Urteil des SozG München vom 19.03.2009

SozG München: nachforderung von beiträgen, nachzahlung von beiträgen, krankenversicherung, anfang, arbeitsentgelt, meldung, offenkundig, anhörung, gutgläubigkeit, amtspflicht

Sozialgericht München
Urteil vom 19.03.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 31 R 2387/08
Bayerisches Landessozialgericht L 5 R 357/09
I. Der Bescheid vom 14.12.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.8.2008 wird aufgehoben. II. Die
Beklagte und die Beigeladene zu 2. tragen die Kosten des Rechts-streits gesamtschuldnerisch.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger für den Beigeladenen zu 1., dessen Arbeitgeber er war, Beiträge
zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung nachzu-zahlen hat.
Der Kläger betreibt ein Ingenieursbüro. Er beschäftigte vom 1.10.2001 bis zum 31.12.2005 den Beigeladenen zu 1. zu
einem monatlichen Bruttogehalt von zunächst 6.300,- DM und später, jedenfalls ab Januar 2003, von 3.339,88 EUR.
Der Kläger führte für den Beigeladenen zu 1. keine Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversiche-rung ab, da
er davon ausging, dieser sei wegen Überschreitens der Jahresarbeitsentgelt-grenze versicherungsfrei gem. § 6 Abs. 1
Nr. 1 SGB V. Der Kläger zahlte aber Zuschüsse zur privaten Krankenversicherung des Beigeladenen zu 1. in Höhe
der Hälfte der dort zu zahlenden Beiträge.
Die Beklagte führte am 21.9.2007 beim Kläger eine Betriebsprüfung gem. § 28 p SGB IV durch. Nach Anhörung mit
Schreiben vom 23.11.2007 forderte sie mit dem hier streitge-genständlichen Bescheid vom 14.12.2007 Beiträge zur
gesetzlichen Kranken- und Pfle-geversicherung für den Beigeladenen zu 1. in Höhe von 15.553,14 EUR nach. Diese
Nachforderung betraf laut Begründung des Bescheides den Zeitraum 1.8.2003 (Beginn des Prüfzeitraums) bis
31.12.2006. In der Anlage zum Bescheid waren jedoch nur die Bei-träge aus dem Zeitraum 1.8.2003 bis zum
31.12.2005 (Ende des Beschäftigungsverhält-nisses) enthalten und –zutreffend- auf 15.553,14 EUR aufsummiert.
Der Kläger erhob Widerspruch mit der Begründung, die Jahresarbeitsentgeltgrenze (JAEGr) sei in 2001 und 2002
überschritten worden. Die Anhebung der JAEGr im Jahre 2003 habe dazu geführt, dass der Beigeladene zu 1.
nunmehr krankenversicherungs-pflichtig geworden sei. Dies habe er zwar übersehen, die Beigeladene zu 2. hätte aber
erkennen müssen, dass das von ihm korrekt gemeldete Arbeitsentgelt nicht mit der Mel-dung zur Beitragsklasse 0
zusammenpasste. Sie habe gleichwohl seine Meldung nicht beanstandet.
Die Beklagte vertritt die Auffassung, dass der Kläger als Arbeitgeber verantwortlich sei für die Prüfung, ob die JAEGr
überschritten werde und die Krankenkasse als Einzugstelle lediglich eine Sichtkontrolle auf Vollständigkeit und
Lesbarkeit sowie offenbare Unrichtig-keit der Angaben des Arbeitgebers vorzunehmen habe. Sie wies den
Widerspruch mit Widerspruchbescheid vom 19.8.2008 zurück.
Der Kläger erhob rechtzeitig Klage. Seiner Meinung nach beinhaltet die Pflicht zur Sicht-kontrolle auch eine
Überprüfung, ob die angegebene Entgelthöhe mit der angegebenen Beitragsgruppe zusammenpasst. Dies sei auch
durch automatischen Abgleich jederzeit möglich. Der Kläger, der schon Beiträge zur privaten Krankenversicherung
bezuschusst habe, würde durch eine Doppelzahlung unbillig belastet, insbesondere angesichts äußerst
eingeschränkter Rückgriffsmöglichkeiten gegenüber dem Beigeladenen zu 1. Ferner sei zu berücksichtigen, dass der
Beigeladene zu 1. alle etwaigen Krankheitskosten für den zurückliegenden, abgeschlossenen Zeitraum der
Rückforderung bereits von seiner priva-ten Krankenversicherung erstattet bekommen habe und Leistungsansprüche
gegenüber der gesetzlichen Krankenversicherung für diesen Zeitraum nicht mehr entstehen könnten. Durch eine
Beitragsnachzahlung würde die Beigeladene zu 2. daher ungerechtfertigt be-reichert.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 14.12.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.8.2007 aufzuheben.
Die Beklagte und die Beigeladene zu 2. beantragen,
die Klage abzuweisen.
Nach ihrer Auffassung gibt es keinen Grundsatz, wonach eine Beitragszahlung nur dann zu erfolgen habe, wenn auch
Leistungen in Anspruch genommen werden könnten. Das Äquivalenz- und Gegenleistungsprinzip sei in der
gesetzlichen Krankenversicherung nur ansatzweise ausgestaltet. Außerdem könnten Krankengeldansprüche auch
rückwirkend geltend gemacht werden. Eine Verwirkung gem. § 242 BGB sei nicht eingetreten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die Akte und Beiakte
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist in vollem Umfang zulässig und begründet. Die Beklagte hat keinen Anspruch gegen den Kläger auf
Nachzahlung von Beiträgen zur gesetzlichen Kranken- und Pflege-versicherung. Der Bescheid vom 14.12.2007 in
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.8.2008 war daher aufzuheben.
Grundsätzlich besteht zwar Anspruch auf Nachzahlung der streitigen Beiträge aus § 28e Abs. 1 S. 1 SGB IV.
Hiernach hat der Arbeitgeber den Gesamtsozialversicherungsbeitrag zu zahlen. Die Zahlungspflicht besteht nach dem
Wortlaut des Gesetzes unabhängig da-von, ob es sich um eine laufende Zahlung oder um eine Nachforderung handelt.
Die Be-klagte ging und geht zutreffend davon aus, dass für den Beigeladenen zu 1. Versiche-rungspflicht in der
gesetzlichen Krankenversicherung gem. § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV und in der gesetzlichen Pflegeversicherung, § 20
Abs. 1 S. 1 SGB XI, bestand. Dies sogar – entgegen den Ausführungen im angefochtenen Bescheid- nicht erst seit
Erhöhung der JAEGr zum 1.1.2003, sondern von Anfang an. Der Beigeladene war im Nachforderungs-zeitraum –
ebenso wie vom Anfang seiner Beschäftigung an – nicht versicherungsfrei im Sinne von § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, da
sein regelmäßiges Arbeitsentgelt die Jahresar-beitsentgeltgrenze zu keiner Zeit überstieg. In den Jahren 2001 und
2002 betrug das mo-natliche Bruttoentgelt 6.300 DM, die Entgeltgrenze belief sich auf jährlich 78.300 DM, was einem
monatlichen Betrag von 6.525,- DM entspricht. Ab 1.1.2003 lag die Grenze bei jährlich 45.900,- EUR und monatlich
3.825,- EUR; der Beigeladene zu 2. verdiente aber in 2003 monatlich nur 3.339,88 EUR.
Gleichwohl kann der Kläger vorliegend nicht auf Nachzahlung der Beiträge in Anspruch genommen werden. Dem
Nachzahlungsanspruch stehen zwar weder ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch, noch ein etwaiger
Amtshaftungsanspruch entgegen. Weder hat der Kläger bei der Beigeladenen zu 2. um Beratung nachgesucht, noch
ist der Beigeladenen zu 2. eine Amtspflichtverletzung im Sinne von § 839 BGB vorzuwerfen. So erstreckt sich die
Überprüfungspflicht der Einzugstelle gem. § 28b Abs. 1 SGB IV nur auf die formale Richtigkeit der Meldungen (vgl.
LSG Berlin v. 14.1.2004, Az.: L 15 KR 319/01), nicht aber auf deren inhaltliche Richtigkeit.
Der Nachforderung von Beiträgen steht aber das Äquivalenzprinzip entgegen. Das Äqui-valenzprinzip prägt – entgegen
der Auffassung der Beklagten – das sozialrechtliche Ver-sicherungsverhältnis. Es ist als Instrument der
Daseinsvorsorge dadurch gekennzeichnet, dass unter den Beteiligten gegenseitige Rechte und Pflichten bestehen.
Das Äquivalenz-prinzip ist offenkundig gestört, wenn Rechtspositionen des Versicherungsträgers in Ges-talt von
Beitragsansprüchen geltend gemacht werden, ohne dass im Gegenzug das Risiko einer möglichen Gewährung von
Leistungen bestünde. Dies führt in Fällen, in denen vom Versicherten oder Beitragsschuldner nicht etwa eine
Umgehungsabsicht besteht, sondern allein auf Grund der Unkenntnis von einer bestehenden Versicherungspflicht
weder Bei-träge bezahlt, noch Leistungen in Anspruch genommen werden, dazu, dass Beitragsan-sprüche nicht mehr
geltend gemacht werden können, wenn das Risiko, das versichert werden sollte, sich nicht mehr realisieren kann (vgl.
zu allem: BSG vom 4.10.1988, Az.: 4/11a RK 2/87; hier wurde die Störung des Äquivalenzprinzips dadurch behoben,
dass dem Versicherten im Gegenzug zu den nachzuentrichtenden Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung
ein Kostenerstattungsanspruch bezüglich der von ihm im zurücklie-genden Zeitraum in Anspruch genommenen
Leistungen zugesprochen wurde.)
Der Kläger hat nach seiner glaubhaften Einlassung nicht vorsätzlich die Beiträge vorent-halten. Vielmehr war er noch
in der mündlichen Verhandlung felsenfest überzeugt, dass sein Arbeitnehmer anfangs über der JAEGr verdient habe
und nur durch die von ihm, dem Kläger, damals übersehene Anhebung der JAEGr zum 1.1.2003,
versicherungspflichtig geworden sei. Dies hatte ja auch die Beklagte in ihrem Bescheid so dargestellt. Die vom BSG
geforderte Gutgläubigkeit lag also vor.
Vorliegend kann die Störung des Äquivalenzprinzips jedoch nicht wie in dem vom BSG entschiedenen Fall behoben
werden. Denn der Kläger als Arbeitgeber kann keinerlei Kostenerstattungsansprüche gegenüber der Beigeladenen zu
2. geltend machen. Nicht er ist der Versicherte, sondern sein Arbeitnehmer, der Beigeladene zu 1. Eine Rückabwick-
lung des privaten Krankenversicherungsverhältnisses ist dem Kläger ebenso wenig mög-lich, wie das Erheben von
Ansprüchen gegenüber der gesetzlichen Krankenversicherung. Der Kläger hat rechtlich – und vorliegend auch
faktisch, denn der Beigeladene zu 1. ist nicht ermittelbar und musste durch öffentlich zugestellten Beschluss
beigeladen werden - keine Handhabe, seinen Arbeitnehmer hierzu zu veranlassen. Die Störung des Äquiva-
lenzprinzips kann hier deshalb nur dadurch behoben werden, dass die Nachforderung der Beiträge unterbleibt.
Auf das gestörte Äquivalenzprinzip kann sich der Kläger auch berufen, obwohl er nicht der Versicherte und somit
Leistungsberechtigte ist. Denn auch der Beitragsleistung des Ar-beitgebers steht als Äquivalent die Möglichkeit von
Leistungsansprüchen seines Arbeit-nehmers gegenüber. Es ist dem Kläger nicht zuzumuten, eine doppelte
Inanspruchnahme (Zuschüsse zur privaten Krankenversicherung und Beiträge zur gesetzlichen Krankenver-sicherung)
hinzunehmen. Denn dem können keinerlei Ansprüche des Arbeitnehmers mehr gegenüberstehen. Nachdem das
Arbeitsverhältnis bei Geltendmachen der Nachfor-derung bereits beendet war, handelt es sich allein um einen
zurückliegenden, abge-schlossenen Zeitraum, etwaige Leistungen wurden vom Beigeladenen zu 1. bereits in An-
spruch genommen und von der privaten Krankenversicherung erstattet (vgl. SG Aachen vom 10.1.2003, Az.: S 8 RA
94/02).
Es erscheint auch nicht unbillig, der Beklagten die Beitragsnachforderung zu verwehren. Auch wenn eine Amtspflicht
der Einzugstelle zur zumindest oberflächlichen inhaltlichen Überprüfung der Arbeitgebermeldungen nicht normiert ist,
ist doch anzumerken, dass es für die Einzugstelle ein leichtes wäre, die Prüfung der Meldungen EDV-gestützt nicht
nur auf Schreibfehler und Lesbarkeit zu beschränken, sondern in den Katalog der ebenfalls zu prüfenden offenbaren
Unrichtigkeiten auch einen groben Plausibilitätsabgleich zwischen dem in der Meldung angegebenen Entgelt und der
angegebenen Beitragsgruppe durchzu-führen. Hierdurch könnten Falschmeldungen, wie sie der Kläger vorgenommen
hat, bei Zeiten aufgedeckt und erfolglose Nachforderungen vermieden werden.
Nach allem war der Klage in vollem Unfang stattzugeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 197a SGG, 154 Abs. 1, 159 S. 2 VwGO