Urteil des SozG Marburg vom 19.02.2008

SozG Marburg: physikalische therapie, verordnung, anleitung, patient, rehabilitation, selbsthilfe, krankenkasse, balneotherapie, heilmittel, versorgung

Sozialgericht Marburg
Urteil vom 19.02.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht Marburg S 6 KR 137/06
Hessisches Landessozialgericht L 8 KR 87/08
Der Bescheid der Beklagten vom 10. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. November 2006
wird aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die Kosten für die Teilnahme am Funktionstraining für
zwölf Monate aufgrund der ärztlichen Verordnung vom 20. Februar 2006 in Höhe von insgesamt 312,00 EUR zu
erstatten.
Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Berufung gegen dieses Urteil wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Erstattung von Kosten, die ihm für die Teilnahme am Funktionstraining der
örtlichen Morbus Bechterew-Gruppe entstanden sind.
Der 1950 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Mit Bescheid des Hessischen Amtes
für Versorgung und Soziales GF. vom 7. Juni 2004 wurde bei ihm ein Grad der Behinderung von 100 sowie das
Merkzeichen G festgestellt. Dabei wurden die Auswirkungen folgender Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt:
"Bechterew’sche Erkrankung mit Gelenkbeteiligung; seelische Verstimmung, Alkoholabhängigkeit; Bluthochdruck,
Herzschaden; chronische Bronchitis und Nebenhöhlenentzündung; ekzematöse Hautveränderungen". Wegen seiner
Bechterew’schen Erkrankung nahm der Kläger schon seit vielen Jahren an einer spezifischen Gruppengymnastik
unter fachlicher Anleitung im Klinikum LX. teil. Die Kosten für dieses Funktionstraining wurden über Jahre hinweg von
der Beklagten übernommen, zuletzt bis zum 2. Februar 2006.
Am 20. Februar 2006 beantragte der Kläger bei der Beklagten unter Vorlage einer "Ärztlichen Verordnung für
Funktionstraining" seines Internisten und Rheumatologen Dr. D. vom gleichen Tag für die Folgezeit erneut die
Kostenübernahme. Aus dieser Verordnung ergibt sich, dass der Kläger unter einer chronisch fortschreitenden,
schmerzhaften Einschränkung der Beweglichkeit an Wirbelsäule, Thorax und stammnahen Gelenken leidet. Ziel des
Funktionstrainings soll es danach sein, die Schmerzen zu reduzieren, sowie die gestörte Muskel- und Gelenkfunktion
zu verbessern. Verordnet wurde eine Kombination aus Trocken- und Wassergymnastik für die Dauer von zwölf
Monaten (eine Übungsveranstaltung pro Woche).
Im Verwaltungsverfahren holte die Beklagte zunächst zwei kurze Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes der
Krankenversicherung (MDK) ein. Darin wurde die medizinische Notwendigkeit einer Verlängerung des
Leistungsanspruchs verneint. In der Folgezeit legte der Kläger eine ärztliche Bescheinigung seiner Hausärzte vom 25.
April 2006 vor, wonach eine eigenverantwortliche Durchführung des Übungsprogramms bei dem Kläger nicht möglich
ist. Der sich ständig veränderte Beschwerdekomplex erfordere eine dauerhafte Anpassung der Übungen. Auch der
Facharzt Dr. D. empfahl in einer Bescheinigung vom 30. März 2006 die Fortführung des Funktionstrainings in der
Gruppe. Auch die Vorlage dieser Unterlagen beim MDK führte nicht zu einer geänderten Beurteilung. Mit Bescheid
vom 10. Mai 2006 lehnte die Beklagte daraufhin die Kostenübernahme für das Funktionstraining über den 2. Februar
2006 hinaus ab. Der Kläger habe die Förderungshöchstdauer für das Funktionstraining von 24 Monaten bereits
ausgeschöpft. Dagegen erhob der Kläger, vertreten durch seine Bevollmächtigte, fristgerecht Widerspruch. Zur
Begründung des Widerspruchs wurde später vorgetragen, der Kläger sei wegen des Ausmaßes seiner Behinderungen
auf das Funktionstraining in der Gruppe angewiesen. Die speziellen Übungen erforderten Geräte, eine Trainingshalle
und Warmwasserbäder. Diese Möglichkeiten habe der Kläger in seiner häuslichen Umgebung jedoch nicht. Mit
Widerspruchsbescheid vom 7. November 2006 wurde der Widerspruch von der Beklagten zurückgewiesen. Dabei
stützte sich die Beklagte auf die Rahmenvereinbarung über den Rehabilitationssport und das Funktionstraining in der
Fassung vom 1. Oktober 2003. Danach sei die Leistungsdauer grundsätzlich auf 24 Monate beschränkt. Eine
Verlängerung sei nur möglich, wenn die Motivation zur Durchführung des Übungsprogramms in Eigenverantwortung
krankheits- oder behinderungsbedingt nicht oder noch nicht gegeben sei. Diese medizinischen Voraussetzungen seien
bei dem Kläger nicht gegeben. Daher verbleibe es bei dem Grundsatz, dass das für den Kläger zweifellos sinnvolle
Funktionstraining den Charakter einer Hilfe zur Selbsthilfe habe. Daraus ergebe sich dann auch die zeitlich begrenzte
Förderungsdauer.
Am 17. November 2006 (Eingangsdatum) hat der Kläger dagegen durch seine Prozessbevollmächtigte Klage zum
Sozialgericht Marburg erhoben.
Der Kläger ist der Ansicht, die Ablehnung der Beklagten sei rechtswidrig, da die Rahmenvereinbarung, auf die sich die
Beklagte stützt, seinen gesetzlichen Leistungsanspruch nicht einschränken könne. Da er inzwischen die Kosten für
die Teilnahme am Funktionstraining für den am 20. Februar 2006 verordneten Zeitraum in Höhe von insgesamt 312,00
EUR selbst getragen habe, sei ihm ein entsprechender Kostenerstattungsanspruch gegen die Beklagte erwachsen.
Der Kläger beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 10. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
7. November 2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die Kosten für die Teilnahme am
Funktionstraining für zwölf Monate aufgrund der ärztlichen Verordnung vom 20. Februar 2006 in Höhe von insgesamt
312,00 EUR zu erstatten.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie hält den angegriffenen Bescheid für rechtmäßig. Der Kläger sei auf die Möglichkeit zu verweisen, die erlernten
Trainingsmaßnahmen in Eigenregie durchzuführen.
Das Gericht hat Befundberichte der den Kläger behandelnden Hausärzte Dr. C. und Dr. D. vom 5. Februar 2007 (Bl. 18
der Akte) und von dem klägerischen Internisten und Rheumatologen Dr. D. vom 20. März 2007 (Bl. 39 der Akte)
angefordert. Am 8. Januar 2008 hat das Gericht mit den Beteiligten einen Erörterungstermin durchgeführt. In dieser
Sitzung hat der Kläger dargelegt, dass er ungeachtet der Leistungsablehnung durch die Beklagte durchweg am
Funktionstraining teilgenommen hat. Seit der Verweigerung der Kostenübernahme durch die Beklagte im Februar 2006
habe er die Teilnahmegebühren von 6,00 EUR wöchentlich stets selbst getragen. Sodann hat der Vorsitzende ein aus
dem Rechtsstreit S 6 KR 156/05 beigezogenes Sachverständigengutachten von Frau Prof. Dr. C. zum Gegenstand
der Erörterung gemacht. Das anonymisierte Gutachten ist den Beteiligten mit der Sitzungsniederschrift übersandt
worden. Sie hatten Gelegenheit zur Stellungnahme hierzu.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes, insbesondere wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten, wird auf
die Gerichtsakte sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten verwiesen. Diese Unterlagen waren
Gegenstand der Erörterung in der Sitzung vom 8. Januar 2008 und lagen der Entscheidungsfindung zugrunde.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer konnte den vorliegenden Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die
Beteiligten im Erörterungstermin vom 8. Januar 2008 mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklärt haben (§ 124
Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 10. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. November 2006 war
aufzuheben, da er rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Dem Kläger steht ein Anspruch gegen
die Beklagte auf Erstattung der Kosten für die Teilnahme am Funktionstraining für zwölf Monate aufgrund der
ärztlichen Verordnung vom 20. Februar 2006 in Höhe von insgesamt 312,00 EUR zu.
Da der Kläger die Kosten für die streitgegenständliche Teilnahme am Funktionstraining inzwischen selbst getragen
hat, hat sich sein primärer Sachleistungsanspruch gegen die Beklagte in einen Kostenerstattungsanspruch
umgewandelt. Rechtsgrundlage hierfür ist die Regelung des § 13 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch -
Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V). Danach hat eine Krankenkasse ihrem Versicherten für eine selbst
beschaffte Leistung entstandene Kosten zu erstatten, wenn die Leistung notwendig war und die Krankenkasse
entweder eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt
hat. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt, da dem Kläger mit der Tragung der Kosten für die
Teilnahme am Funktionstraining Aufwendungen für eine notwendige Leistung entstanden sind, die die Beklagte zu
Unrecht abgelehnt hat. Denn dem Kläger stand aufgrund der ärztlichen Verordnung vom 20. Februar 2006 ein
Anspruch auf Kostenübernahme für das Funktionstraining für weitere zwölf Monate zu.
Ein solcher Sachleistungsanspruch auf die begehrte Leistung ergibt sich aus § 43 Abs. 1 SGB V in Verbindung mit §
44 Abs. 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe (SGB IX). Insoweit schließt sich die
Kammer der Rechtsprechung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in seinem Urteil vom 10. Mai 2007 – L 5
KR 189/06 an (siehe ferner etwa Sozialgericht Augsburg, Urteil vom 24. Mai 2006 – S 12 KR 512/05). Nach § 11 Abs.
2 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sowie auf
unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen, die notwendig sind, um eine Behinderung abzuwenden, zu
beseitigen, zu mindern oder auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mindern. Die
Leistungen nach § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB V werden unter Beachtung des SGB IX erbracht, soweit im SGB V nichts
anderes bestimmt ist (§ 11 Abs. 2 Satz 3 SGB V). Die Regelung des § 43 Abs. 1 SGB V sieht vor, dass die
Krankenkasse neben den Leistungen, die nach § 44 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 SGB IX sowie nach §§ 53 und 54 SGB IX als
ergänzende Leistungen zu erbringen sind, weitere Leistungen zur Rehabilitation ganz oder teilweise erbringen oder
fördern kann. Aufgrund dieser Verweisung gelten die Regelungen des SGB IX zur Ausführung der
Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung im vorliegenden Fall unmittelbar, weil das SGB V für
das Funktionstraining (§ 44 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX) als ergänzende Leistungen zur Rehabilitation i.S.v. § 11 Abs. 2 Satz
3 SGB V und § 7 SGB IX nichts Abweichendes bestimmt. Da sich die Zuständigkeit und die Voraussetzungen für die
Leistungen zur Teilhabe nach den für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen richten (§ 7
Satz 2 SGB IX), müssen auch die ergänzenden Leistungen nach § 43 Abs. 1 SGB V i.V.m. § 44 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX
nicht nur notwendig i.S.d. § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB V sein. Sie unterliegen auch dem allgemeinen
Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V, d.h. sie müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und sie
dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Wie sich aus dem Wortlaut des §
43 Abs. 1 SGB V ergibt ("zu erbringen ... sind"), besteht ein Rechtsanspruch auf die hier streitige ergänzende
Leistung Funktionstraining nach § 44 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX.
Diese gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt. Der Kläger bedarf aufgrund seiner
gesundheitlichen Einschränkungen einer ergänzenden Leistung zur Rehabilitation in Form des fortgesetzten
Funktionstrainings. Nur durch die weitere (voraussichtlich dauerhafte) Teilnahme an dem streitgegenständlichen
Gruppentraining lässt sich die bei dem Kläger eingetretene Behinderung mindern und ihre Verschlimmerung verhüten
bzw. lassen sich ihre Folgen mildern.
Im Ergebnis der von Amts wegen durchgeführten medizinischen Sachverhaltsermittlungen steht zur Überzeugung der
Kammer fest, dass der Kläger an einer Bechterew’schen Erkrankung mit Verschlechterungstendenz leidet. Allein
dieser Befund führt bereits dazu, dass der Kläger nach den Maßstäben des SGB IX als schwerbehinderter Mensch
anzusehen ist. Hinzukommen weitere Leiden, die zu einer Verstärkung der Funktionsbeeinträchtigungen führen
(insbesondere auf internistischem und orthopädischem Fachgebiet).
In dieser Situation lassen sich die oben genannten Ziele des § 11 Abs. 2 SGB V nach Auffassung der Kammer allein
durch eine Fortsetzung des Funktionstrainings unter Anleitung in der Gruppe erreichen. Damit ist eine entsprechende
Leistungsgewährung der Beklagten notwendig. Die Kostenübernahme für das Funktionstraining ist ausreichend,
zweckmäßig und wirtschaftlich (§ 12 SGB V). Bei dieser Beurteilung stützt sich die Kammer in erster Linie auf das
mit den Beteiligten erörterte Sachverständigengutachten aus dem Verfahren S 6 KR 156/05, das der Vorsitzende im
Erörterungstermin vom 8. Januar 2008 in den vorliegenden Rechtsstreit eingeführt hat. In diesem Gutachten hat die
erfahrene gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. C. bezüglich eines anderen Patienten, der an Morbus Bechterew
leidet, nachdrücklich die weitere Kostenübernahme für das Funktionstraining in der Gruppe befürwortet. Unter
Heranziehung zahlreicher Quellen aus der Literatur hat die Sachverständige wissenschaftlich begründet, welche
Vorteile das Funktionstraining in der Gruppe gegenüber häuslichen Eigenübungen aufweist. Die in ihrem Gutachten
aufgeworfene Frage, ob bei einer (dem vorliegenden Fall vergleichbaren) ausgeprägten Funktionsstörung und
chronischen Erkrankung die spezielle Form der Therapie besondere Vorteile erwarten lässt und ob die
Verhältnismäßigkeit zwischen Aufwand und Effekt im Vergleich zu anderen Maßnahmen gegeben ist, wird im
Ergebnis bejaht. In der gesamten Literatur sei unbestritten, dass die Spondylitis ankylosans einer dauerhaften
Bewegungstherapie bedarf. Sowohl die Funktion des betroffenen Bewegungsapparats als auch der Schmerz sowie die
Krankheitsaktivität könne durch eine Bewegungstherapie günstig beeinflusst werden. Unabhängig von sonstigen
medikamentösen oder passiven Therapiemaßnahmen benötige ein betroffener Patient dauerhaft eine
Bewegungstherapie. Dabei biete eine Instruktion der Betroffenen prinzipielle Vorteile bei der Ausübung des
erforderlichen Übungsprogramms. Auch die aktive Kooperation innerhalb der Gruppe von betroffenen Patienten habe
erhebliche Bedeutung. Das (mit dem vorliegenden Fall identische) Übungsprogramm mit den Inhalten
"Trockenübungen, Schwimmen und Gruppensport unter Anleitung eines Physiotherapeuten" einmal wöchentlich von 2
½ Stunden Dauer erfüllt nach Ansicht der gerichtlichen Sachverständigen optimale Kriterien zur Behandlung des
Krankheitsbilds. Denn die medizinische Fachliteratur deute stark darauf hin, dass ein Patient mit der Teilnahme an
einer solchen Gruppe besser behandelt sei als ein Patient mit einem Eigenübungsprogramm. Hintergrund dessen sei
sowohl die explizite Anleitung als auch der Umstand, dass bei einem solchen Funktionstraining Instrumente zur
Verfügung stehen, die in keinem Heimübungsprogramm vorhanden sind. Hervorzuheben seien insoweit der
Gruppensport sowie die Therapie im Schwimmbad. Infolgedessen sei die Behandlung des Krankheitsbilds durch die
Gruppentherapie wesentlich effektiver zu gestalten als allein durch Eigenübungen. Dies gelte ausdrücklich auch für
den Fall, dass der Patient die Eigenübungen nach Anleitung bereits ideal ausführen kann. Ein Eigenübungsprogramm
stehe in der Wertigkeit stets unter dem Funktionstraining in der Gruppe. Was die von der Sachverständigen zitierten
Studien angeht, erscheinen der Kammer insbesondere zwei Ergebnisse bedeutsam. So bestand in einer weltweiten
Expertenumfrage 2005 bei über 90 % der Befragten Konsens, dass physikalische Therapie, Anleitung zur
physikalischen Therapie und Balneotherapie von entscheidender Bedeutung seien. Der günstige Effekt einer
Balneotherapie als zusätzlicher Maßnahme wird auch in einer weiteren, 2006 veröffentlichten, Studie bestätigt.
Außerdem berichtet die gerichtliche Sachverständige über eine 2003 veröffentlichte, doppelblind durchgeführte,
Vergleichsstudie, in der Patienten einer angeleiteten Sportgruppe gegenüber der Heimübungsgruppe signifikant besser
abgeschnitten haben.
Die Ausführungen der Sachverständigen Prof. Dr. C. sind schlüssig und nachvollziehbar. Sie überzeugen durch ihre
wissenschaftliche Fundiertheit. Die Einschätzung der Vorteile, die eine weitere Teilnahme am Funktionstraining in der
Gruppe bietet, steht auch im Einklang mit den ärztlichen Bescheinigungen, die der Kläger im Verwaltungsverfahren
von den ihn behandelnden Ärzten vorgelegt hat. Schließlich vermögen die von der Beklagten im Verwaltungsverfahren
eingeholten Stellungnahmen des MDK keine andere medizinische Beurteilung zu rechtfertigen. Denn die betreffenden
Gutachter des MDK haben sich nicht die Mühe gemacht, die medizinische Notwendigkeit anhand der Umstände des
Einzelfalls zu beurteilen. Sie haben sich vielmehr pauschal auf die Ausschlusskriterien der Rahmenvereinbarung über
den Rehabilitationssport und das Funktionstraining vom 1. Oktober 2003 gestützt, aus der sich indes kein
Leistungsausschluss für den Kläger ableiten lässt (dazu sogleich). Soweit der MDK in seiner Stellungnahme vom 13.
März 2006 darüber hinaus davon ausgeht, der Kläger könne das erlernte Übungsprogramm selbstverantwortlich
durchführen, vermag dies angesichts der dargelegten Ausführungen der Sachverständigen Prof. Dr. C. nicht zu
überzeugen. Aus Sicht der Kammer ist es vielmehr evident, dass der Kläger das entsprechende Übungsprogramm
(Gruppensport, Balneotherapie) gerade nicht in seiner häuslichen Umgebung ausüben kann. Letztlich geht wohl auch
die Beklagte selbst von der medizinischen Notwendigkeit des Funktionstrainings für den Kläger aus, wenn sie dieses
im Widerspruchsbescheid ausdrücklich als "sinnvoll" bezeichnet.
Der Anspruch des Klägers ist – auch unter Berücksichtigung der vorangegangenen jahrelangen Kostenübernahme
durch die Beklagte – nicht wegen des Überschreitens einer bestimmten Förderungshöchstdauer ausgeschlossen. Eine
solche zeitliche Begrenzung des klägerischen Leistungsanspruchs lässt sich den oben genannten gesetzlichen
Regelungen nicht entnehmen. Entgegen der Auffassung der Beklagten bietet auch die Rahmenvereinbarung über den
Rehabilitationssport und das Funktionstraining vom 1. Oktober 2003 insoweit keine Rechtsgrundlage. Auf den
vorliegenden Fall ist noch nicht die Neufassung der Rahmenvereinbarung vom 1. Januar 2007 anwendbar, da sich
diese nach der Übergangsregelung in Nr. 20.3 nur auf ärztliche Verordnungen für Funktionstraining aus der Zeit ab
dem Jahr 2007 bezieht. Der danach einschlägigen Rahmenvereinbarung vom 1. Oktober 2003 lässt sich allerdings
entnehmen, dass der Leistungsumfang beim Funktionstraining in den Fällen einer schweren Beeinträchtigung der
Beweglichkeit durch chronisch verlaufende entzündliche rheumatische Erkrankungen 24 Monate beträgt. Eine längere
Leistungsdauer ist nur vorgesehen, wenn die Motivation zur Durchführung des Übungsprogramms in
Eigenverantwortung krankheits- oder behinderungsbedingt nicht oder noch nicht gegeben ist. Aus diesen Regelungen
wird allgemein geschlussfolgert, dass das Funktionstraining eine "Hilfe zur Selbsthilfe" darstellen soll. Nach einer
maximal zweijährigen Anleitungszeit soll der Patient die erlernten Übungen in Eigenregie weiterführen. Ob dieser
Gedanke und die darauf gestützte Leistungsbeschränkung generell zu verwerfen ist, kann im vorliegenden Fall
unentschieden bleiben. Zumindest wenn – wie hier – angesichts der medizinischen Besonderheiten des zu
entscheidenden Einzelfalls von der Notwendigkeit einer Fortsetzung des Funktionstrainings über 24 Monate hinaus
auszugehen ist, bietet die genannte Rahmenvereinbarung keine Handhabe zur Beschränkung eines entsprechenden
Leistungsanspruchs. Eine solche Rechtsmacht steht den Urhebern der genannten Rahmenvereinbarung, den
Leistungsträgern im Rehabilitationsbereich und den Leistungserbringern, nicht zu. Selbst wenn der Gesetzgeber – wie
die Beklagte meint – davon ausgegangen sein sollte, die nähere Ausgestaltung von Rehabilitationssport und
Funktionstraining durch die entsprechende Rahmenvereinbarung habe verbindlichen Charakter, ändert dies an der
rechtlichen Bewertung nichts. Denn ein solcher vermeintlicher Willen des historischen Gesetzgebers (siehe zu den
Hintergründen BT-Drucks. 14/5074, S. 101) hat im Gesetzestext keinen Niederschlag gefunden. Es existiert keine
Norm, der sich eine entsprechende Delegation von Regelungsbefugnissen entnehmen lässt (so schon LSG Nordrhein-
Westfalen, Urteil vom 10. Mai 2007 – L 5 KR 189/06), was angesichts der sogenannten
Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch rechtlichen Bedenken unterliegen würde. Der
Rahmenvereinbarung verbleibt hiernach die Aufgabe der Koordination und der Kooperation der Rehabilitationsträger.
Diese können für die Regelfälle die Inhalte und den regelmäßigen Leistungsumfang von Rehabilitationssport und
Funktionstraining festlegen (so schon LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O., unter Hinweis auf LSG Baden-Württemberg,
Urteil vom 19. August 2005 – L 4 KR 5250/03). Die dort normierten zeitlichen Grenzen des Leistungsanspruchs, die
eine Ausprägung der in § 1 Satz 2 SGB V verankerten Eigenverantwortung des Versicherten darstellen, behalten ihre
Bedeutung für Fälle, in denen Versicherte nicht mehr aus medizinischen Gründen auf die Übungen in der Gruppe, die
Anleitung und die Überwachung angewiesen sind (vgl. auch LSG Brandenburg, Urteil vom 31. März 2004 – L 4 KR
63/03).
Nicht zu folgen vermag die Kammer schließlich der Rechtsprechung des LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 25. Oktober
2007 – L 5 KR 60/07 – Revision derzeit unter Az. B 1 KR 36/07 R beim BSG anhängig), wonach das Funktionstraining
schon begrifflich nur ein zeitlich begrenztes Übungsprogramm sei. Soweit sich das LSG Rheinland-Pfalz dabei auf die
bei Einführung des SGB IX geltende Gesamtvereinbarung über den Rehabilitationssport und das Funktionstraining
stützt, ist die Argumentation nicht schlüssig, weil auch seinerzeit bereits anerkannt war, dass das Funktionstraining
auch über die regelmäßige Dauer hinaus verlängert werden kann. So muss auch das LSG Rheinland-Pfalz
konzedieren, dass nach der genannten Gesamtvereinbarung das Funktionstraining durchaus auch solchen Personen
zugebilligt wird, deren Fähigkeit, die Übungen selbständig durchzuführen, von vornherein fehlt. Eine – auch zeitlich
begrenzte – Förderung des Funktionstrainings als Hilfe zur Selbsthilfe wäre jedoch bei diesem Personenkreis
zwecklos und würde damit dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V widersprechen. Nicht tragfähig ist auch die
vom LSG Rheinland-Pfalz gezogene Parallele zur Versorgung der gesetzlich Krankenversicherten mit Heilmitteln.
Wenn Heilmittel nach Nr. 11.2.2 der Heilmittel-Richtlinien nur bis zum Erreichen der dort festgelegten
Gesamtverordnungsmenge verordnet werden dürfen, besagt dies gerade nichts über die Möglichkeit der dauerhaften
Bewilligung von Funktionstraining. Denn für die Versorgung mit Heilmitteln existiert in § 32 SGB V ein ausdrücklicher
Vorbehalt bezüglich der entsprechenden Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß § 92 Abs. 1 Satz 2
Nr. 6 SGB V. An einer solchen parlamentsgesetzlichen Legitimation zur Leistungsbeschränkung fehlt es nach dem
oben Gesagten aber für das Funktionstraining. Der vom LSG Rheinland-Pfalz gezogene Erstrechtschluss entbehrt
damit jeder rechtlichen Grundlage. Auch droht keine Umgehung der Begrenzung des Anspruchs auf Heilmittel, weil es
sich inhaltlich um verschiedene und unterscheidbare Maßnahmen handelt, deren Verordnung unter Berücksichtigung
der Erfordernisse des Einzelfalles in die Kompetenz des Vertragsarztes fällt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Kammer hat die Berufung gegen dieses Urteil wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 144
Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen. Wie oben ausgeführt ist die entscheidungserhebliche Rechtsfrage in der
Rechtsprechung der Landessozialgerichte umstritten. Eine höchstrichterliche Klärung existiert bislang nicht.