Urteil des SozG München vom 10.07.2008

SozG München: geburt, kinderreiche familie, eltern, erwerbstätigkeit, mutterschaft, krankheit, finanzpolitik, zahl, bilanz, beitragszeit

Sozialgericht München
Urteil vom 10.07.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 30 EG 56/08
Bayerisches Landessozialgericht L 9 EG 52/08
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 11.01.2008 in der Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 07.04.2008 wird
abgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Elterngeldes. Die 1971 geborene Klägerin beantragte am
19.12.2007 beim Beklagten die Zahlung von Elterngeld wegen Erziehung ihrer 2007 geborenen Tochter L. S. J. für die
Lebensmonate 1 bis 12. Sie forderte, für die Berechnung des Elterngeldes nicht das Ein-kommen im letzten Jahr vor
der Geburt ihrer Tochter heranzuziehen, sondern das vor der Geburt ihres ersten Kindes G. 2002 erzielte Einkommen.
Als Beamtin des höheren Dienstes habe sie von 1996 bis September 2002 ein volles Arbeitseinkommen bezogen.
Dieser Zeitraum sei zu berücksichtigen. Für die Jahre 2002 bis 2008 dokumentierte sie eine Chronologie von
Elternzeiten, einer kurzfristigen Berufstätigkeit von fünf Monaten sowie Lehraufträgen und Nebentätigkeiten. Eine
Berücksichtigung lediglich des letzten Jahres vor der Geburt von L. würde Art. 6 des Grundgesetzes (GG)
widersprechen. Man könne nicht dadurch schlechter gestellt sein, dass man bereits Kinder habe und nun nicht das
erste Kind bekomme, vor dessen Geburt man naturgemäß voll habe arbeiten können. Mit Bescheid vom 11.01.2008
bewilligte der beklagte Freistaat das beantragte Elterngeld. Für die den Zeitraum vom Dezember 2007 bis Juni 2008
wurde außerhalb der Phase des Bezuges anrechnungspflichtiger beamtenrechtlicher Bezüge entsprechend dem
Mutter-schaftsgeld monatlich ein Zahlbetrag von EUR 375, 00 festgesetzt, für die Folgezeit ein Zahlbetrag von
monatlich EUR 300,00. Dem Begehren, das Elterngeld aus dem Einkom-men in einem früheren Zeitraum als den
zwölf Monaten vor der Geburt von L. zu berech-nen, wurde nicht gefolgt. Zur Begründung wurde ausgeführt, die
Erwerbstätigkeit der Klä-gerin sei nicht wegen einer auf die Schwangerschaft zurückzuführenden Krankheit
weggefallen. Die gleichzeitige Erziehung älterer Kinder könne vorliegend nur durch die Be-rücksichtigung des
Geschwisterbonus bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres von G. begünstigt werden. Die Klägerin erhob
hiergegen am 07.05.2007 Widerspruch und beanstandete erneut die Zugrundelegung ihres Einkommens in den letzten
zwölf Monaten vor der Geburt von L ... Zur Maßgeblichkeit eines vor der Geburt des Kindes bestehenden
Beschäftigungsverhält-nisses dürfe im Übrigen nicht die Frage nach einem zugeflossenen Entgelt gestellt wür-den
werden, sondern müsse der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses bei lediglichem Ruhen der Hauptleistungspflichten
in Betracht gezogen werden. Im Hinblick auf die gebo-tene Förderung insbesondere der sozialpolitisch gewünschten
und für die Entwicklung der Kinder vorteilhaften Mehrkindfamilien seien die angewendeten Regelungen grundgesetz-
widrig. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 07.04.2008 zurück. Die Klage verlangt
weiterhin die Berechnung des Elterngeldes auf der Basis des vor der Geburt von G. erzielten Einkommens.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 11.01.2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 07.04.2008 zu verurteilen, an die Klägerin Elterngeld in Höhe von insgesamt 19.702,83
EURO wie folgt zu zahlen:
- für den Zeitraum vom 07.12.07 – 06.01.08 den Betrag von 944,63 EUR, - für den Zeitraum vom 07.01.08 – 06.02.08
den Betrag von 1.118,68 EUR, - für den Zeitraum vom 07.02.08 – 06.06.08 den Betrag von 1.800,00 EUR monatlich, -
für den Zeitraum vom 07.06.08 – 06.12.08 den Betrag von 1.739,92 EUR monatlich.
hilfsweise den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin Elterngeld in Höhe von ins-gesamt 18.319,02 EUR wie folgt
zu zahlen:
- für den Zeitraum vom 07.12.07 – 06.01.08 den Betrag von 824,33 EUR, - für den Zeitraum vom 07.01.08 – 06.02.08
den Betrag von 998,39 EUR, - für den Zeitraum vom 07.02.08 – 06.06.08 den Betrag von 1.694,63 EUR monatlich, -
für den Zeitraum vom 07.06.08 – 06.12.08 den Betrag von 1.619,63 EUR monatlich.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat die Akten des Beklagten beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakte
sowie auf den gesamten Akteninhalt verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsver-fahrens form- und fristgerecht
beim zuständigen Gericht erhoben und ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage auch statthaft. Die
zulässige Klage erweist sich jedoch in der Sache als unbegründet. Der Beklagte hat wortgetreu § 2 Abs. 1 Satz 1 des
Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes (BEEG) an-gewendet, wonach das Elterngeld in Höhe von 67 Prozent des
in den zwölf Kalendermo-naten vor dem Monat der Geburt des Kindes durchschnittlich erzielten monatlichen Ein-
kommens aus Erwerbstätigkeit bis zu einem Höchstbetrag von 1800 Euro monatlich ge-zahlt wird. Unter
Berücksichtigung der Vorschrift des § 2 Abs. 2 für die Berechnung des Elterngeldes nach Bezug von nur geringem
Einkommen hat der Beklagte des weiteren § 2 Abs. 5 angewendet, wonach Elterngeld mindestens in Höhe von 300
Euro monatlich ge-zahlt werde. Das hiernach errechnete Elterngeld hat der Beklagte sodann nach § 2 Abs. 4 S. 1 um
den "Geschwisterbonus" erhöht. Eine Verschiebung des für die Ermittlung der Bemessungsgrundlage des
Elterngeldes maßgeblichen Zeitraums ist im BEEG nicht vorgesehen. Die Regelung des § 2 Abs. 7 S. 6 BEEG,
wonach Teile des maßgeblichen Zwölf-Monats-Zeitraums wegen schwanger-schaftsbedingter Erkrankung ohne
Berücksichtigung bleiben können, ist für die Klägerin nicht relevant. Die Klägerin bestreitet nicht die
buchstabengetreue Anwendung der zitierten Vorschriften, hält sie aber für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und
demgemäß nichtig. Würde das Gericht zu der Überzeugung gelangen, § 2 BEEG verstoße gegen das Grundgesetz,
könnte es Elterngeld nicht unmittelbar in der verlangten Höhe zusprechen, sondern müss-te wie von der Klägerin
indirekt angeregt unter Aussetzung des Verfahrens nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG in Verbindung mit § 80
Bundesverfassungsgerichtsgesetz seine Überzeu-gung von der Verfassungswidrigkeit der Vorschrift dem
Bundesverfassungsgericht vortra-gen und eine Entscheidung von dort einholen. Das Gericht ist nicht zur Überzeugung
von einem Verstoß des § 2 BEEG gegen das Grundgesetz und insbesondere gegen das Gebot des besonderen
Schutzes der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG gelangt. Um die angegriffene Vorschrift zu bewerten, hatte das Ge-richt
die Stellung des BEEG im sozialrechtlichen Zusammenhang zu betrachten. Der Ge-setzgeber oder politisch
gesprochen wechselnde parlamentarische Mehrheiten haben das seit Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 zu
beachtende Sozialstaatsprinzip je nach Zeitumständen, Haushaltsspielräumen und wechselnden Wertvorstellungen
recht unter-schiedlich ausgefüllt. Die Förderung von Familien mit Kindern ist ein Beispiel für die große Breite sehr
unterschiedlicher und dennoch jeweils grundgesetzkonformer Varianten. Die unmittelbare Zuwendung von
Geldleistungen begann in den fünfziger Jahren zögernd mit Kindergeld in recht bescheidener Höhe. Zunächst blieb
maßgeblich das Bild der Familie mit dem allein verdienenden Mann und der Hausfrau, die kein Erwerbseinkommen
bezieht und daher in Zeiten der Kindererziehung keine Einbuße an Haushaltseinkommen und künftiger
Rentenerwartung erleidet. Die von den sechziger Jahren an stetig zurückgehen-den Geburtenzahlen ließen in Politik,
Sozialwissenschaften und Medien das Bewusstsein für die Notwendigkeit wachsen, mit sozialpolitischen Mitteln nicht
nur Familien mit Kindern und insbesondere kinderreiche Familie zu unterstützen, sondern auch vorsorgend die Be-
reitschaft zum "Kinderkriegen" zu fördern. Hierbei wurde die gewandelte Rollenverteilung in den Familien thematisiert.
Inzwischen waren immer mehr Frauen berufstätig und muss-ten im Falle ihrer Mutterschaft einen Konflikt zwischen
Berufstätigkeit, beruflicher Weiter-entwicklung, Beitrag zum Haushaltseinkommen und Aufbau einer eigenständigen
Alters-versorgung auf der einen Seite und der zeitlichen Inanspruchnahme durch die Kinderer-ziehung auf der anderen
Seite lösen. Ein maßgebliches Datum der Gesetzgebungsge-schichte zur Milderung dieser Konfliktlage wurde der
01.01.1986, der mit den drei Säulen - Erziehungsgeld, - Erziehungsurlaub und - Erziehungszeit als Beitragszeit in der
Rentenversicherung die Förderung von Familien mit Kindern auf ein im historischen und internationalen Maß-stab
hohes Niveau hob. Für Eltern von Kindern, die ab 01.01.1992 geboren wurden, wur-de später die Dauer der für die
gesetzliche Rente anrechenbaren Kindererziehungszeit von einem Jahr auf drei Jahre erhöht. Die bekannten
Schwierigkeiten der Finanzpolitik führten dazu, dass das Erziehungsgeld durch Verschärfung der
Einkommensgrenzen mit Wirkung ab 01.01.2004 auf eine Unter-stützung von gering verdienenden Eltern reduziert
wurde. Die Bilanz nach beinahe zwei Jahrzehnten Erziehungszeiten, Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld war
ernüchternd: die Zahl der Geburten war nicht wie erhofft angestiegen. Junge Familien und Paare, die einen
Kinderwunsch nicht realisierten oder seine Verwirklichung auf bessere Zeiten ver-schoben, konnten eine Vielzahl
stichhaltiger Einwände gegen die Effektivität der einge-führten Regelungen erheben. Insbesondere die immer
zahlreicheren gut ausgebildeten und demgemäß im Arbeitsleben erfolgreichen und gut verdienenden Frauen verwiesen
auf den steilen Abbruch ihrer Einkünfte und ihrer Karrieren im Falle einer Mutterschaft bei völlig unzureichendem
Ausgleich durch Sozialleistungen und Steuervorteile. Die seit 2005 amtierende Bundesregierung und die sie
unterstützenden Bundestagsfrakti-onen entschieden sich deshalb für einen Modellwechsel von dem inzwischen
deutlich an der Bedürftigkeit orientierten Erziehungsgeld zu einem Elterngeld, das insbesondere be-ruflich hoch
qualifizierten und entsprechend hoch verdienenden Müttern für die Zeit der mehr oder weniger ausschließlichen
Betreuung ihres Kleinkindes nicht nur einen Zu-schuss, sondern einen echten Ausgleich für das entgangene
Einkommen bieten soll. Die Berechnung der Leistungen nach § 2 Abs. 1 BEEG lässt eine Orientierung am Arbeitslo-
sengeld nach § 129 Sozialgesetzbuch III (SGB III) erkennen. Es liegt auf der Hand, dass das Gesetz mit der
Berechnung der Leistung aus den Einkünf-ten in den zwölf Monaten unmittelbar vor Geburt des Kindes die
kontinuierlich und intensiv berufstätigen Eltern begünstigt, während es diejenigen Eltern benachteiligt, in deren Bio-
grafie die volle und gut bezahlte Erwerbstätigkeit vor der Geburt des Kindes fehlt oder nur zeitweise realisiert wurde.
Diese Benachteiligung nimmt der Gesetzgeber auch hin, wenn die Erwerbstätigkeit durch unverschuldete Tatbestände
wie Krankheit oder Arbeitslosig-keit oder durch die verdienstvolle Erziehung von älteren Kindern beeinträchtigt wurde.
Benachteiligt sind aber selbstverständlich auch Frauen, die ihre Kinder in einem aus bio-logisch-medizinischer Sicht
sehr günstigen noch recht jugendlichen Lebensalter zur Welt bringen, in dem für eine entgeltliche Erwerbstätigkeit
bislang noch wenig Zeit war. Die Abiturientin oder Studentin wird als Mutter vom BEEG also genauso auf dem alten
Erzie-hungsgeld-Niveau gelassen wie die nach dem einfacheren Schulabschluss stets arbeits-los gewesene Frau oder
die Mutter, die wie die Klägerin schon vor längerer Zeit den Schwerpunkt ihres Lebens langfristig vom höchst
erfolgreichen Beruf in Richtung Familie verlagert hat. Das Gericht hat in der lebhaften Diskussion über den politischen
Sinn der getroffenen Re-gelungen nicht Stellung zu beziehen und über ihre Dauerhaftigkeit im stetigen Wechsel
politischer Wertvorstellungen und Programme keine Prognose abzugeben. Es hat jedoch keine Zweifel daran, dass
die Detailregelungen des BEEG im Gesamtzusammenhang staatlicher Familienförderung, also insbesondere
zusammen mit den Regelungen über Kindergeld, Steuerfreibeträge, Anrechnung rentenrechtlicher Zeiten und die
Förderung von Betreuungsmöglichkeiten insgesamt dem Gebot des Grundgesetzes entsprechen, Familie und Kinder
zu schützen und zu fördern. Generell ist der Hinweis erlaubt, dass das Elterngeld eine möglichst schnell auszuzahlen-
de für eine überschaubare Zeitdauer bestimmte Sozialleistung ist, bei deren Berechnung anders als etwa bei der für
Jahrzehnte bestimmten Altersrente keine allzu verästelte Diffe-renzierung nach Lebens-, Einkommens- und
Bedarfslagen und nach der jeweiligen indivi-duellen Vorgeschichte der Mütter und Väter möglich ist. Jede zusätzliche
Berücksichti-gung von weiterer Tatbestände, wie sich mit den unüberschaubar vielfältigen gesundheit-lichen und
sozialen Situationen von Vätern und Müttern und bereits vorhandenen Kindern der anspruchsberechtigten Eltern (und
nicht zu vergessen der Großelterngeneration!) de-finieren lassen und wie sie dem Gericht auch ständig in großer
Variantenbreite vorgetra-gen werden, würde wiederum zur Entdeckung weiterer schmerzlich erlebter Lücken im
System führen. Jedes Sozialgesetz muss den Konflikt zwischen Einzelfallgerechtigkeit und der Wahrung der
Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems meistern. Die Klägerin hat beim Gericht keinen Zweifel daran geweckt, dass
der Gesetzgeber diesen Konflikt mit den Vorschriften über die Berechnung des Elterngeldes in verfassungskonformer
Weise gelöst hat. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).