Urteil des SozG München vom 13.03.2005

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Sozialgericht München
Urteil vom 13.03.2005 (rechtskräftig)
Sozialgericht München S 38 KA 1341/02
I. Der Bescheid der Beklagten vom 6. Juni 2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 16. Mai 2002 wird
insoweit aufgehoben, als die GOP 8651 bei der Angabe des Mittels "Aredia" abgesetzt wurde. Die Beklagte wird
verurteilt, diese abgesetzten Leistungen anzuerkennen und nachzuvergüten.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Tatbestand:
Gegenstand der zum Sozialgericht München eingelegten Klage ist die sachlich-rechnerische Richtigstellung im
Quartal 4/00, betreffend die Absetzung der GOP 8651.
Die Kläger betreiben eine internistische Gemeinschaftspraxis mit onkologischem Schwerpunkt.
Zur Begründung der Absetzung führte die Beklagte aus, der Ansatz der GOP 8651 erfordere die Angabe des
verwendeten Arzneimittels. Die Kläger hätten hier als Arzneimittel "Aredia" bzw. "Fudara" angegeben. Aredia sei aber
laut der "Roten Liste" kein "Chemotherapeutikum". Deshalb sei die GOP 8651 abzusetzen.
Der gegen den Erstbescheid eingelegte Widerspruch war nicht erfolgreich. Gegen die Bescheide legten die Kläger
Klage zum Sozialgericht München ein. Zur Klagebegründung wurde mit Schriftsatz vom 10.6.2002 ausgeführt, daß
sich die GOP 8651 lediglich auf den Regionalkassenbereich beziehe und auf die erste Onkologievereinbarung vom
12.11.1984 zurückgehe. Dagegen gelte im Ersatzkassenbereich die GOP 8655 und beruhe auf der zweiten
Onkologievereinbarung. Die Ziffern 8651 und 8655 hätten den gleichen Leistungsinhalt. Sie stellten eine
Sondervergütung für den durch die Chemotherapie bedingten Mehraufwand bezüglich technischer Ausstattung,
Logistik, Personal und Qualitätssicherung dar. Bei den Mitteln "Aredia" und "Fudara" handle es sich um
Bisphosphonate, die bei bestimmten Tumoren mit Skelettmanifestation (Mamma-Ca, Prostata-Ca) eingesetzt würden
und die die First-Line-Therapie mit konventionellen Zytostatika ersetzt hätten. Sie bewirkten den Zelltod durch
Apoptose. In dem Zusammenhang werde auf die beigefügte Literatur hingewiesen. Ferner werde darauf aufmerksam
gemacht, daß bis zum Quartal 3/00 ein Ansatz der GOP 8651 bei Verwendung von Bisphosphonaten ohne jegliche
Beanstandung akzeptiert worden sei, so daß allein dadurch ein gewisser Vertrauensschutz zu beanspruchen sei.
Die mündliche Verhandlung am 9.7.2003 wurde vertagt.
In der mündlichen Verhandlung am 23.3.2005 wurde die Sach- und Rechtslage mit den anwesenden Beteiligten
nochmals ausführlich erörtert. Der anwesende Kläger teilte u.a. mit, zum Zeitpunkt der ersten Onkologievereinbarung
im Jahre 1984 habe es überhaupt noch keine Bisphosphonate gegeben. Damaliger Standard bei der Behandlung von
Tumoren sei die Polychemotherapie gewesen. Unter Polychemotherapie sei seines Erachtens der wiederholte,
systematische, nach einem Regime orientierte Einsatz einer oder mehrerer Substanzen zur Behandlung von Tumoren
zu verstehen. Die Polychemotherapie sei durch die sequenzielle Monotherapie abgelöst worden, was bedeute, daß
einzelne Substanzen in höherer Dosis verabreicht werden, um die Potenz der Substanzen besser zu nutzen.
Das Mittel "Aredia" habe zunächst lediglich die Zulassung für die Bekämpfung der Hypercalzemie erhalten. Im
weiteren Verlauf sei Aredia unterstützend zur konventionellen Chemotherapie eingesetzt worden, bis es schließlich
(bereits im Jahre 2000) die herkömmliche Chemotherapie initial ersetzte. Die Praxis habe im Quartal 4/00 Aredia als
Einzeltheapie zur Behandlung von Tumoren eingesetzt.
Dagegen vertrat die Vertreterin der Beklagten die Auffassung, daß die Absetzung der GOP 8651 bei dem Einsatz des
Mittels "Aredia" gerechtfertigt sei. Denn bei Aredia handle es sich um einen sog. Osteolyse-Hemmstoff. Das alleinige
Nichtabsetzen in den Vorquartalen könne nicht zu einem Vertrauensschutz führen, auf den sich die Kläger berufen
könnten.
Der anwesende Kläger beantragte, den Bescheid der Beklagten vom 6.6.2001 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 6.5.2003 insoweit aufzuheben, als die Absetzung der Nr. 8651 bei Angabe des Mittels
"Aredia" erfolgte und die Beklagte zu verpflichten, die insoweit abgesetzten Leistungen anzuerkennen und
nachzuvergüten (die Absetzung der GOP 8651 bei der Patientin S. E. wird anerkannt).
Die Vertreterin der Beklagten beantragte, die Klage abzuweisen.
Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung war die Beklagtenakte. Im übrigen wird auf den sonstigen
Akteninhalt, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten sowie die Sitzungsniederschriften vom 9.7.2003 und
23.3.2005 verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zum Sozialgericht München eingelegte Klage ist zulässig und erweist sich auch als begründet.
Nach Auffassung der mit zwei Ärzten fachkundig besetzten Kammer sind die angefochtenen Bescheide aus mehreren
Gründen rechtswidrig.
Richtig ist, daß die Beklagte grundsätzlich zur sachlich-rechnerischen Richtigstellung befugt ist und zwar im
Primärkassenbereich gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1 BMV-Ä und im Ersatzkassenbereich aus § 34 Abs. 4 Satz 2 EKV-Ä.
In dem streitgegenständlichen Fall ist die Beklagte jedoch nicht befugt, die GOP 8651 sachlich-rechnerisch zu
berichtigen. Denn die Kläger haben Leistungen erbracht, die den Ansatz der GOP 8651 rechtfertigen.
Maßgeblich ist in erster Linie der Wortlaut der GOP 8651, der wie folgt lautet:
"Parenterale Polychemotherapie (das verwendete Arzneimittel ist in der Abrechnung angegeben), pro Behandlungsfall
zusätzlich zu dem Betrag nach Nr. 8650".
Wie sich aus den Äußerungen des in der mündlichen Verhandlung anwesenden Klägers und auch aus den
Äußerungen der Beratungsapotheker der Beklagten ergibt, ist der Begriff der "Polychemotherapie" schwer definierbar.
Soweit darunter gemeint sein soll, daß im Zusammenhang mit der Behandlung von Tumoren mehrere Substanzen
zum Einsatz kommen müssten, entspricht dies nicht mehr dem Stand der Medizin. Wie der anwesende Kläger in der
mündlichen Verhandlung am 23.3.2005 ausführt, ist heute medizinischer Standard die sog. sequenzielle
Monotherapie, d.h. einzelne Substanzen werden in höherer Dosierung verabreicht, um die Potenz der Substanzen
besser nutzbar zu machen. Im übrigen ist in der Onkologievereinbarung nirgends die Rede von der Notwendigkeit des
Einsatzes der "Polychemotherapie" im Sinne der Verwendung mehrerer Substanzen. Die Auslegung nach dem
Wortlaut ist somit nicht zielführend, da der verwendete Begriff der "Polychemotherapie" zumindest mehrdeutig und
mißverständlich ist sowie auch nicht der Onkologievereinbarung entspricht Vielmehr sind bei der Auslegung der GOP
8651 die Regelungen der Onkologievereinarung heranzuziehen und eine Orientierung an der im Ersatzkassenbereich
spiegelbildlichen Leistungsziffer (GOP 8655) vorzunehmen. Zweck der Onkologievereinbarung ist die Verbesserung
der Maßnahmen bei der onkologischen Versorgung (§ 1 der Onkologievereinbarung). Hierzu gehört insbesondere, dem
heutigen medizinischen Stand entsprechend eine Behandlung mit "Zytostatika", d.h. der Einsatz von Präparaten mit
zellwachstumshemmender oder zellvernichtender Wirkung. Eine solche Behandlung mit zwellwachstumshemmenden
oder zellvernichtenden Präparaten, die zugleich mit entsprechendem betriebswirtschaftlichen Aufwand (Ausstattung,
spezielles Personal, ärztlicher Aufwand) verbunden ist, soll über die GOP 8651 abgedeckt werden. Bei "Aredia"
handelt es sich um ein Präparat mit zellwachstumshemmender Wirkung.
Dabei ist nach Auffassung der mit zwei Ärzten fachkundig besetzten Kammer unschädlich, dass es sich hierbei nicht
um ein Zytostatikum im herkömmlichen Sinn handelt. "Aredia" gehört zu den Bisphosphonaten und wurde zunächst
ausschließlich als Ostolyse-Hemmstoff eingesetzt. Daraus erklärt sich auch, daß "Aredia" in der "Roten Liste" unter
B.1.3. in die Gruppe der Osteoporosemittel und Kalziumstoffwechselregulatoren aufgenommen wurde. Die Zuordnung
bestimmter Präparate in der Roten Liste ist ohne Bedeutung für die Frage, ob es sich um ein Zytostatikum handelt
oder nicht. Davon abgesehen wird selbst in der Roten Liste als Anwendungsbereich die "tumorindizierte
Hypercalzemie, Senkung der skelettbezogenen Morbiditätsrate bei Patientinnen mit vorwiegend osteolytischen
Knochenmetastasen ..." genannt. Somit ergibt sich auch aus der Roten Liste, daß es sich bei "Aredia" um ein
zellwachstumshemmendes Medikament handelt, das zur Behandlung bestimmter Tumoren (Mamma-Ca und Prostata-
Ca) zum Einsatz kommt. Daß "Aredia" zytostatische Wirkung beizumessen ist, ergibt sich auch eindeutig und
eindrucksvoll aus den klägerseits übersandten Unterlagen. Darin wird vielfach der zytostatische Effekt von "Aredia"
angesprochen.
Dem Sinn und Zweck der GOP 8651 entsprechend unter Berückschtigung der Onkologievereinbarung genügt für den
Ansatz der Ziffer jedoch nicht, daß es sich um ein Mittel handelt, dem zytostatische Wirkung beizumessen ist. Denn,
wie die Klägerseite richtig ausführt, soll mit der GOP 8651 der betriebswirtschaftliche Aufwand vergütet werden. Die
Kammer ist der Auffassung, daß "Aredia" nur mit einem vergleichbaren Aufwand verabreicht werden kann, wie dies
bei dem Einsatz von herkömmlichen Zytostatika der Fall ist. In dem Zusammenhang ist für den Ansatz der GOP 8651
nicht hinderlich, daß - wie das Gericht bei Durchsicht der Scheine feststellen konnte - zusätzlich in den
beanstandeten Fällen die GOP 16 in der damaligen Fassung angesetzt wurde (GOP 16: kontinuierliche Betreuung
eines dialysepflichtigen Patienten ... oder eines tumorkranken Patienten, einmal im Behandlungsfall). Denn bereits
aus der Leistungslegende der damaligen GOP 16 ist ersichtlich, daß hierdurch die allgemeine kontinuierliche
Betreuung eines Tumorkranken vergütet werden soll. Mit dieser Vergütungsposition ist jedoch die spezielle
Chemotherapie mittels Einsatz von Zytostatika nicht abgedeckt, so daß der gleichzeitige Ansatz der GOPs 16 und
8651 als zulässig zu erachten ist.
In dem anhängigen Verfahren, das das Quartal 4/00 betrifft, war auch aus Vertrauensschutzgründen eine sachlich-
rechnerische Richtigstellung, wie sie erfolgt ist, nicht zulässig. Denn, wie die Klägerseite ausführte, war das Quartal
4/00 das erste Quartal, in dem der Ansatz der GOP 8651 bei Angabe des Präparats "Aredia" beanstandet wurde.
Nicht nur in einem Vorquartal, sondern in mehreren Vorquartalen wurde hingegen der Ansatz der GOP 8651 durch die
Beklagte akzeptiert. Voraussetzung für einen Vertrauensschutztatbestand ist, daß Anlaß zu einer
Vertrauensbetätigung gegeben war und insoweit Schutzwürdigkeit besteht (BSG, Urteil vom 5.2.2003, Az.: B 6 KA
15/02 R). Aufgrund der Verwaltungspraxis in den Vorquartalen konnte die Klägerseite darauf vertrauen, daß bei dieser
Konstellation der Ansatz der GOP 8651 zulässig ist (vgl. BSG, Beschluss vom 15.5.2002, Az.: B 6 KA 82/01 B). Ein
Entfallen des Vertrauensschutzes durch vorherige Hinweise, daß Zweifel an der Richtigkeit des Ansatzes der GOP
8651 bestünden, hat die Beklagte nicht geltend gemacht. Derartiges ist auch nach Aktenlage nicht ersichtlich.
Deshalb war zu entscheiden, wie geschehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Abs. 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.