Urteil des SozG Münster vom 13.07.2000

SozG Münster: krankenpflege, haushalt, krankenkasse, verordnung, medikamentenabgabe, behandlung, befund, thrombose, vertragsarzt, stützkorsett

Sozialgericht Münster, S 2 KR 64/98
Datum:
13.07.2000
Gericht:
Sozialgericht Münster
Spruchkörper:
2. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 2 KR 64/98
Nachinstanz:
Landessozialgericht NRW, L 5 KR 150/00
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Der Bescheid der Beklagten vom 27.01.1998 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 08.06.1998 wird abgeändert. Die
Beklagte hat der Klägerin für die Zeit vom 01.07.1997 bis zum
30.06.1998 auch die Kosten für den 2. täglichen Einsatz häuslicher
Krankenpflege zu erstatten. Die Beklagte hat der Klägerin deren
außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin für das An- und Ausziehen
von Kompressionsstrümpfen häusliche Krankenpflegeleistungen zu gewähren hat und
deshalb verpflichtet ist, die Kosten auch für den 2. täglichen Einsatz häuslicher
Krankenpflege zu erstatten.
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Der Vertragsarzt Dr. H aus D verordnete der am 09.05.1913 geborenen Klägerin, bei der
der Zustand nach einer Wirbelkörperfraktur und einer Osteoporose besteht, zweimal
täglich fünfmal wöchentlich Behandlungspflege für das 3. und 4. Quartal 1997 sowie für
das 1. und 2. Quartal 1998. Für das 3. und 4. Quartal 1997 gab der Arzt als besondere
Anweisungen an: "Stützkorsett, Mobilisation, Blutdruckkontrolle, medizinische
Einreibungen." Für das 1. und 2. Quartal 1998 ordnete er die kontrollierte Einnahme
überwachungspflichtiger Medikamente, Blutdruckkontrollen sowie das An- und
Ausziehen von Kompressionsstrümpfen Klasse III an. Aus den Pflegeprotokollen des
von der Klägerin beauftragten Pflegedienstes ergibt sich, dass auch 1997 Stützstrümpfe
an- und ausgezogen worden sind.
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Die Klägerin, die allein in ihrem Haushalt lebt, erhält Pflegesachleistungen nach
Pflegestufe 1.
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Wegen der Blutdruckkontrollen übernahm die Beklagte Kosten für einen täglichen
Pflegeeinsatz, lehnte aber die Übernahme der Kosten für den zweiten Einsatz täglich
durch Bescheid vom 27.01.1998, der nicht mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen ist,
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ab, weil einfache Behandlungspflegemaßnahmen wie das An- und Ausziehen der
Kompressionsstrümpfe nicht die speziellen Kenntnisse einer Fachkraft eines
Pflegedienstes erforderten und deshalb nicht zum Inhalt der häuslichen Krankenpflege
gehörten.
Der am 22.05.1998 eingegangene Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid
vom 08.06.1998 zurückgewiesen.
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Mit der am 22.06.1998 bei Gericht eingegangenen Klage verfolgt die Klägerin ihren
Anspruch weiter.
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Sie hat die Leistungen des zweiten täglichen Einsatzes der Krankenpflege in Anspruch
genommen und verlangt nunmehr Kostenerstattung dafür. Nach ihrer Meinung gehören
nicht nur die Medikamentenabgabe und die tägliche Blutdruckkontrolle, sondern auch
das An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe zu den Leistungen der
Behandlungspflege, weil es sich um medizinische Hilfsleistungen handele.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 27.01.1998 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 08.06.1998 zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 01.07.1997
bis zum 30.06.1998 auch die Kosten für den zweiten täglichen Einsatz der häuslichen
Krankenpflege zu erstatten.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Da die Klägerin Leistungen der Pflegeversicherung erhalte, sei das An- und Ausziehen
der Kompressionsstrümpfe der Grundpflege zuzuordnen. Pflegebedürftige Personen
hätten im allgemeinen nicht nur normale Kleidungsstücke anzuziehen, sondern häufig
auch ein Stützkorsett oder Kompressionsstrümpfe, so dass das An- und Ausziehen der
Kompressionsstrümpfe für sie zu den gewöhnlichen und wiederkehrenden
Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens gehörten, für die Leistungen gem. § 14
des 11. Sozialgesetzbuches (SGB X) gewährt würden.
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Wenn der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen in den Richtlinien über die
Verordnung von häuslicher Krankenpflege vom 16.02.2000 auch festgelegt habe, dass
einmal täglich An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen zu den Leistungen
gehöre, für die Behandlungspflege zu gewähren sei, so stütze das den Klageanspruch
nicht, weil diese Richtlinien zu der hier streitigen Zeit von Juli 1997 bis Juni 1998 noch
nicht gültig gewesen seien. Im übrigen werde ein Einsatz täglich der häuslichen
Krankenpflege bezahlt. Aus der Formulierung, "jeweils einmal täglich" in den o.a.
Richtlinien sei zu schließen, dass nur die Kosten für das Anziehen von
Kompressionsstrümpfen zu übernehmen seien.
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Das Gericht hat einen Befund- und Behandlungsbericht des behandelnden Arztes Dr. H
eingeholt, der unter dem 21.09.1999 die Auffassung vertreten hat, dass für die Klägerin
einmal täglich Blutdruckkontrollen und Medikamentenabgabe und zweimal täglich
Pflegeleistungen für das An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe in der streitigen
Zeit erforderlich gewesen seien.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens und des Befundberichtes von
Dr. H wird auf den Inhalt der Schriftsätze der Parteien und des Befund- und
Behandlungsberichtes Bezug genommen. Verwiesen wird auf die Verwaltungsakte der
Beklagten, deren Inhalt, soweit er entscheidungserheblich ist, Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gewesen ist.
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Entscheidungsgründe:
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Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet.
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Die Klägerin hat für die hier streitige Zeit Anspruch auf die Übernahme der Kosten für
zwei tägliche Behandlungspflegeeinsätze gehabt. Da die Beklagte nur die Kosten für
einen Einsatz übernommen hat und die Klägerin den zweiten Einsatz selbst finanziert
hat, hat sie nunmehr insoweit einen Kostenerstattungsanspruch gegen die Beklagte.
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Nach § 37 Abs. 2 des Fünften Sozialgesetzbuches (SGB V) erhalten Versicherte in
ihrem Haushalt oder ihrer Familie als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege,
wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist.
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Wie sich aus § 13 Abs. 2SGB XI ergibt, bleiben die Leistungen der häuslichen
Krankenpflege nach § 37 SGB V von den Vorschriften des SGB XI unberührt, so dass
sich auch nicht allein deshalb, weil die Klägerin Leistungen nach der
Pflegeversicherung bezieht, ihr Anspruch auf Behandlungspflegeleistungen verneinen
lässt.
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Die Voraussetzungen des § 37 Abs. 2 SGB V sind erfüllt.
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Die Klägerin lebt in ihrem eigenen Haushalt.
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Dr. H hat für sie u. a. Blutdruckmessungen und die Medikamentenabgabe und das An-
und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen verordnet.
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Bei diesen Leistungen handelt es sich um Leistungen der Behandlungspflege. Während
die Grundpflege i.S. von § 37 Abs. 1 S. 2 SGB V pflegerische Leistungen nicht
medizinischer Art umfasst, gehören zur Behandlungspflege medizinische
Hilfsleistungen (vgl. BSGE 50, 71, 73 und Höfler in Kasseler Kommentar, § 37 Rdnr. 23
und Krauskopf § 37 Rdnr. 7), bei denen der medizinisch geprägte Heil- und
Behandlungszweck im Vordergrund steht.
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Anders als die Beklagte es sieht, hält das Gericht das An- und Ausziehen von
Kompressionsstrümpfen nicht für eine Leistung der Grundpflege im Sinne von § 14 SGB
XI, wenn dort auch das An- und Ausziehen erwähnt ist. Das An- und Ausziehen von
Kompressionsstrümpfen gehört eben nicht zum An- und Ausziehen normaler Kleidung,
weil Kompressionsstrümpfe keine normalen Strümpfe sind. Sie werden von Gesunden
nicht getragen, sondern nur aufgrund ärztlicher Verordnung, wenn die Gefahr einer
Thrombose besteht, z. B. bei Krankenhausbehandlung. Die Kompressionsstrümpfe
werden von den Krankenkassen als Hilfsmittel i. S. von § 33 SGB V gewährt.
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Das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen mag keine Fachkunde einer
Pflegeperson erfordern. Es ist der Klägerin nach der Einschätzung ihres Hausarztes
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wegen der damit verbundenen Kraftanstrengung aber nicht möglich.
Kompressionsstrümpfe werden verordnet, um das Ziel der ärztlichen Behandlung, dass
nämlich keine Thrombose eintritt, zu gewährleisten, so dass es sich dabei um
medizinische Hilfsleistungen handelt. Das wird zur Überzeugung des Gerichtes auch
bestätigt durch die Einschätzung, die in den Richtlinien des Bundesausschusses der
Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von "häuslicher Krankenpflege" nach §
92 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 und 7 SGB V vom 16.02.2000 (Bundesanzeiger Nr. 91 vom
13.05.2000) getroffen worden ist. Darin ist unter Nr. 31 des Verzeichnisses
verordnungsfähiger Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege das An- und Ausziehen
von Kompressionsstrümpfen jeweils einmal täglich nämlich als Teil der
Behandlungspflege genannt. Zwar galt diese Richtlinie in dem hier streitigen Zeitraum
von Juli 1997 bis Juni 1998 noch nicht. Es ist aber kein Grund dafür ersichtlich,
inwieweit sich inzwischen eine Änderung ergeben haben sollte, so dass die nunmehr
von dem Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen vorgenommene
Einschätzung nach Überzeugung des Gerichtes auch bereits für die Jahre 1997 und
1998 Gültigkeit hat.
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Wenn in den Richtlinien das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen jeweils
einmal täglich der Behandlungspflege zugeordnet wird, so kann das nur so verstanden
werden, dass einmal täglich das Anziehen und einmal täglich das Ausziehen als
Behandlungspflege zu gewähren ist. Da dies nicht in einem Einsatz erfolgt, sondern die
Strümpfe morgens angezogen und abends ausgezogen werden müssen, ist dann
zweimal der Einsatz häuslicher Krankenpflege von der Krankenkasse zu bezahlen,
wenn dieses An- und Ausziehen erforderlich ist.
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An die Einschätzung des behandelnden Arztes, dass das An- und Ausziehen der
Kompressionsstrümpfe bei der Klägerin durch eine Pflegeperson erforderlich ist, ist die
Krankenkasse gebunden, denn die Verordnung des Vertragsarztes entfaltet
Schutzwirkungen zugunsten des Versicherten wegen der besonderen Pflichtenbindung
zwischen dem verordnenden Vertragsarzt und der Krankenkasse.
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Das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen ist eine medizinische Hilfsleistung,
auch wenn sie auch von Nichtfachkräften erbracht werden kann. Darauf kann es bei der
Behandlungspflege nicht ankommen (vgl. BSG vom 30.03.2000 - B 3 KR 23/99 R).
Ansonsten wäre § 37 Abs. 3 SGB V, wonach Behandlungspflegekosten nicht zu
übernehmen sind, wenn eine im Haushalt lebende Person diese Hilfsleistungen
gewähren kann, nicht nachzuvollziehen, denn im Haushalt lebende Personen werden in
aller Regel keine pflegerische Ausbildung haben.
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Da keine andere im Haushalt lebende Person diese Pflegeleistungen für die Klägerin
erbringen konnte, war es notwendig, dass die Behandlungspflegeleistungen gewährt
wurden.
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Nach alledem hätte die Beklagte der Klägerin für die hier streitige Zeit zweimal täglich
Behandlungspflege zu gewähren gehabt.
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Da sie die Kostenübernahme für den zweiten täglichen Einsatz in der angefochtenen
Entscheidung zu Unrecht abgelehnt hat, durfte sich die Klägerin die Leistung selbst
beschaffen und kann nunmehr Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 SGB V verlangen.
Danach hat die Krankenkasse, wenn sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und
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dadurch den Versicherten für die selbstverschaffte Leistung Kosten entstanden sind,
diese in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
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