Urteil des SozG Marburg vom 28.01.2011

SozG Marburg: wichtiger grund, pacta sunt servanda, unwirksamkeit der kündigung, öffentliches recht, ordentliche kündigung, hauptsache, hessen, erfüllung, erlass, verfügung

Sozialgericht Marburg
Beschluss vom 28.01.2011 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Marburg S 6 KR 183/10 ER
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig über den 31.12.2010 hinaus bis
auf Weiteres (längstens jedoch bis zur Entscheidung in der Hauptsache) die ihr obliegenden Leistungen aus dem
zwischen den Beteiligten geschlossenen Vertrag über die Durchführung von Abrechnungsarbeiten zu erbringen.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten in der Sache um die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung der Antragsgegnerin.
Die Antragsteller schlossen im Jahre 2010 mit dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V., A-Stadt, und
dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V. (BVKJ) Hessen, B-Stadt, eine Vereinbarung gemäß § 132e
Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) über die Durchführung der Impfung
gegen humane Papillomviren (HPV). Diese Vereinbarung (im Folgenden: HPV-Vertrag) trat am 01.07.2010 in Kraft. Mit
dem HPV-Vertrag soll die Erfüllung des Leistungsanspruchs der Versicherten auf Durchführung einer Schutzimpfung
gegen humane Papillomviren (HPV) sichergestellt werden. Dieser ergibt sich aus § 20d SGB V i. V. m. der
entsprechenden Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses für gesetzlich krankenversicherte Mädchen im
Alter von 12 bis 17 Jahren. In § 3 des HPV-Vertrags wurde vereinbart, dass die betreffende Schutzimpfung von allen
Ärzten erbracht und abgerechnet werden kann, die an der vertragsärztlichen Versorgung im Rahmen ihrer
berufsrechtlichen Zuständigkeit im Bundesland Hessen teilnehmen und die Inhalte des HPV-Vertrags durch
Beitrittserklärung gegen sich gelten lassen. Das Muster einer solchen Beitrittserklärung ist dem HPV-Vertrag als
Anlage 1 beigefügt. Was die Modalitäten der Abrechnung und den Abrechnungsweg (Rechnungslegung) angeht, wird
in § 5 Abs. 4 des HPV-Vertrags auf einen gesondert abzuschließenden Vertrag über die Durchführung von
Abrechnungsarbeiten verwiesen.
Ein solcher Vertrag über die Durchführung von Abrechnungsarbeiten wurde sodann zwischen den Vertragspartnern
des HPV-Vertrags einerseits und der Antragsgegnerin andererseits abgeschlossen. In diesem Vertrag wurde von den
Beteiligten der HPV-Vertrag zugrunde gelegt. Auf dessen Basis verpflichtete sich die Antragsgegnerin, ab 01.07.2010
die Abrechnung der darin vorgesehenen Leistungen zu übernehmen. Zu diesem Zweck verpflichteten sich im
Gegenzug die Vertragspartner des HPV-Vertrags, der Antragsgegnerin regelmäßig aktuelle Informationen zu diesem
Vertrag zur Verfügung zu stellen. Weiterhin wurde vereinbart, dass die Antragsgegnerin die Teilnahmeerklärungen der
teilnehmenden Ärzte am HPV-Vertrag erhält und die Teilnahmevoraussetzungen (zugelassener Vertragsarzt im
Bereich der Antragsgegnerin) überprüft. Unter Ziffer 13 des Vertrags über die Durchführung von Abrechnungsarbeiten
wurde schließlich eine feste Laufzeit vom 01.07.2010 bis zum 31.12.2013 festgelegt. Weiter wurde vereinbart, dass
eine Kündigung aus wichtigem Grund mit einer Frist von sechs Wochen zum Ende eines Kalendervierteljahres
möglich sein soll. In der Folgezeit wurden die genannten Verträge von den jeweiligen Vertragspartnern zunächst
umgesetzt und die ihnen daraus erwachsenden Verpflichtungen ordnungsgemäß erfüllt. Von den im Bereich der
Antragsgegnerin zugelassenen Vertragsärzten erklärten bis zum Jahresende 2010 etwa 350 Kinder- und Jugendärzte
und etwa 160 Allgemein- und Frauenärzte ihren Beitritt zum HPV-Vertrag nach dessen § 3.
Mit Schreiben vom 11.11.2010 erklärte die Antragsgegnerin die fristgerechte Kündigung des Vertrags über die
Durchführung von Abrechnungsarbeiten zum 31.12.2010. Die Kündigung war einerseits an die "Verbände der
Krankenkassen in Hessen" und andererseits an den Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V. (Landesverband
Hessen und Bundesverband) gerichtet. Zur Begründung ihrer Kündigung führte die Antragsgegnerin aus, die übrigen
Vertragsparteien hätten "zwischenzeitlich doch sehr intensive Werbemaßnahmen ergriffen", um "auch Ärztinnen und
Ärzte anderer Fachgruppen zum Beitritt zu bewegen". Vor diesem Hintergrund sei es der Antragsgegnerin aus
Gründen ihrer gebotenen Neutralität nicht mehr möglich, die verabredeten Abrechnungsleistungen zu erbringen. In der
Folgezeit traten die Antragsteller der Kündigung entgegen und beharrten auf einer Erfüllung des geschlossenen
Vertrags über die Durchführung von Abrechnungsarbeiten. Dies lehnte die Antragsgegnerin ab. Durch die Einbindung
weiterer Facharztgruppen sei der Abrechnungsvertrag auf eine völlig neue Grundlage gestellt worden. Das von der
Antragsgegnerin ursprünglich in diesen Vertrag gesetzte Vertrauen sei dadurch in einem nicht wiederherstellbaren
Maße zerstört worden.
Am 17. Dezember 2010 (Eingangsdatum) haben die Antragsteller daraufhin bei dem Sozialgericht Marburg den Erlass
einer einstweiligen Anordnung beantragt.
Sie sind der Ansicht, die Kündigung des Vertrags über die Durchführung von Abrechnungsarbeiten durch die
Antragsgegnerin sei rechtswidrig. Der Antragsgegnerin stehe kein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung
zur Verfügung. Dieser ergebe sich insbesondere nicht aus der Tatsache, dass dem HPV-Vertrag über die Kinder- und
Jugendärzte hinaus zwischenzeitlich weitere Ärzte beigetreten seien. Die Berechtigung hierzu ergebe sich bereits aus
§ 3 Abs. 1 des HPV-Vertrags. Dies sei für die Antragsgegnerin auch aus Ziffer 2 des Abrechnungsvertrags ersichtlich
gewesen. Daher bestehe für die Antragsteller nach wie vor ein vertraglicher Erfüllungsanspruch, der im Verfahren des
einstweiligen Rechtsschutzes einen Anordnungsanspruch darstelle. Ein Anordnungsgrund ergebe sich aus der
Eilbedürftigkeit der gerichtlichen Entscheidung für die Antragsteller. Diesen stünde keine alternative
Abrechnungsorganisation zur Verfügung. Eine unmittelbare Abrechnung der Antragsteller mit den teilnehmenden
Vertragsärzten sei nicht praktikabel. Mittelbar sei dadurch auch die Sicherstellung der HPV-Impfungen in Hessen
gefährdet.
Die Antragsteller beantragen, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig über
den 31.12.2010 hinaus bis auf Weiteres (längstens jedoch bis zur Entscheidung in der Hauptsache) die Leistungen
aus dem zwischen den Beteiligten geschlossenen Vertrag über die Durchführung von Abrechnungsarbeiten weiterhin
zu erbringen.
Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Sie ist der Ansicht, es sei weder ein Anordnungsanspruch noch ein Anordnungsgrund gegeben. Der HPV-Vertrag
lasse den Abrechnungsweg offen. Den Antragstellern sei es daher möglich, die erbrachten Impfleistungen anderweitig
abzurechnen. Schließlich sei das Gericht nicht befugt, eine Entscheidung über die Wirksamkeit der Kündigung zu
treffen, da dies eine Vorwegnahme der Hauptsache bedeuten würde.
Das Gericht hat mit den Beteiligten am 26.01.2011 einen Termin zur Erörterung des Sachverhalts durchgeführt. Dabei
konnte keine vergleichsweise Lösung für die streitgegenständliche Frage gefunden werden. Die Antragsteller haben in
Erfüllung eines gerichtlichen Auflagenbeschlusses eine Kopie des streitgegenständlichen Vertrags über die
Durchführung von Abrechnungsarbeiten zur Gerichtsakte gereicht.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstands, insbesondere wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten, wird auf
die Gerichtsakte verwiesen. Diese ist Gegenstand des Erörterungstermins und Grundlage der Entscheidungsfindung
der Kammer gewesen.
II.
Der Rechtsweg zur Sozialgerichtsbarkeit ist gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eröffnet. Es handelt
sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit, weil der streitgegenständliche Anordnungsanspruch der Antragsteller auf
einem öffentlich-rechtlichen Vertrag basiert. Die Beteiligten haben mit dem Abschluss des Vertrags über die
Durchführung von Abrechnungsarbeiten ein Rechtsverhältnis auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts begründet. Da
sie im Verhältnis der Gleichordnung zueinander stehen, handelt es sich um einen koordinationsrechtlichen öffentlich-
rechtlichen Vertrag im Sinne von § 53 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren
und Sozialdatenschutz (SGB X). Das begründete Rechtsverhältnis ist dem öffentlichen Recht zuzuordnen, weil die
vertraglich geregelten Abrechnungsarbeiten den von Vertragsärzten gegenüber gesetzlich krankenversicherten
Patientinnen durchgeführten Schutzimpfungen gemäß § 132e SGB V gelten. Aus diesem Grund handelt es sich auch
um eine Angelegenheit der gesetzlichen Krankenversicherung im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Die Antragsteller
sind Krankenkassen (bzw. deren Verbände), die einerseits zur Versorgung ihrer Versicherten mit der HPV-
Schutzimpfung und andererseits zur Vergütung entsprechender Impfleistungen der Vertragsärzte verpflichtet sind. Im
Hinblick auf letzteres haben sie sich mit dem streitgegenständlichen Vertrag über die Durchführung von
Abrechnungsarbeiten einer Dienstleistung der Antragsgegnerin bedient. Mit der Erfüllung dieser Aufgabe der
Krankenkassen soll die Antragsgegnerin nach dem geschlossenen Vertrag über die Durchführung von
Abrechnungsarbeiten im Interesse der Antragsteller tätig werden. Damit handelt es sich nicht um eine Angelegenheit
des Vertragsarztrechts oder der Vertragsärzte, so dass die 6. Kammer des Sozialgerichts Marburg zur Entscheidung
über den Rechtsstreit berufen ist.
Die von den Antragstellern begehrte einstweilige Anordnung war zu erlassen, da der am 17.12.2010 bei Gericht
eingegangene Antrag zulässig und begründet ist.
Im vorliegenden Fall wäre im Hauptsacheverfahren eine allgemeine Leistungsklage die statthafte Klageart, so dass
Eilrechtsschutz über die Regelung des § 86b Abs. 2 SGG zu gewähren ist (siehe Keller, in Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 86b Rdnr. 24). Nach § 86b Abs. 2 SGG sind einstweilige
Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 86b Rdnr. 24). Nach § 86b Abs. 2 SGG sind einstweilige
Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig,
wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Erforderlich ist insoweit ein
Anordnungsanspruch, d. h. ein subjektiv öffentliches Recht des Antragstellers, für das er einstweiligen Rechtsschutz
durch eine vorläufige gerichtliche Regelung begehrt. Neben dem Anordnungsanspruch setzt § 86b Abs. 2 SGG einen
Anordnungsgrund voraus. Ein solcher ist bei Dringlichkeit der begehrten Entscheidung gegeben, d. h. das Abwarten
einer Hauptsacheentscheidung muss dem Antragsteller unzumutbar sein. Das Vorliegen des Anordnungsanspruchs
und des Anordnungsgrunds muss der Antragsteller gemäß § 86b Abs. 2 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2
Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft machen. Die einen Anordnungsanspruch oder Anordnungsgrund begründenden
Tatsachen sind glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen für das beschließende Gericht überwiegend wahrscheinlich ist.
Ein solcher Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist gemäß § 86b Abs. 3 SGG bereits vor Klageerhebung
in der Hauptsache zulässig.
Diese Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sind im vorliegenden Fall erfüllt. Die
Antragsteller haben sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Das sachliche Begehren der Antragsteller ist auf die Erfüllung des zwischen den Beteiligten geschlossenen Vertrags
über die Durchführung von Abrechnungsarbeiten gerichtet. Materielle Rechtsgrundlage ist damit ein
koordinationsrechtlicher öffentlich-rechtlicher Vertrag. Dessen Zustandekommen und Inhalt haben die Antragsteller
durch Übersendung einer Kopie der von den Beteiligten gegengezeichneten Vertragsurkunde nachgewiesen. Der
Vertrag über die Durchführung von Abrechnungsarbeiten ist schriftlich geschlossen worden (§ 56 SGB X). Es
bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass er gemäß § 58 SGB X nichtig sein könnte. Nach der im Eilverfahren
vorzunehmenden summarischen Prüfung der zugrundeliegenden Tatsachen geht das Gericht davon aus, dass der
Vertrag auch nicht zum 31.12.2010 wirksam gekündigt worden ist.
Die Kündigungserklärung der Antragsgegnerin vom 11.11.2010 konnte nicht auf Ziffer 13 des streitgegenständlichen
Vertrags über die Durchführung von Abrechnungsarbeiten gestützt werden. Danach ist eine ordentliche Kündigung des
Vertrags erstmals zum 31.12.2013 möglich. Eine außerordentliche Kündigung mit einer Auslauffrist von sechs
Wochen zum Ende eines Kalendervierteljahres setzt dagegen einen wichtigen Grund voraus. Ein solcher
Kündigungsgrund stand der Antragsgegnerin indes nicht zu. Was die Auslegung dieser Vertragsklausel angeht,
orientiert sich die Kammer an der gesetzlichen Regelung des § 314 Abs. 1 Satz 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB).
Nach dieser allgemeinen Regelung zur außerordentlichen Kündigung von Dauerschuldverhältnissen liegt ein wichtiger
Grund vor, wenn dem kündigenden Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung
der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses bis zur vereinbarten Beendigung oder bis
zum Ablauf einer Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Ein derartig gravierender Kündigungsgrund ist im
vorliegenden Fall nicht gegeben. Die Antragsgegnerin hat weder außergerichtlich noch (auf entsprechenden
richterlichen Hinweis im Erörterungstermin) im Laufe des gerichtlichen Verfahrens Umstände vorgetragen, die ihr die
weitere Durchführung von Abrechnungsarbeiten für die Antragsteller (notfalls bis zum 31.12.2013) unzumutbar
machen. Dies gilt insbesondere auch für die von der Antragsgegnerin in ihrem Kündigungsschreiben angeführte
Tatsache, dass zwischenzeitlich auch Ärztinnen und Ärzte anderer Fachgruppen dem HPV-Vertrag beigetreten sind.
Dies war von vornherein in § 3 des HPV-Vertrags vorgesehen, den die Antragsgegnerin bei Abschluss des
streitgegenständlichen Vertrags über die Durchführung von Abrechnungsarbeiten kannte. Im HPV-Vertrag wurde
ausdrücklich der Beitritt aller hessischen Vertragsärzte unabhängig von einer eventuellen fachärztlichen Ausrichtung
ermöglicht. Auch der zwischen den Beteiligten geschlossene Vertrag über die Durchführung von Abrechnungsarbeiten
selbst lässt in seiner Ziffer 2 erkennen, dass der HPV-Vertrag auf eine zunehmende Zahl von teilnehmenden Ärzten
ausgelegt ist. Die Antragsgegnerin hatte es gerade übernommen, nach Abgabe einer Beitrittserklärung durch einen
Arzt zu überprüfen, ob dieser die Teilnahmevoraussetzungen (zugelassener Vertragsarzt im Bereich der
Antragsgegnerin) erfüllt. Daraus konnte sie ohne weiteres schließen, dass auch Ärztinnen und Ärzte anderer
Fachgruppen als Teilnehmer in Betracht kommen. Auch die von der Antragsgegnerin übernommene Verpflichtung, u.
a. den Antragstellern regelmäßig eine Liste der teilnehmenden Ärzte zur Verfügung zu stellen, wäre nicht sinnvoll,
wenn man nicht von einem wechselnden Bestand an teilnehmenden Ärzten ausgehen würde. Soweit sich die
Antragsgegnerin darauf beruft, sie habe darauf vertraut, dass die von ihr abzurechnenden Impfungen lediglich von
Kinder- und Jugendärzten ausgeführt werden, so ist dieses Vertrauen nicht schutzwürdig, da es in den getroffenen
vertraglichen Abreden keine Stütze findet. Soweit die Antragsgegnerin darüber hinaus ihre gebotene Neutralität
gegenüber allen Vertragsärzten und deren Berufsverbänden anführt, betrifft diese Erwägung ausschließlich die
Motivebene bei Abschluss des streitgegenständlichen Vertrags. Da der mögliche Beitritt aller hessischen
Vertragsärzte zum HPV-Vertrag für die Antragsgegnerin bei Abschluss des Vertrags über die Durchführung von
Abrechnungsarbeiten bereits erkennbar war, hätte sie diese Umstände vor der Abgabe ihrer Willenserklärung zum
Vertragsschluss bedenken müssen. Sie berechtigen unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zur nachträglichen
Lösung von dem Vertrag. Eine Kündigung aus wichtigem Grund kann nicht auf Umstände gestützt werden, die bereits
bei Vertragsschluss bekannt waren. Insoweit gilt der Grundsatz pacta sunt servanda.
Die Kündigung durch die Antragsgegnerin kann auch nicht auf § 59 Abs. 1 Satz 1 SGB X gestützt werden. Danach
kommt eine Kündigung in Betracht, wenn sich die Verhältnisse, die für die Festsetzung des Vertragsinhalts
maßgebend gewesen sind, seit Abschluss des Vertrags so wesentlich geändert haben, dass einer Vertragspartei das
Festhalten an der ursprünglichen vertraglichen Regelung nicht zuzumuten ist. Dass auch diese Voraussetzungen, die
einen Wegfall der Geschäftsgrundlage bedeuten, im vorliegenden Fall nicht erfüllt sind, erhellt sich bereits aus dem
oben Gesagten. Zudem wäre gemäß § 59 Abs. 1 Satz 1 SGB X zunächst eine Anpassung des Vertragsinhalts an die
geänderten Verhältnisse zu verlangen. Schließlich ist die Kündigung auch nicht gemäß § 59 Abs. 1 Satz 2 SGB X
erforderlich, um schwere Nachteile für das Gemeinwohl zu verhüten oder zu beseitigen.
Durchgreifende Bedenken gegen die Wirksamkeit der Kündigung der Antragsgegnerin zum 31.12.2010 bestehen aus
Sicht der Kammer darüber hinaus, weil nicht davon auszugehen ist, dass die Kündigungserklärung den Antragstellern
fristgemäß zugegangen ist. Insoweit schreibt Ziffer 13 des Vertrags über die Durchführung von Abrechnungsarbeiten
die Einhaltung einer Frist von sechs Wochen zum Ende eines Kalendervierteljahres vor. Zwar ist die
Kündigungserklärung im vorliegenden Fall am 11.11.2010 von der Antragsgegnerin abgegeben worden. Es lässt sich
aber nicht nachvollziehen, ob die Erklärung den Antragstellern bis zum 19.11.2010 zugegangen ist. Denn die
Antragsgegnerin hat ihre Kündigungserklärung unmittelbar lediglich an die Verbände der Krankenkassen in Hessen
gerichtet. Es ist nicht ersichtlich, warum diese für die Antragsteller zur Entgegennahme von Willenserklärungen
vertretungsberechtigt gewesen sein sollte. Die Antragsgegnerin hat auch auf einen entsprechenden richterlichen
Hinweis im Erörterungstermin keine Umstände vorgetragen, aus denen sich eine solche (rechtsgeschäftliche oder
gesetzliche) Vertretungsmacht ergeben könnte. Die Kammer sieht insbesondere die Regelung in § 211 Abs. 2 SGB V
insoweit nicht als hinreichende Rechtsgrundlage an. Danach unterstützen die Landesverbände ihre Mitgliedskassen
bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und bei der Wahrnehmung ihrer Interessen insbesondere durch Abschluss und
Änderung von Verträgen, soweit sie von der Mitgliedskasse hierzu bevollmächtigt worden sind (Nr. 3) sowie durch
Übernahme der Vertretung der Mitgliedskassen gegenüber anderen Trägern der Sozialversicherung, Behörden und
Gerichten (Nr. 4). Insbesondere die letztgenannte Regelung allein bewirkt keine allgemeine Vertretungsbefugnis. Sie
setzt vielmehr nach dem Wortlaut der Vorschrift voraus, dass die Vertretung "übernommen" wird, was eine
entsprechende Bevollmächtigung durch die Krankenkasse voraussetzt. Andernfalls würde die Einschränkung in § 211
Abs. 2 Nr. 3 SGB V leerlaufen, wonach für den Abschluss und die Änderung von Verträgen ausdrücklich eine
Bevollmächtigung erforderlich ist.
Die Antragsteller haben daneben auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Dieser ergibt sich aus der
besonderen Eilbedürftigkeit der gerichtlichen Entscheidung. An die Feststellung des Anordnungsgrunds sind im
vorliegenden Fall keine übertriebenen Anforderungen zu stellen. Denn Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund
stehen nicht beziehungslos nebeneinander, sondern bilden vielmehr auf Grund ihres funktionalen Zusammenhalts ein
bewegliches System (vgl. Keller, a.a.O, Rdnr. 27 ff.). Im vorliegenden Fall ist der Anordnungsanspruch offensichtlich
gegeben, da an der Unwirksamkeit der Kündigung des streitgegenständlichen Abrechnungsvertrags durch die
Antragsgegnerin zum 31.12.2010 nach dem oben Gesagten keine Zweifel bestehen können. Dementsprechend
geringere Anforderungen sind an die Glaubhaftmachung des Anordnungsgrunds zu stellen. Die Antragsteller haben
wesentliche Nachteile glaubhaft gemacht, die entstehen würden, wollte man sie auf ein Abwarten der
Hauptsacheentscheidung verweisen. Bis zu einem (zumindest rechtskräftigen) Abschluss des Hauptsacheverfahrens
könnten nach allgemeiner Lebenserfahrung mehrere Jahre vergehen. In dieser Zwischenzeit würde die
Antragsgegnerin die ihr nach dem Vertrag über die Durchführung von Abrechnungsarbeiten obliegenden Leistungen
nicht erbringen. Damit wäre der zwischen den Beteiligten geschlossene Vertrag weitgehend entwertet, da er während
des Großteils seiner Mindestvertragslaufzeit bis zum 31.12.2013 nicht umgesetzt werden würde. Daher wären die
Antragsteller darauf angewiesen, für die Zwischenzeit ein alternatives Abrechnungssystem aufzubauen. Dieses würde
sich jedoch im Nachhinein als überflüssig und damit auch unwirtschaftlich erweisen, wenn die Antragsteller in der
Hauptsache obsiegen würden (wovon nach dem oben Gesagten auszugehen ist). Die Kontinuität in den
Abrechnungsmodalitäten ist für die Antragsteller darüber hinaus von Bedeutung, um ihren Pflichten aus dem HPV-
Vertrag gegenüber den teilnehmenden Vertragsärzten nachkommen zu können. Müssten sie entsprechende
Vergütungsansprüche zunächst schuldig bleiben, so würde dies mittelbar sicherlich auch zu einer geringeren Zahl
dem HPV-Vertrag beitretender Vertragsärzte führen. Ebenso würden vermutlich bereits teilnehmende Vertragsärzte die
Erbringung von Impfleistungen nach dem HPV-Vertrag nach Möglichkeit vermeiden. Diese Weiterungen würden in
einem offensichtlichen Widerspruch zu dem öffentlichen Interesse an der Volksgesundheit stehen. Dagegen ist die
drohende Beeinträchtigung der Antragsgegnerin durch den Erlass der einstweiligen Anordnung selbst für den Fall,
dass sie im Hauptsacheverfahren obsiegen sollte, geringfügig. Immerhin werden die von ihr in der Übergangszeit
weiterhin zu erbringenden Abrechnungsleistungen vertragsgemäß vergütet (nach Ziffer 5 des Vertrags über die
Durchführung von Abrechnungsarbeiten).
Die vom Gericht getroffene einstweilige Anordnung war zeitlich zu begrenzen, um eine endgültige Vorwegnahme der
Hauptsache zu vermeiden. Dass die von der Antragsgegnerin in der Übergangszeit erbrachten Abrechnungsarbeiten
auch bei einem Obsiegen in der Hauptsache nicht mehr rückgängig gemacht werden können, ist dagegen im
vorliegenden Fall hinzunehmen. Andernfalls wäre nach den obigen Ausführungen zum Anordnungsgrund ein effektiver
Rechtsschutz für die Antragsteller, der den Anforderungen des Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) gerecht wird, nicht
zu verwirklichen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i. V. m. § 154 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Danach hat der
unterliegende Teil die Kosten des Verfahrens zu tragen.