Urteil des SozG München vom 16.07.2008

SozG München: abschlag, altersrente, erwerbsfähigkeit, erwerbsunfähigkeit, wiedervereinigung, energie, einfluss, bedrohung, aussetzen, geldanlage

Sozialgericht München
Gerichtsbescheid vom 16.07.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 30 LW 21/08
Bayerisches Landessozialgericht L 6 LW 37/08
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 24.01.2008 in der Gestalt des Widerspruchs-bescheides vom 25.03.2008 wird
abgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig zwischen den Beteiligten sind Abschläge auf die Erwerbsminderungsrente des Klägers durch Anwendung
eines verminderten allgemeinen Rentenwertes. Der Kläger ist geboren 1965. Die Beklagte erkannte ihm mit Bescheid
vom 24.01.2018 für die Zeit ab 01.02.2008 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu. Die Rente war durch
Anwendung eines verminderten Rentenwertes von 10,82 um 10,8 % niedriger be-rechnet als bei voller
Berücksichtigung der Beitragsleistung des Klägers. Mit seinem Wi-derspruch hiergegen begehrte der Kläger eine
Berechnung der Rente mit ungekürztem Rentenwert. Er berief sich auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG)
vom 16.05.2006 mit dem Az. B 4 RA 22/05 R, wonach Renten der allgemeinen Rentenversicherung wegen
Erwerbsminderung vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Berechtigten mit einem Zu-gangsfaktor von 1,0 zu
berechnen seien. Die Beklagte wies den Widerspruch mit dem an-gegriffenen Widerspruchsbescheid vom 25.03.2008
zurück. Die Klage hiergegen rügt ei-nen Verfassungsverstoß durch § 23 des Gesetzes über die Alterssicherung der
Landwirte (ALG). Die Rentenversicherung habe ein "Systemversprechen" zu wahren, einem er-werbsgeminderten
Versicherten eine Rente mit dem vollen Wert seiner Vorleistungen zu erbringen. Dies sei nur durch Anwendung eines
Zugangsfaktors von 1,0 bzw. durch ent-sprechende Rechtsgestaltung in der Alterssicherung der Landwirte
gewährleistet. Die derzeit gültigen Regelungen seien mit Art. 3 und 14 des Grundgesetzes (GG) nicht ver-einbar.
Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 24.01.2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 25.03.2008 zu verpflichten, ihm die Rente wegen Er-werbsminderung ohne Abschlag zu
gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat die Akten der Beklagten beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakte
sowie auf den gesamten Akteninhalt verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsver-fahrens form- und fristgerecht
beim zuständigen Gericht erhoben und ist somit zulässig. Die Klage ist in der Sache nicht begründet. Die Mitte der
achtziger Jahre in Angriff ge-nommene Rentenreform, die ihren vorläufigen Abschluss in der Ablösung des 4. Buches
der Reichsversicherungsordnung und des Angestelltenversicherungs-Gesetzes durch das Sozialgesetzbuch VI (SGB
VI) zum 01.01.1992 fand, diente unter anderem dem von fi-nanzpolitischen und demographischen Zwängen diktierten
Ziel, die jahrzehntelang beo-bachtete und lange Zeit auch bewusst geförderte Tendenz zu einem immer früheren Ein-
tritt in den Ruhestand zu begrenzen und umzukehren. Dies geschah durch eine schritt-weise Heraufsetzung der für die
verschiedenen Altersrenten (früher "Altersruhegelder") gültigen Altersgrenzen unterhalb der Vollendung des 65.
Lebensjahres, insbesondere der unter gewissen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gültigen Grenze von 60
Jahren für Frauen, Arbeitslose und anerkannt erwerbsunfähige, berufsunfähige oder schwer-behinderte Personen
sowie der Altersgrenze von 63 Jahren für langjährig Versicherte. Fernziel war es, Altersrenten in der Regel erst ab
Vollendung des 65. Lebensjahres zu erbringen. Um dadurch individuell eintretende Härten zu mildern, führte der
Gesetzgeber ins Rentenrecht neu ein die Gestaltungsmöglichkeit und den Begriff der "vorzeitigen Inan-spruchnahme".
In der Endstufe der Heraufsetzung der Altersgrenzen sollten die bisheri-gen Möglichkeiten eines Eintritts in die
Altersrente vor Vollendung des 65. Lebensjahres äußerstenfalls drei Jahre vor diesem Termin mit Vollendung des 62.
Lebensjahres einge-räumt werden (s. §§ 36, 37 Abs. 2, 236 Abs. 1 S. 3, 236 a Abs. 1 S. 3, 237 a Abs. 3 S. 2 und 237
a Abs. 2 S. 2 SGB VI in ihren derzeit geltenden im Vergleich zu 1992 schon wie-der vielfach veränderten Fassungen).
Um die Heraufsetzung der Altersgrenzen nicht wir-kungslos zu machen, verband der Gesetzgeber jedoch die
vorzeitige Inanspruchnahme mit einer für die gesamte lebenslange Laufzeit der Rente gültigen Absenkung des Zahlbe-
trages. Dies geschah durch die Regelung des § 77 Abs. 2 Nr. 2 a) SGB VI, wonach der in die Rentenformel neu
aufgenommene und bei den mit Vollendung des 65. Lebensjahres beginnenden Regelaltersrenten mit einem Betrag
von 1,0 mathematisch neutrale Zu-gangsfaktor bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente für jeden
Kalendermonat der vorzeitigen Inanspruchnahme um 0,003 % abgesenkt wird. Weil die zitierten Vorschrif-ten über die
Bezugsvoraussetzungen für die einzelnen Altersrenten die vorzeitige Inan-spruchnahme um bis zu 36
Kalendermonate möglich machen, ergibt sich als schärfste Absenkung des Zugangsfaktors ein Abschlag von 0,003 %
x 36 = 10,8 %. Es lag auf der Hand, dass die gesetzgeberische Maßnahme weithin wirkungslos gewor-den wäre,
wenn man langfristig die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 44 SGB VI in der vor 01.01.2001 gültigen Fassung
beibehalten hätte, die wie eine Regelaltersrente mit dem Zugangsfaktor 1,0 zu berechnen war. Je deutlicher sich die in
Abhängigkeit von Ge-burtsmonaten definierte stufenweise Heraufsetzung der Altersgrenzen auswirkte, um so häufiger
wäre zu erwarten gewesen, dass Versicherte zwischen der Vollendung des 60. und des 65. Lebensjahres unter
Berufung auf die in dieser Altersgruppe häufigen gesund-heitlichen Beschwerden versucht hätten, mit Erlangung einer
ungekürzten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit anstelle einer Altersrente deren ungünstigere Berechnung auszuhe-beln.
Daher erweiterte das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbs-fähigkeit vom 20.12.2000 (BGBl. I
S. 1827) den Anwendungsbereich des § 77 Abs. 1 S. 1 SGB VI auf die Renten wegen Erwerbsminderung. Nr. 3 der
Vorschrift bestimmt seitdem, dass auch bei einer vor Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommenen
Ren-te wegen verminderter Erwerbsfähigkeit der Zugangsfaktor um 0,003 % abgesenkt wird. § 264 c SGB VI in
Verbindung mit Anlage 23 SGB VI i.d.F. von 01.01.2001 bis 31.12.2003 ließ die Absenkung des Zugangsfaktors bei
einem Rentenbeginn zwischen 01.01.2001 und 31.12.2003 stufenweise wirksam werden. Für die aus der
Alterssicherung der Landwirte zu zahlenden Renten wegen Erwerbsmin-derung wurden diese Regelungen durch eine
Neufassung des § 23 Abs. 8 bis 10 des Ge-setzes über die Alterssicherung der Landwirte (ALG) ebenfalls zum
01.01.2001 zur Wirk-samkeit gebracht. Anders als vom 4. Senat des BSG in der vom Kläger zitierten Entscheidung
befürchtet kann die Anwendung von § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 den Zahlbetrag einer Rente wegen Er-werbsminderung
nicht unbegrenzt und gar bis auf Null absenken. Satz 2 der Vorschrift bestimmt nämlich bei einem Rentenbeginn vor
Vollendung des 60. Lebensjahres die Vollendung des 60. Lebensjahres als für die Bestimmung des Zugangsfaktors
maßge-bend. Satz 3 stellt klar, dass die Zeit des Bezuges einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres nicht als
Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gilt. Nur wenn man wie der 4. Senat des BSG in der zitierten Entscheidung
diesen Satz isoliert liest, gelangt man zu dem eigenartigen Ergebnis, dass er die in S. 1 Nr. 3 eingeführte Regelung
für die weit-aus meisten Fälle eines Rentenbezuges wegen verminderter Erwerbsfähigkeit wieder au-ßer Kraft setzt
und die Versicherten nur in dem Intervall zwischen Vollendung des 60. und des 63. Lebensjahres mit einer vom
System her völlig unerklärbaren Absenkung der Ren-te belastet. Der Zusammenhang zwischen den Sätzen 2 und 3
führt zu der Erkenntnis, dass genau wie oben ausführlich für die Altersrenten dargestellt für die Renten wegen
Erwerbsminderung ein Abschlag von 0,003 % für jeden Monat der vorzeitigen Inan-spruchnahme gelten soll und dass
der gesamte Abschlag seine Grenze im 36-fachen die-ser Zahl finden soll. Ob der Gesetzgeber in § 77 Abs. 2 S. 3
anstelle der Worte "einer vor-zeitigen Inanspruchnahme" besser die Worte "einer noch vorzeitigeren
Inanspruchnahme" gewählt hätte, mag dahinstehen, weil die Vorschrift auch in der Gesetz gewordenen Fas-sung
eindeutig ist. Als Bestandteil einer Serie von Reformen, die durch zweifellos schmerzhafte Leistungs-kürzungen die
Funktionsfähigkeit der Rentenversicherung bewahren sollen, kann die Ab-senkung des Zugangsfaktors für die vor
Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommenen Renten wegen Erwerbsminderung nicht unter den
Aspekten von Willkür oder Verletzung von Eigentumsrechten als verfassungswidrig erkannt werden mit der Fol-ge,
dass das Gericht den Rechtsstreit aussetzen und dem Bundesverfassungsgericht sei-ne Überzeugung von einem in §
77 SGB VI und § 23 ALG enthaltenen Verstoß gegen das Grundgesetz vortragen müsste. Die Äquivalenz zwischen
erbrachten Beiträgen und den daraus resultierenden Leistungsansprüchen ist außerordentlich schwierig zu regeln und
zu beurteilen, allein schon deshalb, weil die gesetzliche Rentenversicherung einschließ-lich der Alterssicherung der
Landwirte ein Mischsystem zwischen Risikoversicherung, Geldanlage und sozialem Ausgleich darstellt, dass weder
mit Prinzipien der Versiche-rungsmathematik noch mit Zinsberechnungen des Bankwesens ausreichend erfasst wer-
den kann. Im Falle der Alterssicherung der Landwirte kommt hinzu, dass die aus diesem System gezahlten Renten
noch weit mehr als die Renten der allgemeinen Rentenversi-cherung auf staatlichen Subventionen beruhen, die aus
Steuermitteln erbracht werden. Die zu jedem einzelnen Zeitpunkt mit Beitragspflichten und Leistungsansprüchen für
meh-rere Generationen wirksame staatliche Alterssicherung ist in hohem Maße dem Einfluss von historischen
Ereignissen wie Krieg, Vertreibung und Wiedervereinigung, den gesell-schaftlichen Umbrüchen wie dem Rückgang der
Kinderzahl und der Erhöhung der Le-benserwartung sowie den Auf- und Abbewegungen der volkswirtschaftlichen
Konjunktur ausgesetzt. Es liegt auf der Hand, dass der Gesetzgeber bei der Anpassung der Renten-systeme und der
Erhaltung ihrer Funktionsfähigkeit einen breiten Spielraum besitzen muss. Keine gesellschaftliche Gruppe, also weder
Beitragszahler noch Rentner, weder kinderlose Personen noch kinderreiche Familien, weder Unternehmer noch
Beschäftigte können das Grundgesetz für ihr Begehren in Anspruch nehmen, von den Eingriffen ver-schont zu
bleiben, die sich nach dem Ende des historischen Ausnahmefalls eines dauer-haften Wirtschaftswachstums nach
dem Zweiten Weltkrieg unter den Bedingungen von stetigem Älterwerden der Bevölkerung, weltweiter Verteuerung der
Energie und der histo-risch beispiellosen Bedrohung durch die Veränderung des Weltklimas für die Privathaus-halte
künftig noch weniger vermeiden lassen werden als bisher. Nicht übersehen werden darf bei der Würdigung des
Gesamtsystems der Vorschriften zur Berechnung von Renten wegen Erwerbsminderung, dass gleichzeitig mit § 77
SGB VI auch § 59 SGB VI über die Dauer einer bei frühzeitigem Eintritt der Erwerbsminderung in die
Rentenberechnung einfließenden Zurechnungszeit geändert wurde. Nachdem das vor 01.01.1992 geltende Recht
diese Zurechnungszeit noch mit Vollendung des 55. Lebens-jahres enden ließ und § 59 Abs. 3 SGB VI i.d.F. bis
31.12.2000 die darüber hinausgehen-de Zeit bis zum vollendeten 60. Lebensjahr zu einem Drittel als Zurechnungszeit
aner-kannte, bestimmt § 59 SGB VI S. 2 i.d.F. ab 01.01.2001 ein Ende der Zurechnungszeit mit Vollendung des 60.
Lebensjahres. Diese nach § 253 a. i.V.m. Anlage 23 SGB VI i.d.F. vom 01.01.2001 bis 31.12.2003 im Gleichtakt zur
Absenkung des Zugangsfaktors wirk-sam gewordene Verbesserung gegenüber der alten Rechtslage darf als ein
gewisser Ausgleich für die Einführung geminderter Zugangsfaktoren für die Renten wegen Er-werbsminderung gelten
und lässt verfassungsrechtliche Bedenken gegen Teile der Ge-samtreform weiter in den Hintergrund treten. Die
Abweichung zu der zitierten Entscheidung des 4. Senats des BSG folgt dem in rechtssystematischer Hinsicht
überzeugenden Urteil des SG Aachen vom 09.02.2007 (Az. S 8 R 96/06) und der dort zitierten und inzwischen
angeschwollenen einhelligen Fachliteratur sowie den in dieselbe Richtung weisenden Anfragebeschlüssen des 5 b-
Senates des BSG vom 29.01.2008 mit den Az. B 5 a/5 R 32/07, B 5 a 88/07 und B 5 a 88/07. Die Beteiligten wurden
zu einer Entscheidung über den Rechtsstreit auf schriftlichem We-ge mittels Gerichtsbescheides angehört. Eine
Entscheidung mittels Gerichtsbescheid be-gegnet trotz der Abweichung von einer Einzelentscheidung der
höchstrichterlichen Recht-sprechung keinen Bedenken, weil sich zur Beurteilung der ausschließlich strittigen rechtli-
chen Frage aus einer mündlichen Verhandlung kein zusätzlicher Erkenntnisgewinn vor-stellen ließe. Die
Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).