Urteil des SozG Marburg vom 31.03.2010
SozG Marburg: innere medizin, vergleich, hessen, vergütung, ausgleichszahlung, versorgung, gemeinschaftspraxis, kompetenz, ausschluss, analyse
Sozialgericht Marburg
Urteil vom 31.03.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Marburg S 11 KA 98/09
Hessisches Landessozialgericht L 4 KA 27/10
Der Bescheid vom 28.05.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.01.2009 wird aufgehoben und die
Beklagte verpflichtet, die Klägerin für die Quartale 2/2007 und 3/2007 über ihren Antrag auf Sonderregelung im
Rahmen der Ausgleichsregelung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte trägt die Gerichtskosten sowie die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über eine Sonderregelung im Rahmen der Ausgleichsregelung nach § 5 Abs. 4 HVV für die
Quartale II/07 und III/07.
Die Klägerin ist eine Gemeinschaftspraxis bestehend aus zwei Kollegen, Herrn Dr. A ... und Herrn Dr. C. Herr Dr. A.
ist seit dem 11.12.1990 als Facharzt für Innere Medizin zugelassen, seit dem 01.01.1991 niedergelassen und nimmt
an der fachärztlichen Versorgung teil. Herr Dr. A. ist seit dem 26.06.1996 als Facharzt für Innere Medizin zugelassen,
seit dem 01.07.1996 niedergelassen und nimmt an der hausärztlichen Versorgung teil. Die Gemeinschaftspraxis hat
ihren Praxissitz in A-Stadt und ist in den streitgegenständlichen Quartalen abrechnungstechnisch den hausärztlich
tätigen Internisten zugeordnet.
Die Honorarentwicklung im Zeitraum 2005-2007 stellte sich bei der Klägerin wie folgt dar: Quartal Fall-zahl Brutto-
Honorar pro Fall in EUR Fallwert vor § 7.5 HVV in EUR Fallwert-verände-rung im Vgl. zu Quartal aus 2004 in EUR
Aus-gleichs-zahlung § 7.5 HVV in EUR Honorar vor Ausgleichszahlung § 7.5 HVV in EUR Brutto-Honorar in EUR II/05
1165 106,71 105,35 -5,42% 1.580,17 122.733,41 124.313,58 III/05 1017 100,11 89,96 -20,81% 11.333,48 90.477,36
101.810,84 IV/05 1077 92,75 79,55 -32,30% 14.215,93 85.677,83 99.893,76 I/06 1179 95,94 77,47 -29,63% 21.775,49
91.341,90 113.117,39 II/06 1142 92,45 84,87 -23,81% 8.662,30 96.919,77 105.582,07 III/06 1055 90,91 81,00 -28,69%
10.459,65 85.449,88 95.909,53 IV/06 1136 92,50 -21,28% 105.084,76 I/07 1224 83,22 -24,41% 101.858,57 II/07 1174
83,58 -24,97% 98.125,41 III/07 1198 78,82 -30,62% 94.430,85
Mit Schreiben vom 11.12.2007 beantragte sie die Gewährung einer Ausgleichszahlung für das Quartal II/07, die sie in
den Vorquartalen jeweils erhalten hatte. Zur Begründung führte sie aus, dass durch die Anwendung des HVV 2007 ihr
Honorarverlust noch größer geworden sei, da jegliche Ausgleichszahlung ausgeblieben sei. Es seien erstmals rein
fachärztliche genehmigungspflichtige qualitätsgesicherte Leistungen (kurative Koloskopie) extrabudgetär vergütet
worden, was offenbar ursächlich für den Wegfall der Ausgleichszahlungen gewesen sei. Damit werde die
Härtefallregelung nach Ziffer 7.5 HVV konterkariert, weil sie trotz großem EBM-bedingten Verlustes keine Unstützung
mehr erhielte. Eine Änderung des Leistungsspektrums sei nicht erfolgt. Mit Schreiben vom 26.02.2008 erweiterte die
Klägerin ihren Antrag auch auf das Quartal III/07. Die Beklagte lehnte die Anträge mit Bescheid vom 28.05.2008 ab.
Hiergegen richtet sich der Widerspruch der Klägerin vom 05.06.2008. Zur Begründung des Widerspruchs führte die
Klägerin weiter aus, dass einzig die von der Beklagten durchgeführte Umfirmierung der kurativen Koloskopie zu einer
ambulanten operativen Leistung und damit zu einer extrabudgetären Leistung zu einer Honorarminderung von 21,5%
für das Quartal II/07 und 26% für das Quartal III/07 geführt habe. Es ergäben sich Gesamtverluste in Höhe von
25.423,01 Euro im Quartal II/07 und 31.573,14 Euro im Quartal III/07.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 26. Januar 2009 zurück. Eine Teilnahme an der
Ausgleichsregelung sei nach einem Beschluss des Vorstandes ausgeschlossen, wenn der jeweilige Arzt mehr als
1.000EUR im Bereich des ambulanten Operierens nach § 115 b SGB V abrechne und mehr extrabudgetäres Honorar
als seine Fachgruppe erwirtschafte. Nach diesen Kriterien komme eine Berücksichtigung der Klägerin im Rahmen der
Ausgleichsregelung nicht in Betracht.
Die Auswertung der Abrechnungsunteralgen für die Quartale II/07 und II/05 habe folgendes ergeben: Das
praxisbezogene Regelleistungsvolumen sei im Quartal II/07 im Vergleich zum Quartal II/05 bei fast unveränderter
Fallzahl annähernd gleich geblieben. Dennoch seien im Quartal II/07 im Vergleich zum Referenzquartal II/05 ca.
220.000 Punkte weniger angefordert worden. Der Honoraranspruch für die Berechnung der Ausgleichsregelung im
Quartal II/07 sei im Vergleich zum Quartal II/05 um 24.574,26 Euro gesunken. Trotzdem sei im Quartal II/07 ein
Anstieg der herauszurechnenden Leistungen zu verzeichnen (plus 1.442,68 Euro). Im Quartal II/05 sei die Ziffer 13421
EBM 2000plus bei einer Fallzahl von 1.154 Fällen 36 mal, im Quartal II/07 bei einer Fallzahl von 1164 Fällen (lt.
Frequenzstatistik) 37 mal abgerechnet worden. Die Ziffer 01741 EBM 2000plus sei im Referenzquartal (II/05) 64 mal
und im aktuellen Quartal (II/07) 48 mal abgerechnet worden. Demnach hätten im Quartal II/07 im Hinblick auf die
Anzahl der Erbringung von Leistungen nach den Ziffern 13421 und 01741 EBM 2000plus gegenüber dem
Referenzquartal II/05 keine signifikante Änderung stattgefunden. Leistungen der Leistungsgruppe (LG) 1, 2, 3, 4, 6
und 8 seien im Quartal II/07 je Fall seltener erbracht worden als im Quartal II/05. Es sei im Quartal II/07 im Bereich
ambulantes Operieren ein Honorar in Höhe von 9.088,02 Euro erwirtschaftet worden.
Die Auswertung der Abrechnungsunterlagen für die Quartale III/07 und III/05 habe folgendes ergeben: Das
praxisbezogene Regelleistungsvolumen sei im Quartal III/07 im Vergleich zum Quartal III/05 um ca. 142.200 Punkte
angestiegen, es seien aber auch 157 Fälle mehr behandelt worden. Im Quartal III/07 seien auch knapp 300.000
Punkte mehr angefordert worden. Der Honoraranspruch für die Berechnung der Ausgleichsregelung sei im Quartal
III/07 im Vergleich zum Quartal III/05 nur um 3.171,76 Euro angestiegen. Dennoch sei im Quartal III/07 ein deutlicher
Anstieg der herauszurechnenden Leistungen zu verzeichnen (plus 13.141,48 Euro = 47,5%) gewesen. Eine Analyse
des Abrechnungsverhaltens habe ergeben, dass im Quartal III/05 die Ziffer 13421 EBM 2000plus bei einer Fallzahl
von 1006 Fällen (lt. Frequenzstatistik) 39 mal; im Quartal III/07 bei einer Fallzahl von 1184 Fällen 45 mal abgerechnet
worden sei. Die Ziffer 01741 EBM2000 plus sei im Referenzquartal (III/05) 44 mal und im aktuellen Quartal (III/07) 42
mal abgerechnet worden. Demnach habe im Quartal III/07 im Hinblick auf die Anzahl der Erbringung von Leistungen
nach den Ziffern 13421 und 01741 EBM 2000plus gegenüber dem Referenzquartal II/05 ebenfalls keine signifikante
Änderung stattgefunden. Leistungen der LG 1, 2, 6 und 8 seien im Quartal III/07 je Fall seltener erbracht worden als
im Quartal III/05, Leistungen der LG 3 dagegen annähernd so oft. Allerdings sei bei der Erbringung von Leistungen in
der LG 4 im Quartal III/07 im Vergleich zum Quartal III/05 ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen (plus 86%). Im
Quartal III/07 sei im Bereich ambulantes Operieren ein Honorar in Höhe von 12.468,79 Euro erwirtschaftet worden.
Insgesamt sei festzustellen, dass in Bezug auf einzelne Leistungen bzw. Leistungsbereiche keine wesentlichen
Veränderungen eingetreten seien. Allerdings habe in den Quartalen II/07 und III/07 aufgrund der Änderung der
Bestimmungen eine Verlagerung von intrabudgetären Leistungen in den Bereich der extrabudgetären ambulanten
Operationen stattgefunden.
Hintergrund dieser Verschiebung sei die ab dem Quartal I/07 wirkende Schiedsamtsentscheidung, von der die
Beklagte aufgrund ihrer rechtlichen Bindungswirkung nicht einseitig abweichen könne. Infolge der honorartechnischen
Verschiebung würden nun vermehrt Leistungen außerhalb der Ausgleichsregelung honoriert und demnach flössen
entsprechend weniger Leistungen in die Ausgleichsregelung (allgemeine Leistungen HG 2). Damit würde nun im Falle
einer Teilnahme der Praxis an der Ausgleichsregelung neben der extrabudgetären Vergütung der Leistungen
zusätzlich eine entsprechende Auffüllung im Rahmen der Ausgleichsregelung erfolgen; denn ehemals seien
Leistungen erbracht worden, die im Ausgangsquartal im Fallwert enthalten waren, im aktuellen Quartal jedoch
herausgerechnet wurden. Dies sei jedoch gerade nicht die Zielrichtung der Ausgleichsregelung, die EBM-bedingte
Fallwertverluste ausgleichen solle, so dass die Nichtteilnahme an der Ausgleichsregelung aufgrund der
honorartechnischen Verlagerung vom intrabudgetären in den extrabudgetären Bereich gerade sachgerecht erscheine.
Soweit die Klägerin die Auffassung vertrete, die Teilnahme an der Ausgleichsregelung sei erforderlich, da die in ihrer
Praxis eingetretenen Honorarverwerfungen auf die Einführung des EBM 2000 plus beruhten, könne dies deshalb nicht
nachvollzogen werden, da die Klägerin selber vorgetragen habe, die Honorarverwerfungen seien einzig auf die
Verlagerung von budgetären Leistungen in den extrabudgetären Bereich zurückzuführen. In diesem Zusammenhang
sei darauf hinzuweisen, dass die Frage, ob die Vergütung einer Leistung aus dem budgetierten Teil der
Gesamtvergütung oder extrabudgetär erfolge, gerade keine Thematik des EBM darstelle, sondern der
Vergütungssystematik (HVV). Honorarverwerfungen, die aufgrund der Änderungen honorartechnischer Vorgaben
erfolgen, sollten im Gegensatz zu solchen, die in der Einführung des EBM 2000 plus ihre Ursache haben, von der
Ausgleichsregelung nicht ausgeglichen werden.
Die Teilnahme am Anpassungsindex könne, wie dargelegt, nur unter der Voraussetzung gleicher Rahmenbedingungen
beim Vergleich des jeweils aktuellen mit dem jeweiligen Referenzquartal erfolgen. Die Verlagerung ambulanter
Operationsleistungen vom intra- in den extrabudgetären Bereich führe dazu, dass diese Rahmenbedingungen nicht
vergleichbar seien, da die Ausschüttung von Auffüllbeträgen anhand von Fallwerten berechnet werde, die unter
Berücksichtigung unterschiedlicher von der Ärzteschaft abgerechneter Gesamtleistungsvolumina (bis zum Quartal
IV/06 inklusive der ambulanten Operationsleistungen und ab dem Quartal I/07 ohne diese) berechnet würden. Hätte
der Schiedsamtsspruch nicht zu der Verschiebung der ambulanten Operationsleistungen geführt, wäre eine
Vergleichbarkeit der Rahmenbedingungen bezogen auf die ambulanten Operationsleistungen bei sonst ebenfalls
unveränderten Bedingungen möglich gewesen. Insofern sei der Ausschluss von der Teilnahme an der
Ausgleichsregelung wegen der ambulanten Operationsleistungen durchaus gerechtfertigt.
Sofern die Klägerin schließlich darauf hinweise, dass ihre relevanten Honorarforderungen mit 17,89% unter dem
Schwellenwert von 20% der Gesamthonorarforderung der fachärztlichen tätigen Internisten lägen, sei auszuführen,
dass die Gemeinschaftspraxis abrechnungstechnisch den hausärztlich tätigen Internisten zugeordnet sei. Deshalb sei
für die Praxis der Fachgruppendurchschnitt der Hausärzte (15%) hinsichtlich des erwirtschafteten extrabudgetären
Honorars maßgeblich. Da die Klägerin mit ihrem extrabudgetären Honorar über diesem Fachgruppendurchschnitt liege,
sei eine Teilnahme an der Ausgleichsregelung nicht möglich.
Gegen diesen Widerspruchsbescheid richtet sich die vorliegende Klage vom 26.02.2009.
Die Klägerin trägt vor, dass nach den Vorgaben des HVV ihr eine Ausgleichszahlung zustünde, da sie verglichen mit
dem Bezugsquartal II/05 bzw. III/05 ein Honorarverlust von mehr als 5% erlitten habe. Der davon abweichende
Beschluss des Vorstandes sei rechtswidrig. Die Kompetenz des Vorstandes der Kassenärztlichen Vereinigung
beschränke sich auf Einzelfallentscheidungen in besonders gelagerten Ausnahmefällen. Darüber hinaus hätten
Regelungen im HVV selbst zu erfolgen und bedürften diese entsprechend der vertraglichen Vereinbarung mit den
Krankenkassenverbänden. Der Vorstandsbeschluss genüge darüber hinaus auch nicht dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Der Betrag von 1.000,00 Euro sei deutlich zu niedrig gewählt. Die komplette
Nichtanwendung der Stützungsregelung komme nur und allenfalls in Betracht, wenn Leistungen in einem Umfang
betroffen seien, die die Annahme rechtfertigten, dass durch die extrabudgetäre Vergütung etwaige
Honorarverwerfungen nach Einführungen des EBM 2000plus zumindest weithin aufgewogen würden. Dies sei bei
einem Betrag von 1.000,00 Euro sicher nicht der Fall. Darüber hinaus erweise sich die ohne weitere Differenzierung
vorgenommene Einbeziehung fachverschiedener Gemeinschaftspraxen als verfehlt. Gerade bei Praxen wie der der
Klägerin, bei der ein Teil nur sehr wenig Leistungen nach § 115 SGB V erbringe, sei kein überproportionaler Anteil
extrabudgetärer Leistungen zu vermuten. An § 115b SGB V Leistungen würden ausschließlich in der Person von Dr.
BL. kurative Koloskopien erbracht. Diese seien seit dem Quartal I/07 extrabugetär vergütet worden, während die
präventiven Koloskopien bereits seit dem Quartal II/05 extrabudgetär vergütet würden. Durch die Einbeziehung der
kurativen Koloskopien in die extrabudgetären Leistungen hätte sich in der klägerischen Praxis im extrabudgetären
Bereich eine Vergütungsvermehrung von 1.442,68 Euro ergeben. Ein Fallwertvergleich setze die Vergleichbarkeit der
eingezogenen Leistungen voraus. Leistungen, die im Quartal II/05 innerhalb des Budgets vergütet worden seien, im
Quartal II/07 jedoch extrabudgetär, seien nicht vergleichstauglich und bei der Ermittlung des Fallwertes im Quartal
II/05 damit auch nicht berücksichtigungsfähig. Wäre dies von der Beklagten berücksichtigt worden, wäre immer noch
ein Fallwertverlust von mehr als 5% dokumentiert worden und ein Anspruch auf entsprechender Honorarstützung nach
dem HVV entstanden.
Die Klägerin beantragt, den Bescheid vom 28.05.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.01.2009
aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihr für die Quartale II/07 und III/07 eine Honorarstützung nach § 5 Abs. 4
des maßgeblichen Honorarverteilungsvertrages zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie nimmt im Wesentlichen Bezug auf die Gründe des Widerspruchsbescheides. Das Honorarvolumen für ambulantes
Operieren habe im Quartal II/07 9.088,02 Euro und im Quartal III/07 12.468,79 Euro betragen, so dass die Grenze von
1.000,00 Euro bei weitem überschritten worden sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie das Vorbringen der Beteiligten wird ergänzend
Bezug genommen auf die Verwaltungsakten sowie die Prozessakten, die in der mündlichen Verhandlung vorgelegen
haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer hat in der Besetzung mit zwei ehrenamtlichen Richtern aus dem Kreis der Vertragsärzte und
Psychotherapeuten verhandelt und entschieden, weil es sich um eine Angelegenheit der Vertragsärzte und
Psychotherapeuten handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
Die zulässige Klage ist auch insoweit begründet, als die Klägerin einen Anspruch auf Neubescheidung über ihren
Antrag auf Sonderregelung im Rahmen der Ausgleichsregelung für die Quartale II/07 und III/07 hat. Einen Anspruch
auf positive Teilnahme an der Ausgleichsregelung konnte das Gericht mangels entsprechender
Berechnungsmöglichkeiten nicht endgültig feststellen.
Der Bescheid vom 28.05.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.01.2009 ist rechtswidrig und
verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung.
Der Bescheid versagt der Klägerin die Teilnahme an der Honorarstützungsregelung nach § 5 Abs. 4 HVV
(Honorarverteilungsvertrag gemäß § 85 Abs. 4 Satz 1 SGB V für den Zeitraum vom 01.04.2007 bis 31.12.2007 in der
Fassung der Entscheidung des Landesschiedsamts für die vertragsärztliche Versorgung in Hessen vom 1. November
2007) aufgrund eines Vorstandsbeschlusses der Beklagten vom 20.8.2007. Dieser Beschluss ist rechtswidrig, was
auch die Rechtswidrigkeit des darauf gestützten Bescheides zur Folge hat.
Im Einzelnen bestimmt § 5 Abs. 4 HVV:
a) Zur Vermeidung von praxisbezogenen Honorarverwerfungen nach Einführung des EBM 2000plus erfolgt nach
Feststellung der Punktwerte und Quoten gemäß § 4 ein Vergleich des für das aktuelle Abrechnungsquartal
berechneten fallbezogenen Honoraranspruches (Fallwert in EUR) der einzelnen Praxis mit der fallbezogenen
Honorarzahlung in EUR im entsprechenden Abrechnungsquartal des Jahres 2005 ausschließlich beschränkt auf
Leistungen der Honorargruppe 2 mit Ausnahme der zeitbezogenen genehmigungspflichtigen psychotherapeutischen
Leistungen.
b) Zeigt der Fallwertvergleich einen Fallwertverlust von mehr als 5%, so erfolgt eine Stützung auf den maximalen
Veränderungsrahmen von 5%. Die für eine Stützung bei Fallwertminderungen notwendigen gehen zu Lasten der
jeweiligen Honorar(unter)gruppe, der die Praxis im aktuellen Quartal zugeordnet ist, und sind gegebenenfalls durch
weitergehende Quotierung der Punktwerte zu generieren. Sollte durch eine solche Quotierung die Fallwertminderung
(wieder) auf einen Wert oberhalb von 5% steigen, führt dies zu keinem weitergehenden Ausgleich.
c) Ein Ausgleich von Fallwertminderungen bis zur Grenze von 5% erfolgt grundsätzlich auf der Basis vergleichbarer
Praxisstrukturen und maximal bis zu der Fallzahl, die im entsprechenden Quartal des Jahres 2005 abgerechnet
worden ist. Ein Ausgleich ist in diesem Sinne u. a. dann ausgeschlossen, wenn im aktuellen Quartal im Vergleich
zum Basisquartal erkennbar ausgewählte Leistungsbereiche nicht mehr erbracht wurden oder sich das
Leistungsspektrum der Praxis, u. a. als Folge einer geänderten personellen Zusammensetzung der Praxis, verändert
hat. Er ist des Weiteren ausgeschlossen, wenn sich die Kooperationsform der Praxis im Vergleich zum
entsprechenden Basisquartal geändert hat.
d) Beträgt der Fallwertverlust mehr als 15%, wird geprüft, ob dieser Verlust ausschließlich auf die Einführung des
EBM 2000plus zurückzuführen ist. Sofern die Prüfung ergibt, dass dies nicht der Fall ist, wird ggf. eine
Honorarberichtigung durchgeführt. Diese Regelung steht unter dem Vorbehalt, dass auf Basis der Zahlungen der
Verbände der Krankenkassen eine dem Basisquartal vergleichbare budgetierte Gesamtvergütung zur Verfügung steht.
e) Diese Regelung gilt nicht für ermächtigte Ärzte und ermächtigte ärztlich geleitete Einrichtungen.
Nach der Rechtsprechung des LSG Hessen zur Vorgängerregelung Ziffer 7.5 HVV, von der abzuweichen die Kammer
hier keine Veranlassung sieht, ist § 5 Abs. 4 HVV grundsätzlich rechtmäßig, soweit er im Sinne einer
Härtefallregelung zur Begünstigung eines Vertragsarztes führt (vgl. LSG Hessen, Urt. v. 04.11.2009 – L 4 KA 99/08 –;
LSG Hessen, Urt. v. 11.02.2009 – L 4 KA 82/07 – www.sozialgerichtsbarkeit.de = juris). Lediglich soweit die sog.
Ausgleichsregelung nach Ziff. 7.5 HVV bei Überschreiten des Fallwerts des Vorjahresquartals von mehr als 5 % u. U.
zu einer Honorarkürzung führt, ist die Regelung zu beanstanden (vgl. LSG Hessen, Urt. v. 29.04.2009 – L 4 KA 80/08
– www.sozialgerichtsbarkeit.de = juris, Revision anhängig: BSG - B 6 KA 16/09 R –; LSG Hessen, Urt. v. 24.06.2009
– L 4 KA 110/08 – www.sozialgerichtsbarkeit.de = juris, Revision anhängig: BSG - B 6 KA 26/09 R -; LSG Hessen,
Urt. v. 24.06.2009 – L 4 KA 85 u. 86/08 – www.sozialgerichtsbarkeit.de = juris, Revision anhängig: BSG - B 6 KA
27/09 R bzw. B 6 KA 28/09 R -). Ziffer 7.5 HVV ist ferner rechtswidrig, soweit er junge Praxen, die erst mit oder nach
Inkrafttreten des EBM 2005 gegründet wurden, mangels Referenzquartal nicht an der Ausgleichsregelung hat
teilnehmen lassen (vgl. LSG Hessen, Urt. v. 26.11.2008 – L 4 KA 14/08 – Revision zurückgewiesen durch BSG, Urt.
v. 03.02.2010 - B 6 KA 1/09 R -, zitiert nach Terminbericht Nr. 5/10 v. 04.02.2010; LSG Hessen, Urt. v. 29.04.2009– L
4 KA 76/08 – www.sozialgerichtsbarkeit.de = juris, Revision anhängig: BSG - B 6 KA 17/09 R -).
Sofern für die Klägerin im vorliegenden Fall eine begünstigende Auswirkung dieser Regelung im Raum steht, bestehen
gegen ihre Anwendung zunächst grundsätzlich keine Bedenken. Die Beklagte hat es jedoch unterlassen, in die von §
5 Abs. 4 HVV gebotene Einzelfallprüfung einzutreten. Nach § 5 Abs. 4 c) HVV ist hat die Klägerin – einen
Fallwertverlust von mehr als 5% unterstellt – einen Anspruch auf Teilnahme an der Ausgleichsregelung. Dieser ist
nach den Vorgaben des HVV nur dann ausgeschlossen, wenn die Praxisstrukturen nicht mehr vergleichbar sind.
Davon ist nach § 5 Abs. 4 c) HVV dann auszugehen, wenn eine Einzelfallprüfung ergibt, dass (ausgewählter)
Leistungsbereiche nicht mehr oder nunmehr erbracht werden oder Veränderung des Leistungsspektrums der Praxis, u.
a. als Folge einer geänderten personellen Zusammensetzung der Praxis sowie der Kooperationsform der Praxis
eingetreten sind.
Die Kammer hält diese Regelung, soweit bisher die Vorgängerregelung nach Ziff. 7.5 HVV als zulässig angesehen
wurde, ebf. für zulässig. Die tatbestandlichen Voraussetzungen tragen dafür Sorge, dass nur EBM-bedingte, nicht
aber solche Honorarverluste, für die der Vertragsarzt die Verantwortung selbst zu tragen hat, ausgeglichen werden.
Der aktuelle Fallwert und der Fallwert des Basisquartals müssen miteinander vergleichbar sein. Bei verändertem
Leistungsspektrum der Praxis ist dies nicht mehr der Fall. Ebenso können veränderte Kooperationsformen eine
Vergleichbarkeit ausschließen. Gleiches gilt für veränderte Berechnung des Honorars durch Einschließung oder
Ausschließung von Vergütungsanteilen, insbesondere sog. extrabudgetären Leistungen, im Vergleich zum
Vorjahresquartal. Die Regelung zur Beschränkung der Ausgleichsregelung ist selbst unmittelbarer Teil der
Ausgleichsregelung im Sinne einer Härteregelung. Ihr Inhalt ist aus den genannten Gründen nicht zu beanstanden und
ist vom Gestaltungsspielraum der Vertragsparteien des HVV gedeckt.
Die Beklagte hat jedoch auf dieser Grundlage diese einzelfallbezogene Härtefallregelung durch ihren
Vorstandsbeschluss vom 20.08.2007 unterlaufen, indem sie eine pauschalierende Regelung getroffen hat, die dem
Sinn und Zweck des § 5 Abs. 4 HVV widerspricht. Der Vorstandsbeschluss ist deshalb rechtswidrig. In diesem
Beschluss hat die Beklagte festgelegt, dass die Ausgleichsregelung keine Anwendung findet bei Praxen, - die EUR
1.000,00 und mehr im Bereich der Leistungen gemäß § 115 b SGB V sowie - im Verhältnis zu Ihrer Fachgruppe mehr
extrabudgetäres Honorar vergütet bekommen. Zwar darf der Vorstand einer Kassenärztlichen Vereinigung nach der
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), von der abzuweichen die Kammer hier keine Veranlassung sieht
und was nach Auffassung der Kammer auch unter Geltung eines Honorarverteilungsvertrags gilt, außer zu
konkretisierenden Bestimmungen, die nicht im voraus für mehrere Quartale gleichbleibend festgelegt werden können,
auch dazu ermächtigt werden, Ausnahmen für sog. atypische Fälle vorzusehen. Es ist eine typische Aufgabe des
Vorstandes, zu beurteilen, ob sog. atypische Fälle die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Freistellung von
Obergrenzen erfüllen. Dabei beschränkt sich die Kompetenz des Vorstandes nicht auf die Statuierung von
Ausnahmen für "echte Härten", vielmehr müssen sie generell für atypische Versorgungssituationen möglich sein (vgl.
BSG, Urt. v. 03.03.1999 - B 6 KA 15/98 R – SozR 3-2500 § 85 Nr. 31 = MedR 2000, 153, juris Rn. 36; BSG, Urt. v.
21.10.1998 - B 6 KA 65/97 R - SozR 3-2500 § 85 Nr. 27, juris Rn. 23). Der Beklagte mag zuzugeben sein, dass in
einem hohen Prozentsatz der Fälle, in denen die im Vorstandsbeschluss genannten Kriterien vorliegen, auch bei
Einzelfallbetrachtung eine Veränderung im Leistungsspektrum der jeweiligen Praxis und somit ein im übertragenen
Sinn "atypischer Fall" vorliegen mag. Sofern Verlagerungen von Honoraranteilen der Honorargruppe 2 im Basisquartal
in den extrabudgetären Bereich erfolgt sind, erscheint es konsequent, mit diesen Verlagerungen auch eine
Veränderung des Leistungsgeschehens anzunehmen. Diese Feststellung entbindet die Beklagte jedoch nicht von der
durch den HVV vorgegebenen einzelfallbezogenen Prüfung und rechtfertigt keine Grundsatzregelung dergestalt, dass
bei Vorliegen der aufgestellten Voraussetzungen immer und zwangsläufig die Teilnahme an der Ausgleichsregelung
ausscheidet. Die Beklagte hat zu erforschen, wo ggf. die Ursachen für Fallwert- und Honorarverluste liegen. Nur wenn
diese Analyse zu dem Ergebnis führt, dass diese Verluste allein darauf beruhen, dass die Praxisstruktur nicht mehr
vergleichbar ist, darf nach den Vorgaben des HVV ein Ausschluss von der Teilnahme an der Ausgleichsregelung
erfolgen.
Darüber hinaus erscheint die Festlegung der 1.000-EUR-Grenze willkürlich und schon deshalb rechtswidrig.
Schließlich erscheint auch das im Vorstandbeschluss niedergelegte Kriterium eines Vergleichs mit der Fachgruppe
als mit der Intention von § 5 Abs. 4 HVV unvereinbar. Eine Einzelfallprüfung verbietet grundsätzlich den Vergleich mit
anderen Praxen.
Eine Einzelfallprüfung wäre gerade im vorliegenden Fall besonders angezeigt gewesen, weil die Beklagte in ihren
Berechnungen zum Leistungsspektrum der Klägerin selber immer wieder dargelegt hat, dass gerade keine
Veränderung des Leistungsspektrums eingetreten ist. Insoweit nimmt das Gericht Bezug auf die zutreffenden
Ausführungen im Widerspruchsbescheid sowie in der Klageerwiderung vom 04.09.2009.
Nach alldem war der Klage stattzugeben und die Beklagte zur Neubescheidung zu verurteilen.
Bei ihrer Neubescheidung wird die Beklagte eine einzelfallbezogene Prüfung der Klägerin vorzunehmen haben. Dabei
wird sie das Leistungsspektrum der Klägerin im Basisquartal mit dem Leistungsspektrum in den Quartalen II/07 und
III/07 zu vergleichen haben. Da die einzige Veränderung, auf die die Beklagte rekurriert, die Verlagerung der
Vergütung kurativer Koloskopien in den extrabudgetären Bereich ist, bietet sich an, einen Fallwertvergleich der
Basisquartale mit den streitgegenständlichen Quartalen unter Herausrechnungen der kurativen Koloskopieleistungen
im Basisquartal anzustellen. Prognostisch wird dabei zur Überzeugung des Gerichts gleichwohl ein erheblicher
Fallwertverlust bestehen bleiben, den das Gericht jedoch der Höhe nach nicht zu beziffern vermag. Die
Honorarverluste scheinen nach Durchsicht der Honorarbescheide zumindest auch andere Ursachen, als die
Verlagerung der Vergütung kurativer Koloskopien in den extrabudgetären Bereich zu haben. Dem Honorarbescheid der
Klägerin für das Quartal II/07 im Vergleich zu II/05 ist exemplarisch zu entnehmen, dass die Honorareinbußen
wesentlich auf den Verfall des unteren Punktwertes im Primärkassenbereich im Rahmen des Regelleistungsvolumens
beruhen. Dieser ist im Quartal II/07 auf 1,197 Cent (PK) gegenüber 3,175 Cent (PK) im Basisquartal II/05 gesunken.
Insoweit handelt es sich offensichtlich um Veränderungen im Rahmen der Gesamtvergütung, die nicht durch eine
Veränderung des Leistungsspektrums bedingt sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 VwGO. Der unterliegende Teil trägt die
Kosten des Verfahrens. Eine Quotelung kam zur Überzeugung des Gerichts nicht in Betracht, da die Klägerin nahezu
vollständig obsiegt hat.