Urteil des SozG München vom 22.09.2008

SozG München: altersrente, abschlag, erwerbsfähigkeit, erwerbsunfähigkeit, reform, rücknahme, ergänzung, angriff

Sozialgericht München
Gerichtsbescheid vom 22.09.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht München S 30 LW 31/08
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 15.03.2007 in der Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 22.04.2008 wird
abgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig zwischen den Beteiligten sind Abschläge auf die Erwerbsminderungsrente des Klägers durch Anwendung
eines verminderten allgemeinen Rentenwertes. Der Kläger ist geboren 1943. Die Beklagte erkannte ihm mit Bescheid
vom 24.07.2003 für die Zeit ab 01.12.2002 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu. Die Rente war durch
Anwendung eines verminderten Rentenwertes von 11,08 um 7,2 % niedriger be-rechnet als bei voller Berücksichtigung
der Beitragsleistung des Klägers. Mit einem Antrag vom 13.03.2007 auf teilweise Rücknahme des Rentenbescheides
be-gehrte der Kläger eine Berechnung der Rente mit ungekürztem Rentenwert. Er berief sich auf das Urteil des
Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.05.2006 mit dem Az. B 4 RA 22/05 R, wonach Renten der allgemeinen
Rentenversicherung wegen Erwerbsminderung vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Berechtigten mit einem
Zugangsfaktor von 1,0 zu berechnen seien. Die Beklagte wies den Überprüfungsantrag mit Bescheid vom 15.03.2007
und nach Erhebung eines Widerspruchs auch mit Widerspruchsbescheid vom 22.04.2008 zurück.
Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 15.03.2007 in der Gestalt des Wi-
derspruchsbescheides vom 22.04.2008 zu verpflichten, ihm die Rente wegen Er-werbsminderung ohne Abschlag zu
gewähren. Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat die Akten der Beklagten beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakte
sowie auf den gesamten Akteninhalt verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsver-fahrens form- und fristgerecht
beim zuständigen Gericht erhoben und ist somit zulässig. Die Klage ist in der Sache nicht begründet. Die Mitte der
achtziger Jahre in Angriff ge-nommene Rentenreform diente unter anderem dem von finanzpolitischen und demogra-
phischen Zwängen diktierten Ziel, die jahrzehntelang beobachtete und lange Zeit auch bewusst geförderte Tendenz zu
einem immer früheren Eintritt in den Ruhestand zu be-grenzen und umzukehren. Dies geschah durch eine schrittweise
Heraufsetzung der für die verschiedenen Altersrenten gültigen Altersgrenzen unterhalb der Vollendung des 65.
Lebensjahres. Fernziel war es, Altersrenten in der Regel erst ab Vollendung des 65. Lebensjahres zu erbringen. Um
dadurch individuell eintretende Härten zu mildern, führte der Gesetzgeber ins Rentenrecht neu ein die
Gestaltungsmöglichkeit und den Beg-riff der "vorzeitigen Inanspruchnahme". In der Endstufe der Heraufsetzung der
Altersgren-zen sollten die bisherigen Möglichkeiten eines Eintritts in die Altersrente vor Vollendung des 65.
Lebensjahres äußerstenfalls drei Jahre vor diesem Termin mit Vollendung des 62. Lebensjahres eingeräumt werden.
Um die Heraufsetzung der Altersgrenzen nicht wir-kungslos zu machen, verband der Gesetzgeber jedoch die
vorzeitige Inanspruchnahme mit einer für die gesamte lebenslange Laufzeit der Rente gültigen Absenkung des Zahlbe-
trages. Dies geschah durch die Regelung des § 77 Abs. 2 Nr. 2 a) Sozialgesetzbuch VI (SGB VI), wonach der in die
Rentenformel neu aufgenommene und bei den mit Vollen-dung des 65. Lebensjahres beginnenden Regelaltersrenten
mit einem Betrag von 1,0 ma-thematisch neutrale Zugangsfaktor bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente für
jeden Kalendermonat der vorzeitigen Inanspruchnahme um 0,003 % abgesenkt wird. Weil die Vorschriften über die
Bezugsvoraussetzungen für die einzelnen Altersrenten die vor-zeitige Inanspruchnahme um bis zu 36
Kalendermonate möglich machen, ergibt sich als schärfste Absenkung des Zugangsfaktors ein Abschlag von 0,003 %
x 36 = 10,8 %. Es lag auf der Hand, dass die gesetzgeberische Maßnahme weithin wirkungslos gewor-den wäre,
wenn man langfristig die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 44 SGB VI in der vor 01.01.2001 gültigen Fassung
beibehalten hätte, die wie eine Regelaltersrente mit dem Zugangsfaktor 1,0 zu berechnen war. Daher erweiterte das
Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000 (BGBl. I S. 1827) den An-
wendungsbereich des § 77 Abs. 1 S. 1 SGB VI auf die Renten wegen Erwerbsminderung. Nr. 3 der Vorschrift
bestimmt seitdem, dass auch bei einer vor Vollendung des 63. Le-bensjahres in Anspruch genommenen Rente wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit der Zugangsfaktor um 0,003 % abgesenkt wird. § 264 c SGB VI in Verbindung mit
Anlage 23 SGB VI i.d.F. von 01.01.2001 bis 31.12.2003 ließ die Absenkung des Zugangsfaktors bei einem
Rentenbeginn zwischen 01.01.2001 und 31.12.2003 stufenweise wirksam werden. Für die aus der Alterssicherung der
Landwirte zu zahlenden Renten wegen Erwerbsmin-derung wurden diese Regelungen durch eine Neufassung des § 23
Abs. 8 bis 10 des Ge-setzes über die Alterssicherung der Landwirte (ALG) ebenfalls zum 01.01.2001 zur Wirksamkeit
gebracht. Das vom Kläger zitierten Urteil vom 16.05.2006 des 4. Senats des BSG legte § 77 SGB VI zur
Überraschung der Fachwelt dahingehend aus, dass diese Vorschrift eine Absenkung von Zugangsfaktoren bei
Rentenbezug vor Vollendung des 60. Lebensjahres nicht vorse-he. Dieses Urteil stieß in der sozialrechtlichen Literatur
wie auch der ganz überwiegenden Rechtsprechung der Sozialgerichte und Landessozialgerichte auf Ablehnung. Mit
Urteilen vom 14.08.2008 hat der 5. Senat des BSG nun vier Revisionen zur Absenkung des Zu-gangsfaktors
zurückgewiesen (Az. B 5 R 32 und 88 und 98 und 140/07) und damit die Rechtsprechung des für Rentenversicherung
nicht der zuständigen 4. Senates aufgege-ben. Für eine Zusprache des Klagebegehrens unter Beachtung des Urteils
vom 16.05.2006 ist daher auch auf dem Gebiet der Alterssicherung der Landwirte kein Raum mehr. Die Beteiligten
wurden zu einer Entscheidung über den Rechtsstreit auf schriftlichem We-ge mittels Gerichtsbescheides angehört.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).