Urteil des SozG München vom 10.07.2008

SozG München: eltern, familie, geburt, erwerbstätigkeit, mutterschaft, zuschuss, bedürftigkeit, bilanz, einkünfte, zahl

Sozialgericht München
Urteil vom 10.07.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 30 EG 117/07
Bayerisches Landessozialgericht L 9 EG 55/08
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 16.07.2007 in der Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 13.11.2007 wird
abgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Elterngeldes. Die 1971 geborene Klägerin beantragte am
08.06.2007 beim Beklagten die Zahlung von Elterngeld wegen Erziehung ihres 2007 geborenen Sohnes L. J. für
dessen Lebensmonate 1 bis 12. Drei ältere Kinder der Klägerin sind geboren am 1999, am 2001 und am 2004. Mit
Bescheid vom 16.07.2007 bewilligte der beklagte Freistaat das beantragte Elterngeld. Für den Zeitraum vom Mai 2007
bis Mai 2008 wurde außerhalb der Phase des Bezuges eines anrechnungspflichtigen Mutterschaftsgeldes monatlich
ein Zahlbetrag von EUR 300,00 festgesetzt. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch. Sie forderte, für die
Berechnung des Eltern-geldes nicht das Einkommen im letzten Jahr vor der Geburt ihres Sohnes heranzuziehen,
sondern das vor der Geburt ihres ersten Kindes L. 1999 erzielte Einkommen. Das Elterngeld solle jeden fördern, der
seine Arbeit für ein Kind aufgibt. Dies habe sie einmal vor gut acht Jahren und das zweite Mal vor fünf Monaten
getan. Obwohl ihr Baby das Glück habe, gleich mit drei Geschwistern aufzuwachsen, werde sie auch vom
"Geschwisterbonus" des Elterngeldgesetzes nicht begünstigt. Der Beklagte wies den Widerspruch mit
Widerspruchsbescheid vom 07.04.2008 zurück. Darin wurde ausgeführt, der maßgebliche Zwölfmonatszeitraum sei
nach § 2 Abs. 1 Satz 1 des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes (BEEG) mit den Kalendermonaten Mai 2006 bis
April 2007 festgelegt. Ohne Berücksichtigung könnten nach dem Gesetz nur Monate bleiben, in denen die Mutter
Elterngeld für ein älteres Kind oder Mutterschaftsgeld bezogen habe oder in denen ihr Einkommen wegen einer
maßgeblich auf die Schwanger-schaft zurückzuführenden Erkrankung ganz oder teilweise weggefallen sei. Die Klage
verlangt weiterhin die Berechnung des Elterngeldes auf der Basis des vor der Geburt von L. erzielten Einkommens.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16.07.2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 13.11.2007 zur Zahlung von Elterngeld in Höhe von monatlich 1800 Euro zu verurteilen
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat die Akten des Beklagten beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakte
sowie auf den gesamten Akteninhalt verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsver-fahrens form- und fristgerecht
beim zuständigen Gericht erhoben und ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage auch statthaft. Die
zulässige Klage erweist sich jedoch in der Sache als unbegründet. Der Beklagte hat wortgetreu § 2 Abs. 1 Satz 1 des
Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes (BEEG) an-gewendet, wonach das Elterngeld in Höhe von 67 Prozent des
in den zwölf Kalendermo-naten vor dem Monat der Geburt des Kindes durchschnittlich erzielten monatlichen Ein-
kommens aus Erwerbstätigkeit bis zu einem Höchstbetrag von 1800 Euro monatlich ge-zahlt wird. Unter
Berücksichtigung der Vorschrift des § 2 Abs. 2 für die Berechnung des Elterngeldes nach Bezug von keinem oder nur
geringem Einkommen hat der Beklagte des weiteren § 2 Abs. 5 angewendet, wonach Elterngeld mindestens in Höhe
von 300 Eu-ro monatlich gezahlt werde. Eine Verschiebung des für die Ermittlung der Bemessungsgrundlage des
Elterngeldes maßgeblichen Zeitraums ist im BEEG nicht vorgesehen. Die Regelung des § 2 Abs. 7 S. 6 BEEG,
wonach Teile des maßgeblichen Zwölf-Monats-Zeitraums wegen schwanger-schaftsbedingter Erkrankung ohne
Berücksichtigung bleiben können, ist für die Klägerin nicht relevant. Die Klägerin bestreitet nicht die
buchstabengetreue Anwendung der zitierten Vorschriften, hält sie aber für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und
demgemäß nichtig. Würde das Gericht zu der Überzeugung gelangen, § 2 BEEG verstoße gegen das Grundgesetz,
könnte es Elterngeld nicht unmittelbar in der verlangten Höhe zusprechen, sondern müss-te wie von der Klägerin in
der Klageschrift beantragt unter Aussetzung des Verfahrens nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG in Verbindung mit § 80
Bundesverfassungsgerichtsgesetz seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Vorschrift dem
Bundesverfas-sungsgericht vortragen und eine Entscheidung von dort einholen. Dieser Antrag aus der Klageschrift
musste in der mündlichen Verhandlung nicht speziell gestellt werden, weil das Gericht von sich aus prüfen muss, ob
es eine entscheidungserhebliche Vorschrift für verfassungswidrig hält. Das Gericht ist nicht zur Überzeugung von
einem Verstoß des § 2 BEEG gegen das Grundgesetz und insbesondere gegen das Gebot des besonderen Schutzes
der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG gelangt. Um die angegriffene Vorschrift zu bewerten, hatte das Ge-richt die
Stellung des BEEG im sozialrechtlichen Zusammenhang zu betrachten. Der Ge-setzgeber oder politisch gesprochen
wechselnde parlamentarische Mehrheiten haben das seit Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 zu beachtende
Sozialstaatsprinzip je nach Zeitumständen, Haushaltsspielräumen und wechselnden Wertvorstellungen recht unter-
schiedlich ausgefüllt. Die Förderung von Familien mit Kindern ist ein Beispiel für die große Breite sehr verschiedener
und dennoch jeweils grundgesetzkonformer Varianten. Die un-mittelbare Zuwendung von Geldleistungen begann in
den fünfziger Jahren zögernd mit Kindergeld in bescheidener Höhe. Zunächst blieb maßgeblich das Bild der Familie
mit dem allein verdienenden Mann und der Hausfrau, die kein Erwerbseinkommen bezieht und daher in Zeiten der
Kindererziehung keine Einbuße an Haushaltseinkommen und künftiger Rentenerwartung erleidet. Die von den
sechziger Jahren an stetig zurückgehen-den Geburtenzahlen ließen in Politik, Sozialwissenschaften und Medien das
Bewusstsein für die Notwendigkeit wachsen, mit sozialpolitischen Mitteln nicht nur Familien mit Kindern und
insbesondere kinderreiche Familien mit niedrigem Einkommen zu unterstützen, son-dern auch vorsorgend die
Bereitschaft zum "Kinderkriegen" zu fördern. Hierbei wurde die gewandelte Rollenverteilung in den Familien
thematisiert. Inzwischen waren immer mehr Frauen berufstätig und mussten im Falle ihrer Mutterschaft einen Konflikt
zwischen Be-rufstätigkeit, beruflicher Weiterentwicklung, Beitrag zum Haushaltseinkommen und Aufbau einer
eigenständigen Altersversorgung auf der einen Seite und der zeitlichen Inanspruch-nahme durch die Kindererziehung
auf der anderen Seite lösen. Ein maßgebliches Datum der Gesetzgebungsgeschichte zur Milderung dieser
Konfliktlage wurde der 01.01.1986, der mit den drei Säulen - Erziehungsgeld, - Erziehungsurlaub und - Erziehungszeit
als Beitragszeit in der Rentenversicherung die Förderung von Familien mit Kindern auf ein im historischen und
internationalen Maß-stab hohes Niveau hob. Für Eltern von Kindern, die ab 01.01.1992 geboren wurden, wur-de später
die Dauer der für die gesetzliche Rente anrechenbaren Kindererziehungszeit von einem Jahr auf drei Jahre erhöht. Die
bekannten Schwierigkeiten der Finanzpolitik führten dazu, dass das Erziehungsgeld durch Verschärfung der
Einkommensgrenzen mit Wirkung ab 01.01.2004 auf eine Unter-stützung von gering verdienenden Eltern reduziert
wurde. Die Bilanz nach beinahe zwei Jahrzehnten Erziehungszeiten, Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld war
ernüchternd: die Zahl der Geburten war nicht wie erhofft angestiegen. Junge Familien und Paare, die einen
Kinderwunsch nicht realisierten oder seine Verwirklichung auf vermeintlich bessere Zeiten verschoben, konnten eine
Vielzahl stichhaltiger Einwände gegen die Effektivität der eingeführten Regelungen erheben. Insbesondere die immer
zahlreicheren gut ausgebilde-ten und demgemäß im Arbeitsleben erfolgreichen und gut verdienenden Frauen verwie-
sen auf den steilen Abbruch ihrer Einkünfte und ihrer Karrieren im Falle einer Mutterschaft bei völlig unzureichendem
Ausgleich durch Sozialleistungen und Steuervorteile. Familien mit mehr als zwei Kindern wurden in Deutschland wie in
allen westlichen Indust-rieländern immer seltener. Der Erfolg irgendeiner Methode finanzieller Motivationssteige-rung
zur Gründung einer kinderreichen Familie war nicht nachweisbar. Die Politik musste sich auf das ohnehin schon
schwierige Ziel beschränken, wenigstens den Schritt zum ers-ten und möglichst auch zum zweiten Kind zu
erleichtern. Die seit 2005 amtierende Bundesregierung und die sie tragenden Bundestagsfraktionen entschieden sich
unter diesen Vorzeichen für einen Modellwechsel von dem inzwischen deutlich an der Bedürftigkeit orientierten
Erziehungsgeld zu einem Elterngeld, das insbe-sondere beruflich hoch qualifizierten und entsprechend hoch
verdienenden Müttern für die Zeit der mehr oder weniger ausschließlichen Betreuung ihres Kleinkindes nicht nur einen
Zuschuss, sondern einen echten Ausgleich für das entgangene Einkommen bieten soll. Die Berechnung der
Leistungen nach § 2 Abs. 1 BEEG lässt eine Orientierung am Ar-beitslosengeld nach § 129 Sozialgesetzbuch III
(SGB III) erkennen. Es liegt auf der Hand, dass das Gesetz mit der Berechnung der Leistung aus den Einkünf-ten in
den zwölf Monaten unmittelbar vor Geburt des Kindes die kontinuierlich und intensiv berufstätigen Eltern begünstigt,
während es diejenigen Eltern oder Elternteile benachtei-ligt, in deren Biografie die volle und gut bezahlte
Erwerbstätigkeit unmittelbar vor der Ge-burt des Kindes fehlt oder nur zeitweise realisiert wurde. Diese
Benachteiligung nimmt der Gesetzgeber auch hin, wenn die Erwerbstätigkeit durch unverschuldete Tatbestände wie
Krankheit oder Arbeitslosigkeit oder wie bei der Klägerin durch die überaus verdienstvolle Erziehung von älteren
Kindern beeinträchtigt wurde. Das Gericht hatte bereits über einen ähnlich gelagerten Fall zu entscheiden, in dem die
Klägerin bereits vier Kinder hat, von denen einst schwer behindert ist. Benachteiligt sind aber selbstverständlich auch
Frauen, die ihre Kinder in einem aus biologisch-medizinischer Sicht sehr günstigen noch recht ju-gendlichen
Lebensalter zur Welt bringen, mithin also so früh, dass für eine entgeltliche Erwerbstätigkeit bislang noch kaum Zeit
war. Die Abiturientin oder Studentin wird als Mut-ter vom BEEG also genauso auf dem alten Erziehungsgeld-Niveau
gelassen wie die nach dem einfacheren Schulabschluss stets arbeitslos gewesene Frau oder die Mutter, die wie die
Klägerin schon vor längerer Zeit den Schwerpunkt ihres Lebens auf Dauer vom höchst erfolgreichen Beruf in Richtung
Familie verlagert hat. Das Gericht hat in der lebhaften Diskussion über den politischen Sinn der getroffenen Re-
gelungen nicht Stellung zu beziehen und über ihre Dauerhaftigkeit im stetigen Wechsel politischer Wertvorstellungen
und Programme keine Prognose abzugeben. Es hat jedoch keine Zweifel daran, dass die Detailregelungen des BEEG
im Gesamtzusammenhang staatlicher Familienförderung, also insbesondere zusammen mit den Regelungen über
Kindergeld, Landeserziehungsgeld, Steuerfreibeträge, Anrechnung rentenrechtlicher Zei-ten und die Förderung von
Betreuungsmöglichkeiten insgesamt dem Gebot des Grundge-setzes entsprechen, Familie und Kinder zu schützen
und zu fördern. Generell ist der Hinweis erlaubt, dass das Elterngeld eine möglichst schnell auszuzahlen-de für eine
überschaubare Zeitdauer bestimmte Sozialleistung ist, bei deren Berechnung anders als etwa bei der für Jahrzehnte
bestimmten Altersrente keine allzu verästelte Diffe-renzierung nach Lebens-, Einkommens- und Bedarfslagen und
nach der jeweiligen indivi-duellen Vorgeschichte der Mütter und Väter möglich ist. Jede zusätzliche Berücksichti-gung
weiterer Tatbestände, wie sich mit den unüberschaubar vielfältigen gesundheitlichen und sozialen Situationen von
Vätern und Müttern und bereits vorhandenen Kindern der anspruchsberechtigten Eltern (und nicht zu vergessen der
Großelterngeneration!) definie-ren lassen und wie sie dem Gericht auch ständig in großer Variantenbreite vorgetragen
werden, würde wiederum zur Entdeckung weiterer schmerzlich erlebter Lücken im System führen. Jedes Sozialgesetz
muss den Konflikt zwischen Einzelfallgerechtigkeit und der Wahrung der Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems
meistern. Die Klägerin hat beim Ge-richt keinen Zweifel daran geweckt, dass der Gesetzgeber diesen Konflikt mit den
Vor-schriften über die Berechnung des Elterngeldes in verfassungskonformer Weise gelöst hat. Das Gericht hat der
Klägerin davon abgeraten, in der mündlichen Verhandlung ihren An-trag zu wiederholen, die sofortige Revision
zuzulassen. Ein solcher Antrag hätte das Ge-richt nicht Folge leisten können. Die Übergehung des
Landessozialgerichts (LSG) als zweiter Tatsacheninstanz ist nur dann sinnvoll, wenn feststeht, dass das
Bundessozialge-richt (BSG) zur Streitentscheidung ausschließlich Rechtsfragen prüfen muss, nicht aber neue
Tatsachen ermitteln muss. Diese Prognose ist vorliegend nicht möglich. Sollten in höherer Instanz Zweifel an der
Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften des BEEG auftau-chen, so könnte dabei durchaus eine weitere
Differenzierung nach den Lebensumständen von Familien verlangt werden. Einem Ermittlungsbedarf in dieser
Richtung könnte nur das LSG, nicht jedoch das BSG nachkommen. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass zur
Einlegung der Revision die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich ist, so dass die Klägerin ein Kostenrisiko
zu tragen hätte. Dies entfällt bei Einlegung der Berufung zum LSG. Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung
versucht, der Klägerin zu verdeutlichen, dass es ihr Anliegen mit großer Sympathie betrachtet, dass es aber
verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetzen nicht aufgrund politischer Wertentscheidungen die Wirksamkeit
absprechen kann. Die gerichtliche Feststellung, ein vom Bundestag be-schlossenes Gesetz sei wegen eines
Grundgesetzverstoßes nichtig, ist eine extreme Ausnahmemöglichkeit der Justiz. Die hierfür erforderliche Schwelle ist
nicht schon erreicht mit der Anerkennung eines Diskussionsbedarfs oder mit dem berechtigten Zweifel an ei-nem
Gesetz, sondern erst mit der gerichtlichen Überzeugung, dass die angegriffene Vor-schrift dem Grundgesetz
widerspricht. Der Klägerin und den in Parallelfällen bereits pro-zessierenden Eltern ist es unbenommen, die Gerichte
höherer Instanzen zu dieser Über-zeugung zu bringen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz
(SGG).