Urteil des SozG München vom 28.11.2007

SozG München: fahrtkosten, aufnahme einer erwerbstätigkeit, bundesamt für migration, sachliche zuständigkeit, eingliederung, kurs, darlehen, ausländer, vorrang, bus

Sozialgericht München
Urteil vom 28.11.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht München S 51 AS 127/06
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 25.10.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.12.2005 wird
abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist, ob die Beklagte Fahrtkosten für einen Deutschkurs bzw. Integrationskurs für Spätaussiedler und
Ausländer im Rahmen von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu übernehmen hat.
Die 1954 geborene Klägerin ist im Sommer 2005 als Spätaussiedlerin oder deren Abkömmling nach Deutschland
gekommen. Sie bezieht seit 22.08.2005 Arbeitslosengeld II.
Vom 20.09.2005 bis 31.03.2006 besuchte sie einen in Deutsch- und Integrationskurs bei einem Institut in R. Er wurde
auf Grundlage des Aufenthaltsgesetzes bzw. § 9 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) und der Verordnung über
die Durchführung von Kursen für Ausländer und Spätaussiedler (Integrationskursverordnung- IntV) durchgeführt.
Derselbe Kurs wurde auch von V. S. und V. S. besucht, die unter derselben Anschrift wie die Klägerin wohnten. Beide
haben wegen der Fahrkosten zum Sozialgericht München Klage erhoben. In der mündlichen Verhandlung vom
25.04.2006 erklärte Vladimir Sch., dass er die ersten drei Tage mit dem Bus zum Integrationskurs gefahren ist,
danach mit vier weiteren Personen im Auto seines Schwagers V. S ... V. S. erhielt die Fahrtkosten aufgrund eines
Urteils darlehensweise (SG München, S 42 AS 132/06). V. S. erhielt beim Bayerischen Landessozialgericht infolge
eines Anerkenntnis der Beklagten die Fahrtkosten erstattet (L 7 AS 263/06).
Mit Schreiben vom 20.09.2005 beantragte die Klägerin die Übernahme der Fahrtkosten zum Kurs. Mit Bescheid vom
25.10.2005 wurde der Antrag abgelehnt. Der Deutschkurs sei keine Maßnahme nach SGB II. Eine Übernahme der
Fahrtkosten sei nicht möglich. Der mit Schreiben vom 23.11.2005 erhobene Widerspruch wurde mit
Widerspruchsbescheid vom 21.12.2005 zurück gewiesen.
Am 20.01.2006 wurde Klage erhoben. Der Kursort sei 9,2 km vom Wohnort entfernt. Die Klägerin sei zunächst mit
dem Bus und dann in Fahrgemeinschaften mit einem PKW zum Kurs gefahren.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 25.10.2005 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 21.12.2005 zu verur teilen, die Fahrtkosten für die Fahrten zum Deutsch- und In
tegrationskurs zu übernehmen.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestands wegen der Einzelheiten auf den Inhalt der Klageakte, den Inhalt der
Beklagtenakte sowie auf die Klageakten des Sozialgerichts München S 42 AS 113/06, S 42 AS 122/06, S 42 AS
123/06 und S 42 AS 132/06 verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben. Die Klage ist jedoch unbegründet. Ein Anspruch
gegen die Beklagte auf Ersatz der Fahrtkosten besteht nicht.
Nach § 1 Abs. 2 SGB II umfasst die Grundsicherung für Arbeitssuchende Leistungen zur Eingliederung in Arbeit und
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.
Nach § 5 Abs. 1 SGB II gehen Leistungen anderer Behörden den Leistungen nach SGB II vor. Selbst
Ermessensleistungen dürfen andere Behörden nicht deshalb versagen, weil das SGB II eine Leistung vorsieht (§ 5
Abs. 1S. 2 SGB II). Für die strittigen Fahrtkosten ist die Beklagte nicht zuständig. Es handelt sich bei dem
Integrationskurs um eine Hilfemaßnahme nach § 9 BVFG i.V.m. § 4 IntV. Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 BVFG haben
Spätaussiedler sowie deren Ehegatten und Abkömmlinge einen Anspruch auf kostenlose Teilnahme an einem
Integrationskurs. Für die Durchführung der Maßnahmen - mithin auch für die Verwirklichung des Anspruchs auf
kostenlose Teilnahme - ist nach § 9 Abs. 4 BVFG das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zuständig.
Ob und inwieweit zur kostenlosen Teilnahme auch Fahrtkosten gehören, muss die Klägerin mit dem BAMF klären.
Selbst wenn eine Zuständigkeit der Beklagten bestünde, ergibt sich kein Leistungsanspruch aus dem Zweiten Buch
Sozialgesetzbuch (SGB II).
Eine Leistung zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 19 ff SGB II kommt nicht in Betracht.
Die Regelleistung nach § 20 SGB II dient der Sicherung des Lebensunterhalts und enthält auch einen
Fahrtkostenanteil. Es ist fraglich, ob die Fahrtkosten für eine besondere integrationsrechtliche Maßnahme ein Teil des
Bedarfs sind, der von der Regelleistung zur Sicherung des allgemeinen Lebensunterhalts erfasst wird. Selbst wenn
man dies bejaht, könnte sich allenfalls ein Darlehensanspruch nach § 23 Abs. 1 SGB II (Sonderregelbedarf) ergeben.
Danach kann im Einzelfall für einen von der Regelleistung umfassten und nach den Umständen unabweisbaren Bedarf
zur Sicherung des Lebensunterhalts, der weder durch das Vermögen noch auf andere Weise gedeckt werden kann,
ein entsprechendes Darlehen gewährt werden. Dieses Darlehen wäre umgehend durch monatliche Aufrechnung in
Höhe von bis zu 10 vom Hundert der Regelleistung zu tilgen. Da die Klägerin nur wenige Busfahrkarten benötigte und
nach kurzer Zeit in einer Fahrgemeinschaft mitfahren konnte, ist nicht erkennbar, dass ein Bedarf bestand, der nicht
gedeckt werden konnte. Es ist bereits zweifelhaft, ob die Klägerin überhaupt einen Bedarf hatte, der über wenige
Busfahrkarten hinausging.
Weitere Leistungsarten zur Sicherung des Lebensbedarfs (insb. Mehrbedarf nach § 21 SGB II und Erstausstattungen
nach § 23 Abs. 3 SGB II) kommen für Fahrtkosten nicht in Frage.
Eine Leistung zur Eingliederung in Arbeit nach § 16 SGB II kommt ebenfalls nicht in Betracht.
Ein Anspruch aus § 16 Abs. 1 SGB II besteht nicht, weil der Integrationskurs keine Maßnahme nach dem Dritten
Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) ist, auf die in § 16 Abs. 1 SGB II verwiesen wird. Insbesondere handelt es sich
nicht um eine Maßnahme der beruflichen Weiterbildung.
Auch aus § 16 Abs. 2 SGB II ergibt sich kein Anspruch auf Fahrkostenerstattung. Nach § 16 Abs. 2 SGB II können
weitere Leistungen erbracht werden, die für die Eingliederung des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in das Erwerbsleben
erforderlich sind. Ein Integrationskurs nach § 9 BVFG ist keine Maßnahme, die für die Eingliederung in das
Berufsleben erforderlich ist. Integrationskurse haben das Ziel, die Betroffenen mit den Lebensverhältnissen in der
Bundesrepublik vertraut zu machen und sie für die selbstständige Bewältigung der Angelegenheiten des täglichen
Lebens zu befähigen (vgl. § 9 Abs. 1 BVFG und § 3 Abs. 3 IntV). Ein unmittelbarer Bezug zum Arbeitsleben besteht
nicht. Es geht vielmehr um den Erwerb von alltagspraktischen Fähigkeiten. Maßnahmen nach § 16 Abs. 2 SGB II
sollen dagegen der individuellen beruflichen Eingliederung dienen. Daran fehlt es hier.
Selbst wenn man wegen des nicht abschließenden Leistungskatalogs von § 16 Abs. 2 SGB II den Integrationskurs
als weitere Leistung zur Eingliederung nach § 16 Abs. 2 SGB II einstufen würde, stünde eine Leistungsbewilligung im
pflichtgemäßen Ermessen der Beklagten. Dieses Ermessen ist gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz
(SGG) von den Gerichten nur eingeschränkt auf Ermessensfehler überprüfbar. Eine Ermessensreduzierung auf Null
(beziehungsweise auf eine Entscheidung) dahingehend, dass die Leistung zu gewähren wäre, liegt nicht vor. Gegen
eine Leistungsbewilligung sprechen der Vorrang von Leistungen anderer Leistungsträger (BAMF) nach § 5 Abs. 1 SGB
II und der Vorrang von Maßnahmen, die eine unmittelbare Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ermöglichen nach § 3 Abs.
1 Satz 3 SGB II. Eine Verurteilung zur erneuten Entscheidung kommt hier nicht in Betracht, weil das Gericht schon
die sachliche Zuständigkeit der Beklagten und die Tatbestandsvoraussetzungen von § 16 Abs. 2 SGB II verneint.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass sich unter keinem Gesichtspunkt eine Verpflichtung der Beklagten ergibt,
die Fahrtkosten - soweit sie tatsächlich entstanden sind - für einen Integrationskurs für Spätaussiedler zu
übernehmen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Das Gericht geht davon aus, dass die Berufung bereits wegen des Werts des Beschwerdegegenstands zulässig ist.
Die Klägerin begehrt Fahrtkosten für tägliche Fahrten zu einem Kurs mit einer Dauer von über sechs Monaten. Eine
Festlegung des Beschwerdewerts auf 500,- Euro und weniger (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) ist dem Gericht nicht
möglich, weil die Klägerin den Anspruch nicht betragsmäßig festgelegt hat. Im Übrigen handelt es sich auch um eine
noch nicht geklärte Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG), weil es zahlreiche
Betroffene gibt und eine obergerichtliche Rechtsprechung hierzu nicht ersichtlich ist.