Urteil des SozG Marburg vom 28.06.2010

SozG Marburg: behinderung, ärztliche behandlung, belastung, blutkrankheit, sterilität, rechtsverordnung, vergleich, gerichtsverfahren, erlass, gesellschaft

Sozialgericht Marburg
Urteil vom 28.06.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Marburg S 1 SB 54/08
Hessisches Landessozialgericht L 4 SB 46/10
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) als 40.
Der 1973 geborene Kläger beantragte im Jahre 2002 erstmals die Feststellung einer Behinderung und des Grades der
Behinderung. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Beklagten vom 11.12.2002 abgelehnt. Auf einen
Verschlimmerungsantrag erging der Bescheid vom 30.10.2003, mit dem das beklagte Land aufgrund der folgenden
Leiden das Vorliegen einer Behinderung, einen GdB von 30 und eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit
feststellte: "Herzschaden, Blutkrankheit, Fußgelenkleiden". Dieser Bescheid wurde nach erfolglos durchgeführtem
Widerspruchsverfahren bestandskräftig. Am 19.07.2007 (Eingangsdatum) stellte der Kläger wiederum einen
Neufeststellungsantrag. Daraufhin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 13.02.2008 einen GdB von 40 und die
dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit fest. Dabei wurden folgende Funktionsbeeinträchtigungen
berücksichtigt: "Chronische Blutkrankheit, Herzerkrankung, Darmbeschwerden, Funktionsstörung im Fuß". Gegen
diesen Bescheid erhob der Kläger fristgerecht Widerspruch, der von dem Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom
28.03.2008 zurückgewiesen wurde.
Am 10.04.2008 (Eingangsdatum) hat der Kläger dagegen, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, Klage
zum Sozialgericht Marburg erhoben.
Der Kläger beantragt, den Bescheid des Beklagten vom 13.02.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
28.03.2008 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, bei dem Kläger ab dem 19.07.2007 einen GdB von 50
festzustellen.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat die Krankenunterlagen aus der klägerischen Hausarztpraxis Dr. J. beigezogen (Bl. 45 d. A. mit
Anlagen). Ferner hat das Gericht Befundberichte von Dr. G. (Bl. 19 d. A.), von Dres. I. (Bl. 20 d. A.), von Frau D. (Bl.
22 d. A.), von Dr. F. (Bl. 34 d. A.), von Frau Dr. H. (Bl. 39 d. A.) und von Dr. E. (Bl. 47 d. A.) eingeholt. Schließlich
hat das Gericht auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) mit Beweisanordnung vom
27.02.2009 ein Sachverständigengutachten bei Prof. Dr. C. eingeholt, das dieser am 28.08.2009 (Eingangsdatum)
vorgelegt hat. Unter dem 22.02.2010 hat der Gutachter noch eine ergänzende Stellungnahme abgegeben. Wegen der
Ergebnisse der medizinischen Sachverhaltsermittlungen wird auf die Gerichtsakte verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands, insbesondere wegen des weiteren Vorbringens der
Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug
genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
Der streitgegenständliche Bescheid des Beklagten vom 13.02.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
28.03.2008 war nicht aufzuheben, da er rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt. Der Kläger hat
keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40.
Allein denkbare Anspruchsgrundlage für das klägerische Begehren auf Neufeststellung seines GdB durch den
Allein denkbare Anspruchsgrundlage für das klägerische Begehren auf Neufeststellung seines GdB durch den
Beklagten ist die Regelung des § 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter
Menschen (SGB IX) i.V.m. § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Verwaltungsverfahren und
Sozialdatenschutz (SGB X).
Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen
Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest.
Menschen sind nach der Definition des § 2 Abs. 1 SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige
Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter
typischen Zustand abweicht, und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt ist. Sie sind nach
§ 2 Abs. 2 SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz,
gewöhnlichen Aufenthaltsort oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 73 SGB IX rechtmäßig im
Geltungsbereich des SGB IX haben. Die Auswirkungen der im einzelnen Fall bestehenden Behinderungen auf die
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung nach 10er-Graden abgestuft festgestellt (§
69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX). Dabei gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) und der
aufgrund der des § 30 Abs. 17 BVG erlassenen Rechtsverordnung (Versorgungsmedizinverordnung) entsprechend.
Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, wird gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX
der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer
wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Eine Feststellung nach dem Schwerbehindertenrecht ist nur zu treffen,
wenn ein GdB von mindestens 20 gegeben ist (§ 69 Abs. 1 Satz 6 SGB IX).
Aufgrund der genannten Verweisung in das Versorgungsrecht orientiert sich die Festsetzung der Höhe des GdB an der
Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) nach § 30 Abs. 1 BVG. Dieser ist nach den allgemeinen
Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen,
geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der Grad der
Schädigungsfolgen ist nach 10er-Graden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu 5 Grad geringerer GdS wird vom
höheren Grad mit umfasst. Vorübergehende Gesundheitsstörungen sind nicht zu berücksichtigen, wobei als
vorübergehend ein Zeitraum von bis zu sechs Monaten gilt. In Abweichung von dieser kausalen Begriffsbestimmung
des GdS sind jedoch bei der Feststellung des GdB alle eingetretenen Funktionsbeeinträchtigungen (unabhängig von
ihrer Ursache) zu berücksichtigen. Der Begriff des GdB stellt damit ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen
und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung infolge einer Gesundheitsstörung dar.
Gemäß § 30 Abs. 17 BVG ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, im Einvernehmen mit dem
Bundesministerium für Verteidigung und mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung die Grundsätze
aufzustellen, die für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des GdS maßgebend
sind. Von dieser Verordnungsermächtigung ist mit dem Erlass der Versorgungsmedizinverordnung vom 10.12.2008
Gebrauch gemacht worden. Die Versorgungsmedizinverordnung ist am 01.01.2009 in Kraft getreten. Sie enthält als
Anlage die Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG). Diese werden auf der Grundlage des aktuellen Stands der
medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin fortentwickelt.
Bestandteil der VG ist die GdS-Tabelle, die einzelne Werte für bestimmte Gesundheitsstörungen enthält. Diese Werte
sind aus langer Erfahrung gewonnen und stellen altersunabhängige Mittelwerte da. Es handelt sich um Anhaltswerte,
von denen mit einer die besonderen Gegebenheiten darstellenden Begründung abgewichen werden kann.
Entscheidend ist die Berücksichtigung der im Einzelfall gegebenen, die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft
beeinträchtigenden, körperlichen, geistigen und seelischen Störungen.
Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben,
soweit in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche
Änderung eingetreten ist. Im Rahmen der Feststellungen nach dem SGB IX liegt eine solche wesentliche Änderung
der Verhältnisse erst dann vor, wenn sich der GdB um wenigstens 10 verringert oder erhöht (Abschnitt A 7 der VG).
Diese Voraussetzungen sind im Fall des Klägers erfüllt. Im Vergleich zu den gesundheitlichen Verhältnissen, die dem
vorangegangenen Feststellungsbescheid des Beklagten vom 30.10.2003 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 24.11.2003) zugrunde gelegen haben, ist eine wesentliche Verschlechterung eingetreten. Der GdB des Klägers
hat sich zwischenzeitlich von 30 auf 40 erhöht. Das hat der Beklagte zu Recht in seinem Bescheid vom 13.02.2008
(in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.03.2008) festgestellt.
Die maßgebende tatsächliche Veränderung bezieht sich auf die Auswirkungen der chronischen Bluterkrankung des
Klägers. Die bei dem Kläger diagnostizierte chronische myeloproliferative Erkrankung vom Typ der Polyzythemia Vera
Rubra bedarf inzwischen (seit November 2004) einer dauerhaften Interferon-Therapie. Die damit verbundenen
Nebenwirkungen und Beeinträchtigungen hat der Kläger gegenüber dem Gericht im Termin zur mündlichen
Verhandlung vom 28.06.2010 dargelegt. Unter Berücksichtigung dieses Vortrags und der Feststellungen des
gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. C. hält die Kammer für die gegenwärtig bestehenden
Funktionsbeeinträchtigungen infolge dieser Krankheit einen GdB von 30 für angemessen. Dabei stützt sie sich auf
Teil B Nr. 16.5 VG, wonach für chronische myeloproliferative Erkrankungen wie die Polyzythemia Vera bei mäßigen
Auswirkungen ein GdB von 30 bis 40 festzustellen ist. Diese Kategorie der Krankheitsfolgen wird in den VG als
Behandlungsbedürftigkeit definiert. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist das Gericht zu der Überzeugung
gelangt, dass diese Beschreibung exakt dem Gesundheitszustand des Klägers entspricht. Seine Bluterkrankung ist
dauerhaft behandlungsbedürftig (Interferon-Therapie). Unter dieser Behandlung ist die Erkrankung nach Einschätzung
des Sachverständigen Prof. Dr. C. aber stabil; Blutbild und Knochenmarksbefund zeigen keinen Progress. Gestützt
auf die letzte Knochenmarkbiopsie vom November 2008 führt der Sachverständige aus, dass es zurzeit keine
Komplikationen wie z. B. den Übergang in eine Osteosklerose oder Blastenvermehrung gibt. Die hämatologische
Erkrankung führe bei dem Kläger auch nicht zu Funktionsausfällen und habe keine Auswirkungen auf andere
Körperorgane. Auch unter Berücksichtigung der schriftsätzlich erhobenen Einwendungen des Klägers sieht die
Kammer keinen Anlass, von diesen Feststellungen des Sachverständigen abzuweichen. Sein Gutachten ist
wissenschaftlich begründet, in sich schlüssig und ohne weiteres nachvollziehbar. Die Kritikpunkte des Klägers haben
nach der überzeugenden ergänzenden Stellungnahme des Gutachters vom 22.02.2010 keinen Einfluss auf die
Beantwortung der Beweisfragen durch den gerichtlichen Sachverständigen gehabt. Zudem stehen die Ausführungen
des Gerichtsgutachters im Einklang mit den Angaben der behandelnden Fachärztin D. die gegenüber dem Gericht
unter dem 01.07.2008 einen Befundbericht erstattet hat. Darin führt sie aus, dass unter chronischer Behandlung mit
Interferon Alpha die hämatologischen Parameter im Großen und Ganzen stabil geblieben sind. Es bestünden keinerlei
Hinweise für eine Progression der hämatologischen Grunderkrankung. Auch in den von ihr in Kopie übersandten
Arztbriefen an die klägerische Hausarztpraxis ist stets von einem stabilen Verlauf die Rede.
In dem vor diesem Hintergrund angemessenen GdB-Wert von 30 sind nach der Systematik der VG die üblichen
körperlichen und seelischen Begleiterscheinungen der zugrundeliegenden Erkrankung bereits berücksichtigt
(vergleiche Teil A Nr. 2 i und j VG). Dies betrifft die vom Kläger geschilderten Nebenwirkungen der Interferon-Therapie
ebenso wie die von ihm beklagte morgendliche Augenrötung, die nach den Angaben des Sachverständigen durch die
myeloproliferative Erkrankung hervorgerufen wird, aber funktionell und reversibel ist. Insoweit weist die Kammer
darauf hin, dass der in den VG vorgesehene Wert von 30 angesichts mäßiger Auswirkungen (bloße
Behandlungsbedürftigkeit) im Vergleich zur anderen Behinderungen relativ hoch erscheint. Dies ist nur durch die
Berücksichtigung der stets gravierenden physischen und psychischen Begleitscheinungen der entsprechenden
Therapie einer chronischen myeloproliferative Erkrankung gerechtfertigt. Außergewöhnliche seelische
Begleiterscheinungen sind im Fall des Klägers nicht ersichtlich. Er hat auch nicht vorgetragen, sich insoweit in eine
spezielle ärztliche Behandlung (etwa eine Psychotherapie) begeben zu haben.
Für die Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers infolge seines angeborenen VentrikelSeptum-Defekts ist nach
Ansicht der Kammer allenfalls der von dem Beklagten zugrundegelegte Einzel-GdB von 20 gerechtfertigt. Insoweit ist
Teil B Nr. 9 VG maßgebend. Danach kommt es für die Bemessung des GdB weniger auf die Art der Herzerkrankung
an als vielmehr auf die daraus resultierende Leistungseinbuße. Bei der Beurteilung sind das klinische Bild, die
Funktionseinschränkungen im Alltag und die Ergometerdaten zu berücksichtigen. Nach Teil B Nr. 9.1.1 VG würde ein
GdB von 20 bereits eine Leistungsbeeinträchtigung bei mittelschwerer Belastung (z. B. forschem Gehen,
mittelschwerer körperlicher Arbeit) voraussetzen. Dies entspricht dem Auftreten von Beschwerden und pathologischen
Messdaten bei einer Ergometerbelastung von 75 Watt. Solche Auswirkungen der klägerischen Herzerkrankheit
ergeben sich weder aus den Schilderungen des Klägers noch aus den ärztlichen Befundberichten. Die kardiologischen
Kontrolluntersuchungen im HKZ E-Stadt an der C-Stadt erfolgten weitgehend bei subjektiver Beschwerdefreiheit. Die
Ergometerbelastung konnte regelmäßig bis 150 bzw. 200 Watt gesteigert werden, ohne dass es zu Beschwerden oder
pathologischen Messdaten kam. Der Abbruch der Belastung erfolgte jeweils wegen peripherer Erschöpfung. Vor
diesem Hintergrund erscheint der vom Beklagten zugrundegelegte Einzel-GdB von 20 für die Herzerkrankung eher
überhöht. Dies kann aber im Ergebnis dahinstehen, da eine niedrigere GdB-Feststellung im Rahmen des gerichtlichen
Verfahrens nicht in Betracht kommt.
Was die bei dem Kläger eingetretenen Funktionsstörungen im Fuß betrifft, hält die Kammer den von dem beklagten
Land angenommenen Einzel-GdB von 10 für korrekt. Diesbezüglich lässt sich aus dem im Gerichtsverfahren
eingeholten ärztlichen Befundbericht von Dres. I. vom 30.06.2008 ein Schmerzsyndrom entnehmen. Der Kläger habe
ein Absterben bzw. Schmerzen im Bereich der Knöchelregion (links) beklagt. Auch die Internistin D. berichtet
nebenbefundlich vom Zustand nach Sprunggelenksfraktur links, wobei ein chronisches Schmerzsyndrom eingetreten
sei. Aufgrund der von dem klägerischen Hausarzt übersandten Befunde von Dr. Z nach einem am 28.10.2003
durchgeführten MRT des linken Sprunggelenks lassen sich diese Beschwerden dem oberen Sprunggelenk zuordnen.
Dies deckt sich mit dem Befundbericht, den der Orthopäde Dr. F. unter dem 30.06.2008 gegenüber dem Gericht
erstattet hat und dem Befundbericht, den der Orthopäde Dr. E. unter dem 31.07.2008 gegenüber dem Gericht erstattet
hat. Beide Ärzte haben arthrotische Veränderungen am linken oberen Sprunggelenk festgestellt. Diese haben zu
Schmerzen, Schwellungen und leichten Bewegungseinschränkungen geführt. Nach Teil B Nr. 18.14 VG ist für
geringgradige Bewegungseinschränkungen des oberen Sprunggelenks ein GdB von 0; für mittelgradige
Bewegungseinschränkungen ein GdB von 10 festzustellen. Im vorliegenden Fall ist das Gericht nach Auswertung der
genannten Befunde zu der Überzeugung gelangt, dass es sich auch unter Berücksichtigung des besondern
Schmerzgeschehens um mittelgradige Funktionsbeeinträchtigungen handelt. Bewegungseinschränkungen stärkeren
Grades ergeben sich weder aus den eingeholten Befundberichten noch hat der Kläger derartige Einschränkungen im
Verfahren geltend gemacht.
Darüber hinaus hat das beklagte Land zu Recht einen Einzel-GdB von 10 für die vom Kläger geklagten
Darmbeschwerden festgestellt. Aus dem im Verwaltungsverfahren eingeholten Befundbericht der klägerischen
Hausarztpraxis Dr. J. ergibt sich, dass der Kläger zeitweise unter Diarrhöen und diffusem Bauchschmerz leidet. Dies
wird auf eine entzündliche Darmerkrankung zurückgeführt, die durch einen entsprechenden Biopsiebefund
nachgewiesen ist. Weitere Hinweise auf diese Darmerkrankung ergeben sich auch aus den umfänglichen im
Gerichtsverfahren eingeholten medizinischen Unterlagen über den Kläger nicht. Rechtsgrundlage für die Bewertung
dieser Beschwerden ist Teil B Nr. 10.2.2 VG, wonach für chronische Darmstörungen ohne wesentliche Beschwerden
und Auswirkungen ein GdB zwischen 0 und 10 angemessen ist. Erst bei stärkeren und häufig rezidivierenden oder
anhaltenden Symptomen kommt ein GdB von 20 in Betracht. Diese Kriterien erfüllt die Darmerkrankung des Klägers
indes nicht. Anhaltspunkte hierfür ergeben sich weder aus Berichten über dementsprechende ärztliche Behandlungen
noch aus den Angaben des Klägers im Termin zur mündliche Verhandlung.
Schließlich geht das Gericht in Übereinstimmung mit dem Versorgungsärztlichen Dienst des beklagten Landes davon
aus, dass für die Zeugungsunfähigkeit des Klägers kein GdB festzustellen ist. Allerdings steht nach dem Ergebnis der
Sachverhaltsermittlungen von Amts wegen zur Überzeugung der Kammer fest, dass bei dem Kläger eine sekundäre
Sterilität eingetreten ist. Dies ergibt sich aus dem Befundbericht von Frau Dr. H. vom 03.07.2008. Nach den
dementsprechenden Vorgaben in Teil B Nr. 13.2 VG führt der Eintritt von Zeugungsunfähigkeit indes grundsätzlich
nicht zur Feststellung einer Behinderung im Sinne des Schwerbehindertenrechts (GdB 0). Eine Ausnahme besteht bei
Patienten im jüngeren Lebensalter bei noch bestehendem Kinderwunsch. Dabei handelt es sich um einen
unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Auslegung durch die Verwaltung vom Gericht in vollem Unfang überprüfbar ist.
Dem Beklagten steht insoweit auch kein Beurteilungsspielraum zu. Was das so bezeichnete Lebensalter angeht, ist
nach Auffassung der Kammer auf den Zeitraum abzustellen, in dem Männer üblicherweise eine Vaterschaft
anstreben. Das Gericht hält hier einen Spielraum bis zur Vollendung des 50. Lebensjahres für vertretbar, solange die
Partnerin, mit der der Kinderwunsch verwirklicht werden soll, das 40. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Bezüglich
dieser Altersgrenzen orientiert sich das Gericht an der Regelung des § 27a Abs. 3 Satz 1, Fünftes Buch
Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V). Diese Regelung beschränkt die Sachleistungen der
Krankenkassen für künstliche Befruchtungen auf Versicherte, die die genannten Altersgrenzen noch nicht
überschritten haben. Dem liegt die Einschätzung des Gesetzgebers zugrunde, dass die Verwirklichung eines
unerfüllten Kinderwunsches in dieser Altersgruppe besonders schützenswert ist. Diese Wertung lässt sich auf das
Schwerbehindertenrecht übertragen, da der Verordnungsgeber in Teil B Nr. 13.2 VG ebenfalls davon ausgegangen ist,
die körperlich identische Symptomatik einer Zeugungsunfähigkeit führe nur bis zu einem gewissen Lebensalter zu
einer Beeinträchtigung bei der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Die so verstandene Voraussetzung ist bei
dem Kläger seit dem xx.11.2008 nicht mehr erfüllt, da seine Ehefrau an diesem Tag das 40. Lebensjahr vollendet hat.
Aber auch von einem ernsthaft bestehenden Kinderwunsch, der durch die Zeugungsunfähigkeit des Klägers vereitelt
worden wäre, konnte sich die Kammer nicht überzeugen. Zwar hat der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung
bekundet, bei ihm und insbesondere bei seiner Ehefrau bestehe bis zum heutigen Tag der Wunsch nach einem
zweiten Kind. Diese Angabe wird aber durch keinerlei äußere Umstände bestätigt. Nach Ansicht der Kammer ist es
zur Bejahung der Voraussetzung des entsprechenden Tatbestands der VG indes erforderlich, dass bestimmte Indizien
vorliegen, die das Fortbestehen des Kinderwunsches belegen. Dabei kann es sich etwa um entsprechende
Dispositionen im persönlichen Lebensbereich oder um einschlägige ärztliche Beratungen und Behandlungen handeln.
Letzteres ist im streitgegenständlichen Zeitraum nicht mehr erfolgt; nach Angaben des Klägers, weil die Ärzte keine
Aussicht auf Erfolg mehr gesehen haben. Entscheidend für die Kammer war jedoch im vorliegenden Fall der Hinweis
des Klägers, die behandelnden Ärzte hätten ihm abgeraten, unter seiner laufenden Interferon-Therapie ein Kind zu
zeugen. Daran habe er sich gehalten. Dies zeigt, dass der möglicherweise zuvor bestehende Kinderwunsch seit
November 2004 nicht mehr ernsthaft weiter verfolgt worden ist. Hintergrund dessen ist aber nicht die bei dem Kläger
eingetretene sekundäre Sterilität, sondern das Risiko einer Schädigung des gezeugten Kindes wegen der
Nebenwirkungen der laufenden Interferon-Behandlung des Klägers.
Unter Berücksichtigung der danach im Einzelnen begründeten GdB-Werte für die verschiedenen
Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers ergibt sich nach Auffassung der Kammer ein Gesamt-GdB von 40. Liegen
mehrere Behinderungen nebeneinander vor, ist ein angemessener Gesamt-GdB zu bilden (dazu Teil A Nr. 4 VG).
Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter
Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander. Dabei sind die ermittelten Einzelwerte nicht zu
addieren. Auch eine andere Rechenmethode für die Bildung des Gesamt-GdB ist nicht ersichtlich. Vielmehr ist das
Gesamtbild der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen mit einem einzelnen Gesundheitsschaden zu vergleichen,
für den in der GdS-Tabelle der VG ein fester Wert angegeben ist. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen zusätzliche
leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der
Gesamtbeeinträchtigung (auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander
bestehen).
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe lässt sich nach Ansicht der Kammer im vorliegenden Fall ein Gesamt-GdB
von 40 (noch) rechtfertigen. Der oben begründete Einzel-Wert von 30 für die chronische Bluterkrankung des Klägers
ist wegen der Auswirkungen seiner Herzkrankheit auf 40 zu erhöhen. Dagegen wirken sich die jeweils mit einem GdB
von 10 bewerteten Darmbeschwerden und Funktionsstörungen im Fuß nicht erhöhend auf den Gesamt-GdB aus. Zwar
erreichen auch die durch die Herzerkrankung des Klägers hervorgerufenen Funktionsbeeinträchtigungen nach dem
oben Gesagten kaum ein Ausmaß, das einen GdB von 20 rechtfertigen könnte. Zudem ist es nach Teil A Nr. 3 d) ee)
VG selbst bei Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche
Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Im vorliegenden Fall ist aber zu Gunsten des Klägers bei der
Gesamt-GdB-Bildung zu berücksichtigen, dass für die Bewertung seiner chronischen Blutkrankheit mit mäßigen
Auswirkungen ein Spielraum vom 30 bis 40 vorgesehen ist. Insofern beinhaltet der Einzel-GdB-Wert von 30 bereits
eine gewisse Tendenz nach oben. Dagegen entspricht der Kläger auch unter Berücksichtigung der verschiedenen bei
ihm bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen nach Ansicht der Kammer nicht dem Bild eines schwerbehinderten
Menschen. Hier hat sich die Kammer als Vergleichsmaßstab am Bild eines schwerbehinderten Menschen orientiert,
der wegen seiner Herzerkrankheit bereits bei alltäglicher leichter Belastung (z. B. Spazieren gehen, Treppen steigen
bis zu einem Stockwerk, leichte körperliche Arbeit) beeinträchtigt ist (GdB 50 bis 70 gemäß Teil B Nr. 9.1.1 VG).
Derartige gravierende Auswirkungen haben auch die verschiedenen Behinderungen des Klägers in ihrer Gesamtheit
nicht. Der Kläger ist nicht wie ein schwerbehinderter Mensch in seiner Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft
beeinträchtigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache.