Urteil des SozG München vom 07.07.2008

SozG München: aufschiebende wirkung, materielles recht, gleiche zeit, rechtsschutz, auszahlung, nachzahlung, interessenabwägung, zivilprozessordnung, auflage, form

Sozialgericht München
Beschluss vom 07.07.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht München S 51 AS 1396/08 ER
Beschluss:
I. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Aufhebungsbescheid vom
17.03.2008 wird abgelehnt. II. Der Antrag auf einstweilige Anordnung zur Auszahlung der Rentennachzahlung durch
die Beigeladene wird abgelehnt. III. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. IV. Der Antrag auf Bewilligung
von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Gründe:
I.
Streitig ist im vorläufigen Rechtsschutzverfahren, wie sich eine rückwirkende Rentenbewilligung zum
zwischenzeitlichen Bezug von Arbeitslosengeld II verhält.
Die 1950 geborene Antragstellerin bezieht von der Antragsgegnerin seit April 2006 Arbeitslosengeld II.
Zuletzt wurde der Antragstellerin mit Bescheid vom 04.02.2008 Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 01.03.2008 bis
31.08.2008 in Höhe von 911,83 Euro (Monat März) bzw. 834,50 Euro (Folgemonate) bewilligt.
Mit Rentenbescheid vom 21.02.2008 bewilligte die Beigeladene der Antragstellerin rückwirkend ab 01.10.2007 eine
Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe von monatlich 974,31 Euro (Zahlbetrag 881,76 Euro). Die laufende
Zahlung erfolgt ab 01.04.2008, die Nachzahlung in Höhe von 5.305,14 Euro wurde vorläufig ein-behalten.
Mit Schreiben vom 03.03.2008 teilte der Antragstellerin der Antragsgegnerin die Rentenbewilligung mit. Mit Bescheid
vom 17.03.2008 hob die Antragsgegnerin die Bewilligung von Arbeitslosengeld II wegen Wegfall der Erwerbsfähigkeit
mit Wir-kung vom 01.10.2007 nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) auf. Eine Erstattung wurde nicht
verfügt. Gegen diesen Bescheid wurde am 18.04.2008 Widerspruch erhoben.
Mit Schreiben vom 14.03.2008 beantragte die Antragsgegnerin bei der Beigelade-nen die Erstattung von
Arbeitslosengeld II sowie der Beiträge für die Kranken- und Pflegeversicherung für die Zeit vom 01.10.2007 bis
31.03.2008. Die Beigeladene erstattete nach dem Schreiben vom 28.04.2008 die Rentennachzahlung von 5.305,14
Euro sowie Beiträge zur Krankenversicherung (830,10 Euro) und zur Pflegeversicherung (99,36 Euro), mithin
insgesamt 6.234,60 Euro.
Am 05.06.2008 stellte die Antragstellerin beim Sozialgericht einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz. Die
Antragsgegnerin solle unter Herstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom
17.03.2008 verpflichtet werden, die bereits ausgezahlte Nachzahlung von 5.305,14 Euro durch die Beigeladene an die
Beigeladene zurück zu zahlen. Die Aufhebung dürfe nicht rückwirkend erfolgen. Die Rentennachzahlung stünde der
Antragsgegnerin nicht zu. Der Erstattungsantrag müsste von der Antragsgegnerin zurück genommen werden.
Mit Schreiben vom 30.06.2008 stellte die Antragstellerin einen Antrag auf Pro-zesskostenhilfe.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom
17.03.2008 anzuordnen und die Beigeladene im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die
Rentennachzahlung an die Antragstellerin auszuzahlen.
Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag abzuweisen.
Das Gericht hat die Rentenversicherung notwendig beigeladen.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestands wegen der Einzelheiten auf die Akte des Gerichts und die Akten der
Antragsgegnerin verwiesen.
II.
Die Antragstellerin möchte nach dem Wortlaut ihres Antrags, dass die Renten-nachzahlung für die Zeit vom
01.10.2007 bis 31.03.2008 nicht an die Antragsgeg-nerin geht, sondern trotz des gleichzeitigen Bezugs von
Arbeitslosengeld II von der Antragsgegnerin an die Beigeladene zurück gezahlt wird. Im Ergebnis geht es der
Antragstellerin darum, dass sie selbst die Rentennachzahlung erhält. Die An-tragstellerin begehrt hierfür einerseits die
Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Aufhebungsbescheid (siehe 1.) und eine
einstweili-ge Anordnung zur Rentenachzahlung (siehe 2.). Beide Anträge bleiben ohne Er-folg.
1. Aufschiebende Wirkung des Widerspruchs
Da die Antragstellerin den Erhalt einer ursprünglich bestehenden Rechtsposition (Bewilligung der begehrten Leistung
mit Bescheid vom 04.02.2008) anstrebt, ist ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1
Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft.
Nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch
oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise
anordnen. Danach ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung vorliegend statthaft. Denn dem
Widerspruch kommt nach § 39 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG keine aufschiebende Wirkung zu, da es
sich bei dem Aufhebungsbescheid vom 17.03.2008 um einen Verwaltungsakt handelt, der über Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet.
Die Entscheidung nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG steht im Ermessen des Gerichts und erfolgt auf Grundlage einer
Interessenabwägung. Abzuwägen sind das private Interesse des Antragstellers, vom Vollzug des Verwaltungsaktes
bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens verschont zu bleiben und das öffentliche Interesse an der
Vollziehung der behördlichen Entscheidung. Im Rahmen dieser Interessenabwägung kommt den Erfolgsaussichten
des Rechtsbehelfs in der Hauptsache eine wesentliche Bedeutung zu. Dabei ist die Wertung des § 39 Nr. 1 SGB II zu
berücksichtigen, wonach der Gesetzgeber aufgrund einer typisierenden Abwägung der Individual- und öffentlichen
Interessen (vgl. Eicher in Eicher/Spellbrink, SGB II, § 39, Rn. 7) dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug
prinzipiell Vorrang gegenüber entgegenstehenden privaten Interessen einräumt. Eine Abweichung von diesem Regel-
Ausnahmeverhältnis kommt nur in Betracht, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen
Bescheide bestehen (vgl. BayLSG v. 13.4.2006, L 7 B 190/06 AS ER; Conradis, LPK-SGB II, § 39, Rn. 11) oder wenn
ausnahmsweise besondere private Interessen überwiegen.
Hier bestehen zwar Zweifel an der Rechtmäßigkeit der rückwirkenden Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld
II für den Zeitraum vom 01.10.2007 bis 31.03.2008. Es fehlt an einem Aufhebungsgrund nach § 48 Abs. 1 Satz 2
SGB X für eine rückwirkende Aufhebung. Die vergangene Zeit ist vielmehr im vorrangigen Erstattungsverfahren nach
§§ 102 ff SGB X abzuwickeln (kein Wahlrecht der vor-leistenden Behörde, vgl. von Wulffen, SGB X, 6. Auflage, § 107
Rn. 6; siehe im Übrigen LSG NRW Beschluss vom 08.05.2007, L 8 B 3/07 R mit Hinweis auf § 44a SGB II als
Nahtlosigkeitsregelung).
Allerdings ist die Bewilligung von Arbeitslosengeld II gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X für die Zukunft ab 01.04.2008
aufzuheben. Die Antragstellerin bezieht ab diesem Zeitpunkt eine Rente und damit Einkommen in einer Höhe von
881,71 Eu-ro, das gemäß § 11 SGB II in Höhe von 851,71 Euro anzurechnen ist (Abzug des Pauschbetrags von 30,-
Euro für private Versicherungen nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Ar-beitslosengeld II-Verordnung) und das bewilligte
Arbeitslosengeld II (für die Zeit ab April 2008 monatlich 834,50 Euro) übersteigt. Damit entfällt die Hilfebedürftigkeit
der Antragstellerin nach § 9 Abs. 1 SGB II und nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II eine Anspruchsvoraussetzung für
Arbeitslosengeld II.
Somit ist der Aufhebung für die Zeit ab 01.04.2008 nicht zu beanstanden.
Die Zeit vom 01.10.2007 bis 31.03.2008 liegt vor dem Zeitpunkt, an dem der An-trag auf einstweiligen Rechtsschutz
bei Gericht eingegangen ist (05.06.2008). Es ist aber grundsätzlich nicht Aufgabe des einstweiligen Rechtsschutzes,
Ansprüche aus der Vergangenheit (Zeit vor dem Antrag an das Gericht) vorläufig zu regeln. Dies ist gegebenenfalls
Aufgabe eines Hauptsacheverfahrens. Dies gilt auch im Rahmen der Interessenabwägung für Verfahren zur
Anordnung der aufschieben-den Wirkung (BayLSG, Beschluss vom 21.05.2008, L 7 B 322/08 AS ER). Da im
Aufhebungsbescheid vom 17.03.2008 auch keine Erstattung für die vergangenen Zeiträume verfügt wurde, besteht
kein Anlass für eine Anordnung der aufschie-benden Wirkung.
2. Einstweilige Anordnung zur Rentennachzahlung
Die Antragstellerin begehrt nach dem Wortlaut ihres Antrags, die Antragsgegnerin vorläufig zu verpflichten, die im
Wege der Erstattung an die Antragsgegnerin ge-gangene Rentennachzahlung an die Beigeladene zurück zu zahlen.
Das Erstattungsverfahren nach §§ 102 ff SGB X bewirkt einen Ausgleich zwischen zwei Leistungsträgern. Die
Antragstellerin hat hier keine Mitwirkungsrechte. Aller-dings gelten Ansprüche der Antragstellerin gegen die
Beigeladene nach § 107 Abs. 1 SGB X als erfüllt, soweit der Erstattungsanspruch besteht.
Da die Antragstellerin nur ein Interesse daran haben kann, dass die Rentennach-zahlung im Endergebnis ihr selbst
zufließt und die Erstattung zwischen den Leis-tungsträgern für sie nur insoweit von Belang ist (die Antragstellerin will
ja nicht un-eigennützig Ausgaben der Beigeladenen verhindern), ist ihr Antrag entsprechend § 123 SGG dahingehend
auszulegen, dass die Beigeladene ungeachtet der Er-stattung vorläufig verpflichtet wird, die Rentennachzahlung direkt
an die Antrag-stellerin auszuzahlen.
Da die Antragstellerin eine Erweiterung ihrer Rechtsposition anstrebt, ist eine einstweilige Anordnung in Form einer
Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG statthaft. Das Erstattungsverfahren erfolgt zwischen den
Behörden nicht in Form eines Verwaltungsaktes, so dass ein Rechtsschutz nach § 86b Abs. 1 SGG ausscheidet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes mit Bezug
auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint. Eine solche Anordnung setzt sowohl einen Anordnungsanspruch (materielles Recht, für das einstweiliger
Rechtsschutz geltend gemacht wird) als auch einen Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit im Sinne der Notwendigkeit
einer vorläufigen Regelung, weil ein Abwarten auf eine Entscheidung nicht zuzumuten ist) voraus. Sowohl
Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920
Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung).
Im vorliegenden Fall fehlt es sowohl an einem Anordnungsanspruch als auch an einem Anordnungsgrund.
Ein Anordnungsanspruch auf Auszahlung der erstatteten Rentennachzahlung be-steht nicht. Die Antragstellerin hat im
Erstattungsverfahren gegenüber der An-tragsgegnerin und gegenüber der Beigeladenen keine eigenen Rechte. Die An-
tragstellerin kann Ansprüche auf Auszahlung der Rentennachzahlung auf Grund-lage des
Rentenbewilligungsbescheids nur gegenüber der Beigeladenen geltend machen (vgl. von Wulffen, SGB X, 6. Auflage,
§ 107 Rn. 2 und 9). Diese Ansprü-che sind jedoch gemäß § 107 SGB X erloschen, soweit der Erstattungsanspruch
bestand.
Hier besteht ein Erstattungsanspruch der Antragsgegnerin nach § 104 Abs. 1 SGB X. Die Antragsgegnerin ist gemäß
§ 5 SGB II im Verhältnis zu einer Rentenbewilli-gung nachrangig verpflichtet. Die Rente ist gemäß § 9 Abs. 1, § 11
SGB II als Ein-kommen anzurechnen und mindert die Hilfebedürftigkeit und damit den Anspruch auf Arbeitslosengeld
II. Der Rechtsgrund für die Leistung von Arbeitslosengeld II ist nicht nachträglich weggefallen (vgl. oben keine
rückwirkende Aufhebung der Bewilligung und § 44a SGB II als Nahtlosigkeitsregelung), so dass kein Fall von § 103
SGB X vorliegt. Die Leistungen sind gleichartig hinsichtlich Leistungszweck und Leistungszeit. Die strittige Leistung
(Rentennachzahlung) hat die Beigeladene nicht erbracht vor Kenntnis der Leistung von Arbeitslosengeld II. Der
Umfang des Erstattungsanspruchs und damit das Erlöschen des Zahlungsanspruchs bemisst sich nach dem
Rentenanspruch (§ 104 Abs. 3 SGB X). Berechnungsfehler sind nicht ersichtlich (vgl. Erstattungsberechnung vom
28.04.2008), insbesondere übersteigt das geleistete Arbeitslosengeld II (im strittigen Zeitraum 6.034,33 Euro) die
Rentenbewilligung für diese Zeit (5.305,14 Euro), so dass die vollständige Auszahlung der Rentennachzahlung an die
Antragsgegnerin zutreffend ist.
Die Antragstellerin ist nochmals darauf hinzuweisen, dass sie unter keinen Umständen das Arbeitslosengeld II und
zusätzlich die Rente für die gleiche Zeit bekommen kann. Die von der Antragsgegnerin erhaltenen Leistungen werden
von der Rentennachzahlung abgezogen.
Es fehlt auch an einem Anordnungsgrund. Die Antragstellerin erhält laufend eine Rente, die den bisherigen Bedarf an
Arbeitslosengeld II abdeckt. Es ist keine ak-tuelle Notlage erkennbar, die eine vorläufige gerichtliche Regelung zur
Abwen-dung wesentlicher Nachteile nötig erscheinen lässt.
Die Erstattung der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung war nicht Gegenstand dieses Verfahrens.
3. Kostenentscheidung
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
4. Prozesskostenhilfe
Prozesskostenhilfe (PKH) ist nach § 73a Abs. 1 SGG i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) einem. Antragsteller zu
gewähren, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur
zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichend Aussicht auf Erfolg
bietet und nicht mutwillig erscheint. Eine hinreichende Erfolgsaussicht bestand hier nicht.