in den Jahren von 1970 und 1995 oberhalb von ca. 50 % und ca. 85 % des
Durchschnittsentgelts (Bezugsgröße) liegen. Sobald ein Versicherter während der Kindererziehungszeit ein
beitragspflichtiges Entgelt erzielt, das zu Entgeltpunkten oberhalb des Wertes der Differenz aus dem jeweiligen
(monatlichen) Höchstwert und 0,0833 führt, werden seine Kindererziehungszeiten nicht mehr in gleicher Weise
berücksichtigt wie bei einem Versicherten mit geringerem oder ohne beitragspflichtigem Entgelt. Erreicht sein
Einkommen gar die aktuelle Beitragsbemessungsgrenze, findet seine Kindererziehungsleistung im Rahmen der
Rentenbemessung überhaupt keine Würdigung mehr. Hier lässt sich dann zudem eine Gleichbehandlung mit
Versicherten mit gleichem Verdienst feststellen, die daneben keine Kinder erziehen.
Der Wert der Kindererziehung für den Bestand und die Funktion des gesetzlichen Rentenversicherungssystems "wird
aber nicht dadurch geschmälert oder gar aufgehoben, daß die Erziehungsperson während der Zeit der ersten
Lebensphase des Kindes einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen ist oder nachgeht", BVerfG, E
94, 241.
Die Kindererziehung ist neben der Zahlung von Beiträgen eine der beiden unabdingbaren Säulen für das
umlagefinanzierte Rentenversicherungssystem, BVerfGE 87, 1. Ohne "nachwachsende" Beitragszahler könnte das
System auf Dauer nicht existieren. Die von den aktuellen Beitragszahlern erworbenen Rentenanwartschaften
("Vorleistungen" im Sinne der Rechtsprechung des 4. Senats des BSG) könnten nicht mehr vergolten werden. Die in
der Kindererziehung liegende Leistung eines Versicherten stellt daher im Rahmen der Gleichheitsbetrachtung einen
Faktor von erheblicher Bedeutung dar. Ihre Entwertung durch Berechnungsvorschriften bedarf nach Auffassung der
Kammer einen sachlichen Grund von erheblichem eigenen Gewicht. Sie kann nicht allein aus systemimmanenten,
quasi berechnungstechnischen Erwägungen heraus rechtfertigt werden. Der Rechtsprechung des 4. Senats des
Bundessozialgerichts (B 4 RA 46/01 R vom 7.12.2002, B 4 RA 47/02 R vom 30.01.2003 und B 4 RA 36/05 R vom
18.05.2006) vermag die Kammer daher mit Lenze, jurisPR-SozR 22/2006 Anm. 3, nicht zu folgen.
In allen drei genannten Entscheidungen begründet der 4. Senat seine Auffassung, die Höchstwertbegrenzung stelle
keine verfassungswidrige Ungleichbehandlung dar, in erster Linie damit, dass systemimmanente Zwänge dem
Gesetzgeber gar keine andere Möglichkeit ließen, ohne das Gesamtsystem der gesetzlichen Rentenversicherung zu
sprenge:
"Die gegebene Ungleichbehandlung ist in der gesetzlichen Rentenversicherung unvermeidbar und daher
gerechtfertigt."
Dabei setzt der Senat die für die Beitragsbelastung der Versicherungspflichtigen ebenso wie für beitragsabhängige
Rentenanwartschaften maßgebliche Beitragsbemessungsgrenze (§§ 157, 159, 260 SGB VI) mit den Höchstwerten der
Anlage 2b gleich.
"Der Höchstwert aus der - gebotenen - Addition der erlangten Rangstellenwerte ist wegen der (in der Anlage 2b SGB
VI ausgestellten) Maßgeblichkeit der Beitragsbemessungsgrenze stets durch Gesetz vorgegeben. ( ...) Die
Maßgeblichkeit der BBG, die in den jährlichen Höchstwerten an EP der Anl 2b zum SGB VI ausgestaltet ist, ist nicht
verfassungswidrig."
§ 70 Abs 2 Satz 2 SGB VI enthalte daher bereits "keine justiziable Norm des Außenrechts" im Verhältnis zwischen
Versicherten und Rentenversicherer sondern sei bloße Verwaltungsvorschrift, die die Maßgeblichkeit der
Beitragsbemessungsgrenze auch beim Zusammentreffen von Kindererziehungszeiten mit anderen Beitragszeiten
klarstelle. Ansprüche der Versicherten könnten daher von vornherein nur in den Grenzen der
Beitragsbemessungsgrenze be- und entstehen. Ein Verdienst oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze sei
schlechthin versicherungsrechtlich nicht relevant; er könne nach Belieben zu einer zusätzlichen Vorsorge in anderer
Form verwandt werden.
Nach Auffassung der Kammer verkennt der 4. Senat bei dieser Argumentation, dass den Höchstwerten der Anlage 2b
zwar im rechnerischen Ergebnis die gleiche Funktion wie die Beitragsbemessungsgrenze bei der Begrenzung der in
einem bestimmten Zeitrahmen maximal erzielbaren Entgeltpunkte ("Gesamt-Rangstellenwerte") zukommt, ohne
jedoch auch die Beitragsbelastung im gleichen Maße einzuschränken. Der Senat arbeitet in seiner Entscheidung
selbst die einzelnen Funktionen der Beitragsbemessungsgrenze (Belastbarkeits-, Versicherungsschutz- und
Leistungsgrenze) heraus, stellt bei der Prüfung eines möglichen Verfassunsverstoßes dann jedoch einzig auf die
Versicherungsschutz- und Leistungsgrenze ab.
Da jedoch auch bei gleichzeitigen Kindererziehungszeiten das erzielte Entgelt (bis zur Beitragsbemessungsgrenze)
der Beitragspflicht unterliegt, beschränkt sich die Wirkung der Höchstwerte der Anlage 2b auf die Leistungsseite, läßt
die Beitragsseite indes anders als die Beitragsbemessungsgrenze völlig unberührt. Es handelt sich daher keineswegs
um bloße, für das wirtschaftliche und rechtliche Ergebnis irrelevante "Rechnerei", ob die Entgeltpunkte aus
Kindererziehungszeiten zum "Sockelbetrag" erklärt und die Entgeltpunkte aus Pflichtbeiträgen aus beitragspflichtigem
Einkommen sodann (bis zur Beitragsbemessungsgrenze) hinzuaddiert werden, oder ob - wie vom Gesetz tatsächlich
angeordnet und von der Kammer zu prüfen - zu den Entgeltpunkten aus abhängiger Beschäftigung Entgeltpunkte aus
Kindererziehungszeiten (bis zu den Höchstwerten der Anlage 2b) hinzuaddiert werden. Im ersteren Falle wären die auf
das Entgelt entrichteten Pflichtbeiträge konsequenterweise als zu Unrecht entrichtet anzusehen und gemäß § 26 SGB
IV zu erstatten, soweit sie einem über der Beitragsbemessungsgrenze (unter Berücksichtigung eines
Einkommensäquivalents für die Kindererziehung in Höhe der Bezugsgröße) liegenden Einkommen entsprechen. Die
Tatsache der Kindererziehung erführe eine Kompensation durch eine Entlastung der erziehenden Versicherten auf der
Beitragsseite. Die vom Gesetzgeber hingegen gewählte Methode verweigert einerseits diese Kompensation, gewährt
andererseits aber keinerlei Vorteile auf der Leistungsseite. Richtig an der Argumentation des 4. Senats ist in diesem
Zusammenhang allein, dass die soeben erörterte, mit einer Beitragsentlastung einhergehende Gesetzeskonstellation
im Rahmen von Art 100 GG nicht entscheidungserheblich weil nicht Verfahrensgegenstand ist.
Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zur Höchswertbegrenzung nach Anlage 2b wird umso deutlicher durch die
vom 4. Senat herausgestellte Funktion der Beitragsbemessungsgrenze dahingehend, dass der sie übersteigende
Einkommensteil "nach Belieben zu einer zusätzlichen Vorsorge in anderer Form verwandt werden" könne. Es
erschließt sich der Kammer daher in keiner Weise, aus welchen Gründen der Senat der Tatsache keine
verfassungsrechtliche Bedeutung zumessen möchte, dass den von § 70 Abs 2 Satz 2 SGB VI i.V.m. Anlage 2b zum
SGB VI betroffenen Versicherten, deren Einkommen voll verbeitragt wurde, diese anderweitige Verwendung für eine
zusätzliche Vorsorge gerade nicht offensteht.
Nicht nur aus diesem Grund ist es keineswegs richtig, dass § 70 Abs 2 Satz 2 SGB VI eine lediglich klarstellende
Funktion hätte. Ohne die hier ausdrücklich normierte Begrenzung könnten die weiteren Vorschriften des SGB VI, die
die Beitragsbemessungsgrenze regeln, die volle Addition von Entgeltpunkten aus Beiträgen und Entgeltpunkten
wegen Kindererziehungszeiten keineswegs beschränken. Jene Vorschriften beziehen sich von vornherein
ausschließlich auf die für die Beitragsentrichtung maßgebliche Bemessungsgrundlage (§§ 157, 159, 161, 163 ff, 181 f,
209 SGB VI).
Gegenstand der verfassungsrechtlichen Prüfung ist daher die konkrete Begrenzungsvorschrift des § 70 Abs 2 Satz 2
SGB VI i.V.m. der Anlage 2b, nicht etwa ein abstraktes Grundprinzip der gesetzlichen Rentenversicherung, welches
die Zuordnung von (jeglichen) Entgeltpunkten zu einem konkreten Versicherungszeitraum oberhalb einer der
Beitragsbemessungsgrenze entsprechenden Grenze generell ausschlösse. Es kann daher dahinstehen, ob die
ausnahmslose Anwendung der Beitragsbemessungsgrenze, wie der 4. Senat unter Hinweis auf BVerfGE 100,1 (1 BvL
32/95, 1 BvR 2105/95) ausführt, bereits vom BVerfG als sachlicher Grund für (jegliche) Ungleichbehandlung anerkannt
worden ist, oder ob dies vielmehr nur im Zusammenhang mit der Überführung von Ansprüchen und Anwartschaften
aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der DDR in die bundesdeutsche gesetzliche Rentenversicherung und
unter Berücksichtigung der zugleich gewährleisteten Zahlbetragsgarantie des Einigungsvertrages gilt.
Auch die weitere Argumentation des 4. Senats, die Beitragsbemessungsgrenze ermögliche überhaupt erst Gleichheit
vor dem Gesetz, ist hiernach für die verfassungsrechtliche Beurteilung von § 70 Abs 2 Satz 2 SGB VI ohne
Bedeutung, sei sie in anderen Anwendungsbereichen zutreffend oder nicht. Ebensowenig kann nach dem o.g. der
Auffassung gefolgt werden, § 70 Abs 2 Satz 2 SGB VI sei bloßes, nicht justiziables Binnenrecht. Erst diese Norm
verhindert die ansonsten mögliche und von Verfassungs wegen gebotene volle Addition der Entgeltpunkte.
Einen verfassungswidrigen Gleichheitsverstoß hat allerdings auch der 13. Senat des BSG in seiner Entscheidung B
13 RJ 22/05 R vom 12.12.2006 verneint. Anders als der 4 Senat begründet der 13. Senat seine Entscheidung nicht in
erster Linie damit, die in der Höchstwertbegrenzung liegende Ungleichbehandlung sei im Rahmen der gesetzlichen
Rentenversicherung unvermeidbar und damit gerechtfertigt, auch wenn diese Argumentation im Rahmen der Prüfung
eines Verstoßes gegen Art 14 GG anklingt. Vielmehr argumentiert der 13. Senat dahingehend, dass die geltende
Regelung zum einen eine bedeutende Verbesserung im Vergleich zur vorangegangenen (vom BVerfG verworfenen)
darstelle, womit sie sachgerecht sei, zum anderen damit, dass sich der Gesetzgeber damit habe begnügen können,
"die Betroffenen in dem Maße zu begünstigen, wie sie nicht bereits zuvor aus eigenen Kräften (sei es mit freiwilligen
Beiträgen oder mit Pflichtbeiträgen aufgrund Beschäftigung) die Beitragsbemessungsgrenze ausgeschöpft hatten."
Von der in seinem Urteil zur Pflegeversicherung (BVerfGE 103, 242, 1 BvR 1629/94 vom 03.04.2001) aufgestellten
Forderung nach der Berücksichtigung des "generativen Beitrags" der Kindererziehung auch in den anderen Zweigen
des Sozialversicherungssystems sei das BVerfG wieder abgerückt, was durch Verweis auf BVerfGE 109, 96 (1 BvR
558/99 vom 09.12.2003) begründet wird.
Auch dieser Argumentation vermag die Kammer nicht zu folgen.
Zunächst ist es für die Frage der Rechtfertigung der Ungleichbehandlung durch die aktuelle gesetzliche Regelung
ohne Bedeutung, ob eine nicht mehr anwendbare gesetzliche Regelung für eine noch größere Versichertengruppe zu
verfassungswidrig ungleichen Ergebnissen geführt hat. Auch kann aus der Tatsache einer Verbesserung nicht auf die
Sachgerechtheit des Ergebnisses geschlossen werden. Schließlich ist nach den wiederholten und zutreffenden
Ausführungen des BVerfG die Begründung für das Gebot der rentenrechtlichen Berücksichtigung von
Kindererziehungszeiten nicht in "sozialfürsorgerischen" Erwägungen zu suchen, wie sie in der Entscheidung des 13.
Senats als (nicht ausreichend) anklingen. Vielmehr ist es die "bestandssichernde Bedeutung der Erziehungsleistung"
für das umlagefinanzierte Rentenversicherungssystem, die "die Bewertung von Kindererziehungszeiten grundsätzlich
unabhängig vom persönlichen Versicherungsverlauf des Erziehenden" rechtfertigt (BVerfG vom 09.01.2006, 1 BvR
756/96) und nach Auffassung der Kammer verfassungsrechtlich gebietet. Im Übrigen kann eine fehlende
"sozialfürsorgerische" Notwendigkeit der Bewertung von Kindererziehungszeiten mit dem Durchschnittseinkommen im
Falle der Einführung einer solchen Bewertung nicht deren gleichheitswidrige Ausgestaltung rechtfertigen.
Das Vorliegen eines Sicherungsdefizits ist jedoch nach der Rechtsprechung des BVerfG gerade nicht der
gesetzgeberische Grund für die Einführung der Kindererziehungszeiten, in welcher näheren Ausgestaltung auch
immer. Die von der Kammer geteilte Auffassung des BVerfG kommt - ohne dass ein Abrücken in der späteren
Rechtsprechung erkennbar ist - in der bereits zitierten Entscheidung aus 1996 (BVerfGE 94, 241) klar zum Ausdruck:
"Der Gesetzgeber hat ( ...) nicht hinreichend berücksichtigt, daß der in der Kindererziehung liegende Wert für die
Allgemeinheit und für die Rentenversicherung nicht davon abhängt, ob der erziehende Elternteil auf eine
entsprechende Bewertung seiner Kindererziehungszeit angewiesen ist oder in dieser Zeit auf Seiten der
Erziehungsperson ein Sicherungsdefizit bestimmten Umfangs wegen der Entrichtung eigener Beiträge nicht vorliegt.
Der Wert der Kindererziehung für die Rentenversicherung wird nicht dadurch geschmälert oder gar aufgehoben, daß
die Erziehungsperson während der Zeit der ersten Lebensphase des Kindes einer versicherungspflichtigen
Beschäftigung nachgegangen ist oder nachgeht."
Noch im Nichtannahmebeschluss vom 09.01.2006, 1 BvR 756/96, heißt es in aller Klarheit:
"Der in der Kindererziehung liegende Wert für die Allgemeinheit und für die Rentenversicherung hängt nicht davon ab,
in welchem Umfang auf Seiten der Erziehungsperson ein Sicherungsdefizit eingetreten ist".
Eine Änderung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist - für die allgemeine Rentenversicherung - demnach
keineswegs erkennbar. Die vom 13. Senat des BSG herangezogene Entscheidung zur landwirtschaftlichen
Alterssicherung (BVerfGE 109, 96) stellt gerade keine Abkehr von dieser Rechtsprechung dar, was daran deutlich
wird, dass das BVerfG ausdrücklich auf die Besonderheiten der landwirtschaftlichen Alterssicherung abstellt. Im
Rahmen der Prüfung von Art 3 GG verweist das BVerfG vorrangig auf die im Vergleich zur Pflegeversicherung (und
zur gesetzlichen Rentenversicherung) bereits fehlende "Mindestgeschlossenheit des Systems". Wegen der
zurückgehenden Versichertenzahlen sei die Kindererziehung kein konstitutives Element für die bereits heute
weitgehend steuerfinanzierte landwirtschaftliche Alterssicherung. Weil zudem Zeiten der Kindererziehung dem
Ehegatten des Landwirts Zugang zur gesetzlichen Rente verschafften und überdies auch im Rahmen der
landwirtschaftlichen Alterssicherung auf die Wartezeit angerechnet würden, bleibe die Erziehungsleistung des
Landwirtsehegatten bei dessen Alterssicherung im Egebnis nicht unberücksichtigt; seltene Ausnahmefälle seien im
Rahmen einer generalisierenden Regelung hinzunehmen.
Im Ergebnis vermag die Kammer als einzigen Grund für die auch von den beiden Senaten des BSG festgestellte
Ungleichbehandlung die Anwendung der Beitragsbemessungsgrenze auch auf die hier streitigen Fälle des vom
Gesetzgeber grundsätzlich additiv ausgestalteten Zusammentreffens von Entgeltpunkten aus sonstigen
Beitragszeiten und aus Kindererziehungszeiten zu erkennen, kann diesem Grund jedoch kein solches Gewicht
beimessen, dass er die Ungleichbehandlung im Lichte von Art 3 Abs 1 GG rechtfertigen würde. Ohne die in § 70 Abs
2 Satz 2 SGB VI angeordnete Begrenzung auf die Höchstwerte der Anlage 2b zum SGB VI bedürfte es zur vollen
(additiven) Berücksichtigung beider Arten von Entgeltpunkten lediglich einer EDV-technischen Umsetzung im Rahmen
der Berechnungsprogramme der Rentenversicherer. Dass hiermit quasi ein Einfallstor für eine generelle Aufweichung
der Beitragsbemessungsgrenze für weitere Fallgruppen des Zusammentreffens unterschiedlicher rentenrechtlicher
Zeiten geöffnett würde, womit das System der gesetzlichen Rentenversicherung insgesamt drohte, gesprengt zu
werden, ist nicht ersichtlich. Neben den durch eigene Beitragsleistungen (bis zur Beitragsbemessungsgrenze)
erworbenen Anwartschaften und denjenigen aufgrund von Kindererziehungszeiten sind keine Tatbestände von renten-
und verfassungsrechtlich vergleichbarem, weil für die Rentenversicherung konstitutivem Gewicht erkennbar, die für
eine derartige Fallgruppe in Betracht kämen. Hierzu sei lediglich auf den bereits zitierten Nichtannahmebeschluss des
BVerfG bezüglich anderweitiger beitragsfreier bzw. beitragsgeminderter Zeiten (1 BvR 756/96) verwiesen.