Urteil des SozG München vom 08.08.2007

SozG München: eugh, arbeitsmarkt, grundsatz der gleichbehandlung, zugang, gemeinschaftsrechtskonforme auslegung, vorübergehende arbeitsunfähigkeit, arbeitssuche, aufenthalt, arbeitslosigkeit

Sozialgericht München
Urteil vom 08.08.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht München S 22 AS 1304/06
I. Der Bescheid der Beklagten vom 18. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. August 2006
wird aufgehoben. II. Die Beklagte wird verurteilt, den Klägern für die Zeit vom 25. April 2006 bis zum 31. August 2006
Arbeitslosengeld II nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. III. Die Beklagte trägt die
außergerichtlichen Kosten der Kläger.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.
Die in den Jahren 1973 und 1981 geborenen Kläger sind seit 2003 verheiratet und leben seit 12.06.2005 zusammen in
einer 31 qm großen Mietwohnung in M ... Der Kläger zu 1 ist italienischer Staatsbürger und war vom 12.09.2005 bis
26.04.2006 mit kurzen Unterbrechungen in Deutschland erwerbstätig; hinsichtlich der Einzelheiten wird auf Blatt 2 der
Gerichtsakte Bezug genommen. Seine Ehefrau, die Klägerin zu 2, ist bulgarische und seit Mai 2007 auch italienische
Staatsangehörige. Sie hat in den Jahren 1999 bis 2002 neben ihrem Studium versicherungspflichtige
Teilzeittätigkeiten in der Gastronomie ausgeübt.
Am 25.04.2006 beantragten sie bei der Beklagten die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
und trugen vor, sie hätten sich beim Studium in M. kennengelernt. Im Jahre 2003, seien sie zusammen nach Italien
übergesiedelt. Im Mai 2005 habe der Kläger zu 1 dort sein Studium abgeschlossen. Da die Arbeitssuche in Italien für
beide erfolglos verlaufen sei, seien sie wieder nach M. gezogen. Trotz guter Qualifikation hätten sie bislang keine
feste Anstellung gefunden. Ihren Lebensunterhalt hätten sie bis zur Antragstellung mit diversen Jobs, finanzieller
Unterstützung der Eltern und Darlehen von Freunden bestritten. Dies sei jetzt jedoch nicht mehr möglich.
Mit Bescheid vom 18.05.2006 lehnte die Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, bei den Klägern handle es sich
um Ausländer, deren Aufenthaltsrecht in Deutschland sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe. Somit
seien sie kraft Gesetzes vom Leistungsbezug nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ausgeschlossen.
Die Kläger hätten auch nicht durch eine ausreichende Vorbeschäftigung in Deutschland Arbeitnehmerstatus erlangt.
Ihren Widerspruch gegen diese Entscheidung stützten die Kläger im wesentlichen auf das "Gleichbehandlungsgebot
im Europäischen Sozialrecht". Mit Bescheid vom 03.08.2006 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur
Begründung ergänzte sie ihre Ausführungen aus dem Ausgangsbescheid dahingehend, die Erlangung eines
Arbeitnehmerstatus nach europäischem Recht setze eine Vorbeschäftigung von mindestens zwölf Monaten voraus,
woran es im vorliegenden Fall fehle.
Hiergegen richtet sich die am 22.08.2006 beim Sozialgericht M. eingegangene Klage. Die Kläger sehen in der
Entscheidung der Beklagten einen Verstoß gegen das Recht der Europäischen Gemeinschaft. Hinsichtlich der
Einzelheiten der Klagebegründung wird auf die Klageschrift vom 20.08.2006 (Blatt 1 ff. Gerichtsakte) Bezug
genommen. In der mündlichen Verhandlung vom 08.08.2007 hat der Kläger zu 1 erklärt, er sei seit dem 01.09.2006
wieder versicherungspflichtig beschäftigt.
Die Kläger haben im Hinblick darauf ihren ursprünglichen Antrag reduziert und beantragen nunmehr,
den Bescheid der Beklagten vom 18.05.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.08.2006 aufzuheben
und die Beklagte zu verurteilen, Ihnen für die Zeit vom 25.04.2006 bis 31.08.2006 Arbeitslosengeld II nach Maßgabe
der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Der Kammer lag die Behördenakte der Beklagten (85 Blatt) bei ihrer Entscheidung vor.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Kläger haben für den (noch) streitgegenständlichen Zeitraum dem Grunde nach Anspruch auf Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts nach §§ 19 ff. SGB II.
Die Kläger gehören zum anspruchsberechtigten Personenkreis gem. § 7 Abs. 1 SGB II.
Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten (nur) erwerbsfähige Hilfebedürftige Leistungen nach §§ 19 ff. SGB II. Das
sind Personen die das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, erwerbsfähig
sind, hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben.
All dies trifft auf die Kläger zu: Sie sind älter als 15 und jünger als 65 Jahre und haben spätestens seit dem
12.06.2005 (wieder) ihren Lebensmittelpunkt und somit ihren gewöhnlichen Aufenthalt gem. § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes
Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) in Deutschland. Sie sind auch erwerbsfähig im Sinne von § 8 Abs. 1 SGB II, da bei
ihnen keine wesentlichen arbeitsrelevanten gesundheitlichen Einschränkungen bekannt sind. Gem. § 8 Abs. 2 SGB II
können Ausländer nur als erwerbsfähig in diesem Sinne angesehen werden, wenn ihnen die Aufnahme einer
Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Auch davon ist bei den Klägern im Hinblick ihren Status als
Bürger der Europäischen Union und auf ihre Vorbeschäftigungen auszugehen. Die Kläger waren im (noch)
streitgegenständlichen Zeitraum auch hilfebedürftig im Sinne von § 9 SGB II, da außerstande, ihren Lebensunterhalt
mit ihren vorhandenen Mitteln zu bestreiten.
Dem Anspruch der Kläger steht auch nicht § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II entgegen. Nach dieser Vorschrift, in ihrer ab
01.04.2006 und somit im hier streitigen Zeitraum geltenden Fassung, sind von der Leistungsberechtigung unter
anderem solche Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, sowie ihre
Familienangehörigen ausgenommen.
Im vorliegenden Fall spricht viel dafür, dass der Kläger zu 1 als Arbeitnehmer im Sinne des Europäischen
Gemeinschaftsrechts und die Klägerin zu 2 als seine Angehörige ihr Recht zum Aufenthalt in Deutschland nicht allein
aus dem Zweck der Arbeitssuche ableiten können, sondern aus diesem gemeinschaftsrechtlichen
Arbeitnehmerstatus. Aber auch dann, wenn man dies nicht annehmen wollte, wären die hier streitigen Ansprüche der
Kläger nicht aufgrund von § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossen, weil diese Vorschrift dann jedenfalls im
vorliegenden Fall europarechtskonform dahingehend auszulegen wäre, dass die Kläger als EU-Bürger von ihr nicht
erfaßt werden.
Das Verhältnis des Rechts der Europäischen Gemeinschaft zum nationalen Recht wird geprägt zum einen vom
Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts und zum anderen vom Prinzip der unmittelbaren Anwendbarkeit
der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsnormen im innerstaatlichen Bereich (Bieback in Fuchs, Europäisches
Sozialrecht, 2. Aufl. 2000, vor Art. 234 Rn. 3). Dies bedeutet, dass die nationalen Gerichte das Gemeinschaftsrecht
anzuwenden haben, nationales Recht in Übereinstimmung mit den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts
auszulegen und anzuwenden haben und, soweit eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nicht möglich ist, jede
dem Gemeinschaftsrecht entgegenstehende innerstaatliche Rechtsvorschrift außer Anwendung zu lassen haben
(aaO.).
Im Rahmen ihrer Rechtsschutzverpflichtung sind die nationalen Gerichte befugt, das Gemeinschaftsrecht in eigener
Verantwortung und richterlicher Unabhängigkeit auszulegen. Eine Vorlage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH)
gem. Art. 234 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) kommt nur dann in Betracht, wenn
sich das nationale Gericht über Fragen der Auslegung und Gültigkeit von Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts im
Unklaren befindet. Hingegen ist Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 234 EGV nicht die Prüfung
der Vereinbarkeit von nationalem Recht mit dem Recht der Europäischen Gemeinschaft.
Die Kammer neigt im vorliegenden Fall der Auffassung zu, dass die Kläger im hier streitigen Zeitraum ihr
Aufenthaltsrecht von einem europarechtlichen Arbeitnehmerstatus des Klägers zu 1 herleiten konnten, sodass ein Fall
des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II bereits nicht vorliegt (siehe dazu unten 1). Aber auch dann, wenn die Vorbeschäftigung
des Klägers zu 1 in der Zeit vom 12.09.2005 bis zum 26.04.2006 nicht ausgereicht hätte, um einen solchen
Arbeitnehmerstatus zu begründen, oder wenn der Kläger zu 1 diesen infolge des Eintritts von Arbeitslosigkeit am
26.04.2006 wieder verloren hätte, wären die Ansprüche der Kläger auf Leistungen nach §§ 19 ff. SGB II nicht gem. § 7
Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossen, weil ein solcher Anspruchsausschluss im Falle der Kläger mit den geltenden
gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben nicht vereinbar wäre (siehe dazu unten 2).
1) Für die Frage, wie ein ausländischer Unionsbürger in der Bundesrepublik Deutschland einen rechtmäßigen
Aufenthalt erlangen kann, ist grundsätzlich das im Jahre 2005 in Kraft getretene Gesetz über die allgemeine
Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügigkeitsG/EU) maßgebend. Dessen Inhalt ist allerdings unter anderem an der
sog. Unionsbürgerrichtlinie (Richtlinie 2004/38/EG vom 29.04.2004, ABIEU Nr. 1 158 vom 30.04.2004, S. 77) zu
messen; die Vereinbarkeit des FreizügigkeitsG/EU mit den Vorgaben in dieser Richtlinie wird in der Literatur in Zweifel
gezogen (siehe Strick, Ansprüche alter und neuer Unionsbürger auf Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II, in: NJW 2005,
2182, 2183).
Gem. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügigkeitsG/EU sind solche Unionsbürger gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt,
die sich als Arbeitnehmer, zur Arbeitssuche oder zur Berufsausbildung in Deutschland aufhalten wollen; nach Nr. 7
der Vorschrift besteht Freizügigkeit unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4 FreizügigkeitsG/EU auch für deren
Familienangehörige. Nach § 2 Abs. 3 Satz 1 FreizügigkeitsG/EU lässt eine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit infolge
Krankheit oder Unfalls das Recht auf Freizügigkeit (Einreise und Aufenthalt) unberührt. Dies gilt gem. § 2 Abs. 3 Satz
2 FreizügigkeitsG/EU auch für die von der zuständigen Agentur für Arbeit bestätigten Zeiten unfreiwilliger
Arbeitslosigkeit eines Arbeitnehmers. Gem. § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügigkeitsG/EU haben Familienangehörige der in §
2 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 genannten Personen das Recht auf Freizügigkeit, wenn sie bei der freizügigkeitsberechtigten
Person, deren Familienangehörige sie sind, Wohnung nehmen.
In Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG heißt es: "Vorbehaltlich ... genießt jeder Unionsbürger, der sich ... im
Hoheitsgebiet (eines Mitgliedstaats) aufhält ... die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses
Mitgliedstaats. Das Recht auf Gleichbehandlung erstreckt sich auch auf Familienangehörige, die ... das Recht auf
Aufenthalt ... genießen." Und Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG bestimmt: "Abweichend von Absatz 1 ist der
Aufnahmemitgliedstaat jedoch nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern ... und ihren
Familienangehörigen ... einen Anspruch auf Sozialhilfe ... zu gewähren."
Bei dem Begriff des "Arbeitnehmers" (gem. Art. 48 EGV a. F., heute: Art. 39 EGV) handelt es sich nach ständiger
Rechtsprechung des EuGH um einen Terminus des europäischen Gemeinschaftsrechts, der nicht eng auszulegen ist.
Er ist nach objektiven Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis in Ansehung der Rechte und Pflichten der
betreffenden (das heißt wohl: der mit diesem Begriff bezeichneten) Personen charakterisieren. Das wesentliche
Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach
dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Der bloße Umstand, dass ein
Unionsbürger eine unselbständige Tätigkeit (entspricht wohl im wesentlichen dem Rechtsbegriff der "Beschäftigung"
im deutschen Arbeits- und Sozialrecht; vgl. dazu Lüdtke in: LPK-SGB IV, 1. Aufl. 2007, § 7 Rn. 8) von nur kurzer
Dauer ausübt, führt als solcher noch nicht dazu, dass er vom Anwendungsbereich des Art. 39 EGV ausgeschlossen
wird. Ausreichend ist vielmehr, wenn er eine "tatsächliche und echte Tätigkeit" ausübt, wobei Tätigkeiten außer
Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als "völlig untergeordnet und unwesentlich"
darstellen (EuGH, Urteil vom 06.11.2003, C-413/01 "Ninni-Orasche").
Nach diesen Grundsätzen wird man dem Kläger zu 1 wohl den Arbeitnehmerstatus zubilligen müssen, da er in der Zeit
vom 12.09.2005 bis zum 26.04.2006 mit lediglich kurzen Unterbrechungen gegen Entgelt abhängig beschäftigt
gewesen ist. Nach der Rechtsprechung des EuGH (aaO.) ist eine zeitlich befristete Beschäftigung von zweieinhalb
Monaten, die ein Staatsangehöriger eines Mitgliedsstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedsstaats ausübt,
dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, geeignet, seine Arbeitnehmereigenschaft zu begründen, sofern die
ausgeübte unselbständige Tätigkeit nicht völlig untergeordnet und unwesentlich ist, das heißt, nur einen ganz geringen
Umfang hat (siehe oben). Im vorliegenden Fall gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass die vom Kläger zu 1 im oben
genannten Zeitraum ausgeübten Tätigkeiten nur einen so geringen Umfang hatten, dass sie für die Frage seiner
Eigenschaft als Arbeitnehmer als unwesentlich außer Betracht bleiben müßten.
Diese Eigenschaft hat der Kläger zu 1 wohl auch nicht aufgrund seiner anschließend eingetretenen Arbeitslosigkeit
verloren. Gem. Art. 7 Abs. 3 Richtlinie 2004/38/EG bleibt dem Unionsbürger die Erwerbstätigeneigenschaft bei im
Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit für mindestens sechs Monate erhalten, wenn
er sich dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellt. Dies hat der Kläger zu 1 nach seinen Angaben in der
mündlichen Verhandlung vom 08.08.2007 getan, indem er sich unmittelbar nach dem Eintritt der Arbeitslosigkeit
arbeitssuchend gemeldet hat. Zudem haben er und die Klägerin zu 2 sich bereits am vorletzten Tag seiner letzten
Tätigkeit bei der Beklagten als Leistungsträger nach dem SGB II gemeldet und einen Antrag auf Leistungen nach §§
19 ff. SGB II gestellt. Damit haben sie sich zugleich dem Regime des SGB II ("Fördern und Fordern") unterworfen.
2) Aber auch dann, wenn man davon ausgehen wollte, dass der Kläger zu 1 nicht als Arbeitnehmer im Sinne des
Gemeinschaftsrechts angesehen werden kann, könnte dem Anspruch der Kläger nicht die Vorschrift des § 7 Abs. 1
Satz 2 SGB II entgegen gehalten werden, da es sich bei den Leistungen nach den §§ 19 ff. SGB II um solche
handelt, die nach ihrem Sinn und Zweck den Zugang zum Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland erleichtern
sollen.
Die Rechtsprechung des EuGH unterscheidet, wie oben bereits angedeutet, zwischen Angehörigen der
Mitgliedstaaten, die im Aufnahmemitgliedstaat, in dem sie eine Beschäftigung suchen, noch kein Arbeitsverhältnis
eingegangen sind, einerseits, und denen, die dort bereits arbeiten, oder die dort gearbeitet haben, aber nicht mehr in
einem Arbeitsverhältnis stehen, gleichwohl aber als Arbeitnehmer gelten, andererseits. Für erstere, die zuwandern, um
eine Beschäftigung zu suchen, gilt der Grundsatz der Gleichbehandlung grundsätzlich nur für den Zugang zur
Beschäftigung, während letztere, die bereits Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden haben, grundsätzlich die gleichen
sozialen und steuerlichen Vergünstigungen genießen, wie die inländischen Arbeitnehmer (siehe EuGH, Urteil vom
23.03.2004, C-138/02 "Collins"). Somit scheint es auch im vorliegenden Fall entscheidend darauf anzukommen, ob
der Kläger zu 1 bereits Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden hat, ob er also, wie oben diskutiert, Arbeitnehmer im
Sinne des Gemeinschaftsrechts ist.
Der EuGH geht aber in dem zuletzt zitierten Urteil ("Collins") noch einen Schritt weiter und führt wörtlich aus:
"Angesichts der Einführung der Unionsbürgerschaft und angesichts der Auslegung, die das Recht der Unionsbürger
auf Gleichbehandlung in der Rechtsprechung erfahren hat, ist es nicht mehr möglich, vom Anwendungsbereich des
Artikels 48 Abs. 2 EG-Vertrag, der eine Ausprägung des in Artikel 6 EG-Vertrag garantierten tragenden Grundsatzes
der Gleichbehandlung ist, eine finanzielle Leistung auszunehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines
Mitgliedsstaats erleichtern soll." Um eine solche Leistung handelt es sich ausweislich dieser Entscheidung bei der
vom Staat Großbritannien gewährten Beihilfe für Arbeitssuchende, welche mit dem Jobseekers Act 1995 eingeführt
wurde. Diese wird in dem Urteil beschrieben als eine Leistung der sozialen Sicherheit, die, da sie das Arbeitslosengeld
und die Sozialhilfe ersetzt, unter anderem voraussetzt, dass eine Person, die sie beantragt, dem Arbeitsmarkt zur
Verfügung steht, dass sie aktiv nach einer Beschäftigung sucht und dass ihr Einkommen und Vermögen bestimmte
Beträge nicht überschreiten.
Durch das "Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" vom 24.12.2003 wurden mit Wirkung ab
01.01.2005 das Recht der Arbeitslosenversicherung und insbesondere das Sozialhilferecht der Bundesrepublik
Deutschland grundlegend umgestaltet. Kernstück des mit diesem Gesetz eingeführten SGB II ist die
Zusammenlegung der bis dahin im Dritten Buch Sozialgesetzbuch geregelten Arbeitslosenhilfe und der
sozialhilferechtlichen Leistung "Hilfe zum Lebensunterhalt" zum sogenannten Arbeitslosengeld II. Gem. § 1 Abs. 1
Satz 2 SGB II soll die Grundsicherung für Arbeitssuchende, einschließlich der Leistungen nach §§ 19 ff. SGB II,
erwerbsfähige Hilfebedürftige bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit unterstützen und den
Lebensunterhalt sichern, soweit sie ihn nicht auf andere Weise bestreiten können. Die erwerbsfähigen Hilfebedürftigen
und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen müssen gem. § 2 Abs. 1 SGB II alle
Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen, insbesondere aktiv an allen
Maßnahmen zu ihrer Eingliederung in Arbeit mitwirken. Voraussetzung für das Vorliegen der zentralen
Anspruchsvoraussetzung der Hilfebedürftigkeit ist gem. § 9 Abs. 1 SGB II, dass eine Person, die die genannten
Leistungen beantragt, ihren Lebensunterhalt und ihre Eingliederung in Arbeit nicht oder nicht ausreichend aus eigenen
Kräften und Mitteln, vor allem nicht durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit oder aus dem zu berücksichtigenden
Einkommen (§ 11 SGB II) oder Vermögen (§ 12 SGB II) sichern kann.
Beim Arbeitslosengeld II, um das es hier geht, handelt es sich nach alledem, wie bei der mit dem Jobseekers Act von
1995 eingeführten Beihilfe für Arbeitssuchende, deren Anspruchsvoraussetzungen mit denen für die Leistungen nach
§§ 19 ff. SGB II weitgehend übereinstimmen, um eine finanzielle Leistung, die den Zugang zum deutschen
Arbeitsmarkt erleichtern soll.
§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II in seiner ab 01.04.2006 geltenden Fassung beinhaltet eine Ungleichbehandlung von
ausländischen Unionsbürgern, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und
deutschen Staatsangehörigen in Bezug auf ihren Zugang zu den hier im Streit stehenden Leistungen nach dem SGB
II. Diese Ungleichbehandlung verstößt gegen geltendes Gemeinschaftsrecht und ist somit unzulässig. Die Folge ist,
dass § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II durch die nationalen Gerichte nicht angewandt werden darf, soweit die Vorschrift
Unionsbürger vom Zugang zu diesen Leistungen ausschließen würde, oder dass sie jedenfalls so auszulegen ist,
dass ausländische Unionsbürger durch sie nicht von den genannten Leistungen ausgeschlossen werden. Dies ergibt
sich aus folgendem:
Nach der Rechtsprechung des EuGH (aaO) ist eine solche Ungleichbehandlung nur dann gerechtfertigt, wenn sie auf
objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruht und in einem
angemessenen Verhältnis zu dem Zweck steht, der mit den nationalen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgt
wird. Danach kann es unter bestimmten Voraussetzungen legitim und mit dem gemeinschaftsrechtlichen
Gleichbehandlungsgrundsatz vereinbar sein, wenn der nationale Gesetzgeber die Leistungsberechtigung an das
Bestehen eines gewöhnlichen Aufenthalts in dem Mitgliedsstaat knüpft, der die Leistungen zur Verfügung stellt (vgl.
hier § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II), oder wenn er sich auf andere Weise einer tatsächlichen Verbindung zwischen
demjenigen, der die Leistungen beantragt, und dem betroffenen räumlichen Arbeitsmarkt vergewissern möchte. Dies
rechtfertigt es aber gerade nicht, ausländische Unionsbürger, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der
Arbeitssuche ergibt, von den Leistungen nach §§ 19 ff. SGB II auszunehmen. Vielmehr kann sich das Bestehen einer
Verbindung zum betroffenen Arbeitsmarkt nach der Ansicht des EuGH eben bereits aus der Feststellung ergeben,
dass der Betroffene während eines angemessenen Zeitraums tatsächlich eine Beschäftigung in dem betreffenden
Mitgliedsstaat gesucht hat (aaO). Auch ein Wohnorterfordernis hält der EuGH nur dann für verhältnismäßig, wenn es
nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des Ziels, sich einer Verbindung zum jeweiligen nationalen
Arbeitsmarkt zu vergewissern, erforderlich ist. Wenn für die Erfüllung dieser Voraussetzung eine
Mindestaufenthaltsdauer verlangt wird, so der EuGH, so darf sie jedenfalls nicht über das hinausgehen, was
erforderlich ist, damit die nationalen Behörden sich vergewissern können, dass die betreffende Person tatsächlich auf
der Suche nach einer Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedsstaats ist. Mit diesen Vorgaben ist
§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht vereinbar. Die Ablehnung der hier streitgegenständlichen Leistungen kann deshalb auf
diese Vorschrift nicht mit Erfolg gestützt werden.
Die Kammer verkennt nicht, dass, legt man die zitierte Rechtsprechung des EuGH zugrunde, die nationalen
Gesetzgeber der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union es faktisch nicht mehr in der Hand haben, den Zugang von
EU-Bürgern anderer Nationalitäten zu Sozialhilfeleistungen, jedenfalls soweit diese den Zugang zum nationalen
Arbeitsmarkt erleichtern sollen, zu verhindern, und somit einen befürchteten "Sozialtourismus" in Länder mit
vergleichsweise hohen Sozialstandards (zu denen die Bundesrepublik Deutschland nach wie vor gehört)
einzudämmen. Was dies für die in den betroffenen Staaten bestehenden, auf nationaler Solidarität gründenden
Systeme sozialer Sicherung perspektivisch bedeuten könnte, vor allem angesichts der Tatsache, dass vergleichbare
neue Strukturen europaweiter Solidarität noch nicht existieren und auch nicht in Sicht sind, ist derzeit wohl noch nicht
wirklich absehbar. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass für die Staatsangehörigen der
osteuropäischen Staaten, die ab dem 01.05.2004 der EU beigetreten sind, derzeit noch Beschränkungen ihrer
Arbeitnehmerfreizügigkeit bestehen (vgl. hierzu Blüggel in: Eicher/Spellbrink, SGB II, Kommentar, 2005, § 8 Rn. 48);
diese werden aber in wenigen Jahren entfallen.
Auf diese möglichen Gefahren angemessen zu reagieren ist jedoch die Aufgabe der gesetzgebenden Organe der
Europäischen Union, an deren Vorgaben (in der Gestalt, die sie durch die jeweilige Auslegung des EuGH gefunden
haben) die nationalen Gerichte in ihrer rechtsprechenden Tätigkeit gebunden sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.