Urteil des SozG München vom 26.06.2008

SozG München: altersrente, beitragszeit, befreiung, sicherheit, wartezeit, anerkennung, zwangsarbeit, aufenthalt, anschluss, weltkrieg

Sozialgericht München
Urteil vom 26.06.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 30 R 929/05 WG
Bayerisches Landessozialgericht L 6 R 732/08
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 20.04.2004 in der Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 15.02.2005 wird
abgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig zwischen den Beteiligten ist ein Anspruch auf Altersrente unter Berücksichtigung von Beitragszeiten in einem
vom Naziregime im besetzten Polen eingerichteten Ghetto. Die Klägerin ist geboren 1921 in Odessa, lebte schon vor
dem Zweiten Weltkrieg in Wien und kehrte nach ihrer Befreiung und einem kurzen Aufenthalt in Deutschland 1945
dorthin zurück. Beruflich war sie als Polizeibeamtin tätig. Sie beantragte am 20.06.2003 bei der Beklagten eine
Altersrente und berief sich auf das Gesetz zur Zahlbarmachung von Ren-ten aus Beschäftigungszeiten in einem
Ghetto (ZRBG) vom 20.06.2002 (BGBl. I, S. 2074). Die Klägerin erläuterte, dass sie als Jüdin ins besetzte Polen
verschleppt wurde und von Februar 1942 bis August 1944 vom Ghetto "Litzmannstadt" (Lodz) aus in der Plantage
Marysin mit Feldarbeit und in der Gasküchenabteilung mit Büroarbeit und Kor-respondenz beschäftigt worden sei, und
zwar täglich von morgens 7 h bis abends und in beiden Fällen über Vermittlung des Judenrates. Im August 1944
wurde sie in das Kon-zentrationslager Auschwitz verschleppt und hat sodann Zwangsarbeit in Berlin und im
Konzentrationslager Ravensbrück geleistet. Sie gab an, eine "sogenannte Opferrente" nach österreichischem Recht
zu beziehen. Das Referat Opferfürsorge des Amtes der Wiener Landesregierung teilte der Beklagten mit, für die
Klägerin sei eine politische KZ-Haft von 21.10.1941 bis 30.04.1945 festgestellt. Mit Bescheid vom 20.04.2004 lehnte
die Beklagte den Rentenantrag ab. Sie führte zur Begründung aus, die Wartezeit von 5 Jahren Beitrags- und
Ersatzzeiten für eine Alters-rente sei nicht erfüllt. Die Klägerin habe im Zeitraum 21.10.1941 bis 08.05.1945 nur 44
Monate Beitrags- und Ersatzzeit erworben. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und begehrte die Anrechnung
von Ersatzzei-ten bis Ende 1949, weil sie Deutschland verfolgungsbedingt verlassen habe. Mit Wider-
spruchsbescheid vom 15.02.2005 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und führte aus, bei der Fahrt nach Wien
habe es sich um die Heimreise gehandelt. Auch die Aner-kennung sogenannter Anschluss-Ersatzzeiten wegen
Krankheit oder unverschuldeter Ar-beitslosigkeit nach der Befreiung komme nicht in Betracht, da die Klägerin solche
Tatbe-stände ausdrücklich verneint habe. Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin weiterhin die Zahlung einer Altersrente.
Sie schilderte ein schweres Verfolgungsschicksal. Bereits nach dem Einmarsch der deutschen Truppen Österreich im
März 1938 sei das Bankhaus ihres Vaters "arisiert" worden. Nachdem sie zuvor dort angestellt gewesen sei, sei sie
bis Oktober 1941 verfolgungsbedingt arbeitslos gewesen. Eine Anfang Oktober 1941 gefundene neue Arbeitstätigkeit
sei durch die Über-führung in das Ghetto Lodz am 18.10.1941 unterbrochen worden. Ihre gesamte Familie sei in
Auschwitz gestorben. Nach ihrer Befreiung in der Nähe von Rostock habe sich bis September 1945 in verschiedenen
Lagern aufgehalten, bis sie ihre Heimreise nach Wien antreten konnte. Die Klägerin habe bereits in den Lagern an
Gelbsucht und diversen Krankheiten gelitten sowie nach ihrer Rückkehr am starker Depression und nervösen Angst-
und Spannungszuständen. Die Erkrankungen hätten bis mindestens 1947 in einem solchen Maße angehalten, dass
man sie als arbeitsunfähig bezeichnen konnte. In die Beklagte hielt zunächst weitere Ersatzzeiten von März 1938 bis
Oktober 1941 sowie von Mai 1945 bis Ende 1947 für nicht ausreichend nachgewiesen und blieb bei ihrer Auf-fassung,
die Klägerin habe die für eine Altersrente erforderliche Wartezeit mit nur 44 an-stelle von 60 Monaten Beitrags- und
Ersatzzeiten nicht erfüllt. Auch unter Berücksichti-gung von Beweiserleichterungen sei die Ursächlichkeit der
Verfolgung für die Arbeitslo-sigkeit ab 1938 nicht ausreichend glaubhaft. In einer mündlichen Verhandlung am
28.06.2007 teilte die Beklagte zusätzlich mit, nach neueren Ermittlungen beziehe die Klägerin in Österreich eine
Versorgung als Polizeibe-amtin, in der möglicherweise Zeiten ab März 1938 berücksichtigt seien. Somit sei nicht
auszuschließen, dass die Klägerin für die Zeit im Ghetto bereits eine Leistung aus einem System der sozialen
Sicherheit beziehe und somit nach dem ZRBG nicht anspruchsbe-rechtigt sei. Nach Abschluss der ihr aufgegebenen
weiteren Ermittlungen meldete die Be-klagte unter Beifügung einer Bescheinigung der Sicherheitsdirektion Wien am
15.02.2008, dass die Zeit von 21.10.1941 bis 30.04.1945 tatsächlich in dem Ruhegenuss berücksich-tigt ist, den die
Klägerin als ehemalige Polizeibeamtin bezieht. Zwischen den Beteiligten blieb strittig, ob die Beamtenpension im
Sinne des Gesetzes eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherung ist.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20.04.2004 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 15.02.2005 zur Zahlung einer Altersrente zu verurtei-len.
Widerspruchsbescheides vom 15.02.2005 zur Zahlung einer Altersrente zu verurtei-len.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat die Akten der Beklagten beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakte
sowie auf den gesamten Akteninhalt verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsver-fahrens form- und fristgerecht
beim zuständigen Gericht erhoben und ist daher zulässig. Sie ist jedoch in der Sache nicht begründet. Der Beklagten
wie dem Gericht ist der historische Hintergrund des Begehrens der Kläge-rin bekannt. Das in Deutschland von 1933
bis 1945 herrschende nationalsozialistische Regime unterwarf alle Juden, die durch die Expansionen 1938 und die
militärischen Erfol-ge ab 1939 in seinen Machtbereich gerieten, einer Politik der Entrechtung, Enteignung, Demütigung
und Isolation sowie der rücksichtslosen Ausnutzung ihrer Arbeitskraft, bevor es zu ihrer systematischen
millionenfachen Ermordung überging. Charakteristisch für die Phase der Entrechtung und Isolation in der ersten Hälfte
des Zweiten Weltkrieges war die Zusammenfassung der Juden in den hauptsächlich in Polen, im Baltikum und in den
be-setzten Teilen der Sowjetunion eingerichteten Ghettos, bei denen es sich um absichtlich überfüllte abgegrenzte
Wohngebiete mit schlechter Bausubstanz handelte, deren Insas-sen aufgrund völlig mangelhafter Ernährung und
katastrophaler hygienischer Bedingun-gen einer vom Regime gewünschten hohen Sterblichkeit unterlagen, bevor sie
dann in das System der "Vernichtung durch Arbeit" in den Zwangsarbeitslagern und Konzentrati-onslagern oder direkt
in die Gaskammern geschickt wurden. Außer den Juden aus den genannten Gebieten wurden in die osteuropäischen
Ghettos auch Juden aus Deutsch-land, Österreich und den besetzten Teilen West- und Südosteuropas geschickt. Die
Klägerin gehört zu der Minderheit, die diese beispiellosen Verbrechen überlebt hat. Das Recht der gesetzlichen
Rentenversicherung enthält für die Verfolgten des National-sozialismus und insbesondere die Überlebenden des
Judenmordes differenzierte Rege-lungen. Grundnorm ist die Vorschrift des § 250 Abs. 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch VI
(SGB VI), wonach Zeiten der Freiheitsbeschränkung und Freiheitsentziehung im Sinne von §§ 43 und 47
Bundesentschädigungsgesetz (BEG) als Ersatzzeiten zur Erfüllung von Wartezeiten und für die Rentenberechnung
wie Beitragszeiten heranzuziehen sind. Das Problem besteht darin, dass die Berücksichtigung von Ersatzzeiten an
die Eigenschaft als "Versicherter" anknüpft, die nur durch eine Beitragszahlung vor, während oder nach der Verfolgung
zur deutschen Rentenversicherung hergestellt wird, mindestens aber durch eine nach dem Fremdrentenrecht
gleichgestellte Beitragszahlung eines Vertriebenen im Heimatgebiet. Der Gesetzgeber hat mit dem ZRBG die
Möglichkeit geschaffen, für die Zeit der Verfol-gung Beitragszeiten zu fingieren. § 1 Abs. 1 S. 1 ZRBG hat folgenden
Wortlaut: Dieses Gesetz gilt für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise
aufgehalten haben, wenn 1. die Beschäftigung a) aus eigenem Willensentschluss zu Stande gekommen ist, b) gegen
Entgelt ausgeübt wurde und 2. das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder
diesem eingegliedert war, soweit für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicher-
heit erbracht wird. § 2 Abs. 1 ZRBG hat folgenden Wortlaut: Für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem
Ghetto gelten Beiträge als gezahlt, und zwar 1. für die Berechnung der Rente als Beiträge nach den
Reichsversicherungsgeset-zen für eine Beschäftigung außerhalb des Bundesgebietes sowie 2. für die Erbringung von
Leistungen ins Ausland als Beiträge für eine Beschäftigung im Bundesgebiet (Ghetto-Beitragszeiten). Die Klägerin
gehört zu der kleinen Zahl von Antragstellerinnen und Antragstellern nach den ZRBG, für die ohne nähere Prüfung der
häufig sehr zweifelhaften Kriterien der Frei-willigkeit und Entgeltlichkeit der Beschäftigung eine Beitragszeit für die Zeit
ihre Arbeits-leistung im Ghetto anerkannt wurde. Zutreffenderweise wurde die Beitragszeit auf den Termin 30.06.1944
begrenzt, weil die Klägerin dann der Zwangsarbeit im Konzentrations-lager unterworfen wurde, in der auch minimale
Freiheitsspielräume nicht mehr gewährt wurden. Durch die Anerkennung einer Beitragszeit entfällt das für ZRBG-Fälle
typische grundsätz-liche Hindernis der Anerkennung einer Ersatzzeit. Der Umfang der für die Klägerin
anzurechnenden Ersatzzeiten ist strittig geblieben. Das Gericht hat anders als die Beklagte keine Bedenken, eine
Ersatzzeit bereits ab März 1938 anzuerkennen. Nach dem "Anschluss" Österreichs erstreckte das Regime seine
Maß-nahmen sofort mit besonderer Nachhaltigkeit gegen die dort ansässigen Juden, denen Hitlers besonderer Hass
bereits seit seinem Aufenthalt in Wien vor dem Ersten Weltkrieg galt. Die Darstellung der Klägerin, sie sei als Tochter
eines vermögenden jüdischen El-ternhauses sogleich nach dem deutschen Einmarsch in eine erzwungene
Arbeitslosigkeit gedrängt worden, entspricht den hinreichend bekannten Zeitumständen. Zweifel hieran wurden von der
Beklagten nicht konkretisiert. Spezielle Nachweise etwa in Form der Do-kumentation vergeblicher Meldungen beim
Arbeitsamt können aufgrund des Charakters der Diskriminierungsmaßnahmen nicht verlangt und erbracht werden.
Zuzustimmen ist der Beklagten jedoch mit der Ablehnung, einen Auslandsaufenthalt nach der Befreiung aufgrund von
Fortwirkungen der Verfolgung anzuerkennen. Die Klägerin lebte vor dem Beginn von Naziherrschaft, Verfolgung und
Krieg in Wien und kehrte dort-hin auch wieder zurück. Es handelte sich daher bei der Fahrt von Deutschland nach
Wien nicht um eine Emigration etwa wegen der nicht mehr rückgängig zu machenden Entwur-zelung aus dem
Heimatland (so vielfach anerkannt für zuvor polnische oder sowjetische Juden, die nach 1945 von den Westzonen
Deutschlands aus beispielsweise nach Latein-amerika auswanderten), sondern um eine Rückkehr nach Hause. Allein
schon mit Ersatz-zeiten von März 1938 bis April 1945 hätte die Klägerin jedoch die Wartezeit von 5 Jahren für eine
Altersrente nach §§ 35, 50 Abs. 1 Nr. 1, 235 Abs. 1 SGB VI erfüllt. Die rentenbegründende Wirkung der Beitragszeit
und damit der Rentenanspruch selbst entfallen jedoch nach § 1 Abs. 1 S. 1 ZBRG wegen der Ausschlussklausel,
dass das Ge-setz nicht anzuwenden ist, soweit für diese Zeiten bereits eine Leistung aus einem Sys-tem der sozialen
Sicherheit erbracht wird. Der Begriff des Systems der sozialen Sicherheit darf weit ausgelegt werden, weil der
Gesetzgeber in Rechnung stellte, dass die möglichen Anspruchsberechtigten in sehr vielen verschiedenen Ländern
leben, in denen die Alterssi-cherungssysteme beispielsweise mit verschiedener Betonung staatlicher, sozialversiche-
rungsrechtlicher oder betrieblicher Säulen unterschiedlich aufgebaut sind. Zwar sind nach deutschem Recht die
Pensionen der Beamten, Soldaten und Richter nicht in rechtssyste-matischer Präzision mit den Renten der
Rentenversicherung gleichzusetzen, doch von der sozialen Zielsetzung her entsprechen sie und genauso die in
anderen Ländern mit vergleichbaren Voraussetzungen und Intentionen gezahlten Leistungen durchaus dem-selben
Ziel, berufstätig gewesenen Personen mit einer unverfallbaren Geldleistung auf Lebensdauer einen gesicherten
Ruhestand zu ermöglichen. Die Berechnungselemente einerseits der Dauer einer Beitragszahlung und andererseits
der Dauer einer Dienstleis-tung für den versorgungspflichtigen Dienstherrn können insoweit gleichgesetzt werden.
Wenn das ZRBG dafür sorgen will, dass Zeiten einer volkswirtschaftlich relevanten Ar-beitsleistung in der
Ruhestandsversorgung nicht unberücksichtigt bleiben, dann ist der Beklagten darin zuzustimmen, dass dieses
Regelungsziel des "Ghetto-Renten-Gesetzes" für die Klägerin durch die Anwendung des historisch ausreichend
sensiblen österreichi-schen Beamtenrechts bereits seit ihrer Versetzung in den Ruhestand verwirklicht ist. Der
Bescheid vom 20.04.2004 hat nicht den Rechtscharakter einer isolierten Anerken-nung rentenrechtlicher Zeiten, die
nur unter Beachtung verfahrensrechtlicher Hürden wie-der beseitigt werden könnte. Der damalige Bescheid beinhaltete
im Tenor eine Rentenab-lehnung und bejahte eine Beitragszeit wegen Ghettoarbeit nur in der Begründung. Von daher
ist die Beklagte nicht an die Feststellung einer Beitragszeit von 1941 bis 1944 ge-bunden. Dem Gericht ist der
Hinweis sehr wichtig, dass dieses nach sorgfältiger Prüfung ableh-nende Urteil nicht in irgendeiner Weise das
Verfolgungsschicksal der Klägerin relativiert oder ihre Glaubwürdigkeit infrage stellt. Ihre eigene Schilderung wurde als
Basis für die rechtliche Beurteilung uneingeschränkt übernommen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
Sozialgerichtsgesetz (SGG).