Urteil des SozG Marburg vom 17.05.2006

SozG Marburg: berufsunfähigkeit, ärztliches zeugnis, vertragsarzt, hessen, brustkrebs, anwartschaft, zusage, beitragspflicht, krankheit, bekanntmachung

Sozialgericht Marburg
Urteil vom 17.05.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Marburg S 12 KA 1025/05
Hessisches Landessozialgericht L 4 KA 47/06
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat der Beklagten die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Sie hat auch die
Gerichtskosten zu tragen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die uneingeschränkte Teilnahme an der Erweiterten Honorarverteilung (EHV).
Die 1962 geborene und jetzt 43-jährige Klägerin ist als Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe zur
vertragsärztlichen Versorgung mit Praxissitz in X seit 01.04.2003 zugelassen. Sie ist an einem Mammakarzinom
erkrankt und wurde deshalb im Jahr 2002 operiert.
Zur Prüfung der Voraussetzungen auf Anwendung der Mindestsatzregelung im Falle einer Berufsunfähigkeit nach den
Grundsätzen der EHV (GEHV) reichte sie ein auf Veranlassung der Beklagten erstelltes und nach Untersuchung der
Klägerin angefertigtes ärztliches Zeugnis der internistischen Gemeinschaftspraxis Dres. D. und Koll. mit Datum vom
08.07.2003 sowie einen Arztbrief des Frauenarztes S. vom 15.06.2003 ein.
Mit Bescheid vom 17.09.2003 versagte die Beklagte die Mindestsatzregelung bis zum 31.03.2009 für die
Tumorerkrankung der Mamma mit der Maßgabe, dass im Falle des Fälligwerdens eines Anspruchssatzes die
Mindestsatzregelung des § 3 Abs. 2 GEHV mit Ausnahme einer Berufsunfähigkeit infolge dieser Erkrankung
anzuwenden sei.
Hiergegen legte die Klägerin am 25.09.2003 Widerspruch ein. Sie trug vor, nach den ärztlichen Zeugnissen lägen für
die Versagung der Mindestsatzregelung keine Gründe vor. Danach sei eine vorzeitige Berufsunfähigkeit nicht zu
erwarten. Es liege auch eine Ungleichbehandlung vor, da sie trotz Versagung der Mindestsatzregelung Beiträge in
voller Höhe abführen müsse. Für die Dauer der Versagung müsse sie von einer Beitragsleistung freigestellt werden.
Auch fehle eine Kündigungsmöglichkeit.
Mit Widerspruchsbescheid vom 21.09.2005, der Klägerin zugestellt am 28.09., wies die Beklagte den Widerspruch
zurück. In der Begründung führte sie aus, im ärztlichen Zeugnis der internistischen Gemeinschaftspraxis Dres. D. und
Koll. werde nicht mitgeteilt, dass eine vorzeitige Berufsunfähigkeit nicht zu erwarten sei, sondern es finde sich darin
die Einschränkung "unter Vorbehalt". Es sei dabei auf den Nachsorgebefund des Herrn S. verwiesen worden, in dem
auf eine grenzwertige Erhöhung des Tumormarkers CA 12-5 verwiesen werde. Bei einer Krebserkrankung sei der
weitere Krankheitsverlauf nicht eindeutig vorauszusagen. Eine Ungleichbehandlung liege nicht vor, da die
Mindestsatzregelung nicht allgemein und nur zeitlich befristet versagt worden sei.
Hiergegen hat die Klägerin am 26.10.2005 die Klage erhoben. Sie trägt ergänzend zu ihren bisherigen Ausführungen
vor, nach den ärztlichen Zeugnissen sei eine vorzeitige Berufsunfähigkeit nicht zu erwarten. Die Erhöhung des
Tumormarkers werde von Herrn S. selbst als bedeutungslos eingestuft. Bei Zweifeln hätten die Gutachter
Zusatzuntersuchungen empfehlen können, was sie nicht getan hätten. Ärztliche Stellungnahmen könnten nur
zurückliegende Zeiträume berücksichtigen. Ein vollständiger Ausschluss möglicher zukünftiger Erkrankungen sei
auch bei Patienten ohne Vorerkrankung nicht möglich. Die Beklagte hätte auch Auskünfte bei den weiteren, sie
behandelnden Ärzten einholen können. Wegen der weiter bestehenden Beitragspflicht liege auch eine
Ungleichbehandlung vor. Die Regelungen seien auch widersprüchlich insoweit, als es zur Teilnahme an der EHV eines
Antrags bedürfe, eine Kündigung jedoch nicht vorgesehen werde.
Die Klägerin beantragt, unter Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 17.09.2003 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 21.09.2005 die Beklagte zu verpflichten, ihr die Teilnahme an der Mindestsatzregelung
nach § 3 Abs. 2 GEHV uneingeschränkt zu gestatten, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, sie von der
Beitragspflicht zur EHV bis zum 31.03.2009 zu befreien ...
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie ist der Auffassung, die Klägerin habe kein Zeugnis vorgelegt, wonach nach allgemeiner ärztlicher Erfahrung – trotz
tumoröser Vorerkrankung der Mamma – innerhalb der nächsten sechs Jahre eine Berufsunfähigkeit auf Grund dieser
Vorerkrankung ausgeschlossen sei. Die ärztlichen Unterlagen nähmen ausschließlich Bezug auf vergangene
Zeiträume. Wenn festgestellt werde, dass der Tumormarker zwar grenzwertig erhöht sei, dies dann doch als
bedeutungslos eingestuft werde, so sei dies nicht plausibel. Auch der Hilfsantrag sei unbegründet. Die Klägerin
verkenne, dass sie Ansprüche nach der EHV erwerbe. Bei einer Berufsunfähigkeit im Zusammenhang mit der
Tumorerkrankung erhalte sie EHV-Bezüge auf Grundlage des von ihr bislang tatsächlich erarbeiteten
Anspruchssatzes ohne die Mindestsatzregelung, bei einer Berufsunfähigkeit aus anderen Gründen unter Beachtung
der sog. Mindestsatzregelung. Damit werde ein abgestaffelter Berufsunfähigkeits-Schutz gewährleistet. Der
Solidaritätsgedanke werde in Fallkonstellationen, bei denen Vorerkrankungen bekannt seien, eingeschränkt, dies
jedoch nur zeitlich befristet. Das Anknüpfen an eine gesundheitliche Risikobewertung zur Erlangung von
Solidarleistungen sei ein legitimes Differenzierungskriterium.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichts- und beigezogenen Verwaltungsakte, der
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer hat in der Besetzung mit zwei ehrenamtlichen Richtern aus den Kreisen der Vertragsärzte und
Vertragspsychotherapeuten verhandelt und entschieden, weil es sich um eine Angelegenheit der Vertragsärzte und
Vertragspsychotherapeuten handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG -).
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 17.09.2003 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 21.09.2005 ist rechtmäßig und war daher nicht aufzuheben. Die Klägerin hat keinen
Anspruch auf uneingeschränkte Teilnahme an der EHV nach der Mindestsatzregelung nach § 3 Abs. 2 GEHV.
Nach den Grundsätze der Erweiterten Honorarverteilung der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen in der Fassung der
Neufassung vom 02.12.2000, veröffentlicht durch Bekanntmachung im Hessischen Ärzteblatt, Oktober 2001 (im
Folgenden: GEHV), erfolgt die Feststellung des Anspruches auf weitere Teilnahme an der Honorarverteilung (ohne
Ausübung vertragsärztlicher Tätigkeit) auf der Grundlage einer während der Zeit als Vertragsarzt erworbenen
Anwartschaft. Für jedes Quartal wird, unter Berücksichtigung pauschalierter Praxiskosten (§ 5 GEHV) das
Prozentverhältnis der anerkannten und auf persönlich erbrachten Leistungen beruhenden Honorarforderung des
einzelnen Vertragsarztes zur Durchschnittshonorarforderung aller Vertragsärzte im Bereich der KV Hessen im
gleichen Quartal festgestellt (Gesamtsumme der anerkannten Honorarforderungen aller im Bereich der KV Hessen
aktiv tätigen Vertragsärzte geteilt durch die Zahl der im gleichen Quartal tätigen Vertragsärzte). Jedem aktiv tätigen
Vertragsarzt wird vierteljährlich der aus dem Verhältnis von Honorarforderung des Vertragsarztes zur
Durchschnittshonorarforderung aller Vertragsärzte errechnete Hundertsatz in gleicher Höhe als Punktzahl auf einem
Sonderkonto gutgeschrieben. 400 Punkte stellen den Wert eines jährlichen Durchschnittshonorars eines
Vertragsarztes aus der Behandlung von Versicherten der Primärkassen und Ersatzkassen (Ärzte mit Wahlrecht:
Primärkassen)dar, 100 Punkte den Wert des Durchschnittshonorars im Quartal. Die "Normalstaffel" bestimmt den
Prozentsatz, mit dem ein inaktiver Vertragsarzt jeweils an der Honorarverteilung weiter teilnimmt, dessen Punktzahl
jährlich um 400 Punkte angewachsen ist. Maßgeblich ist die Zahl der Jahre und Quartale der ausgeübten
vertragsärztlichen Tätigkeit im Vergleich zur jeweiligen Normalstaffel (vgl. § 3 Abs. 1 GEHV).
Zum Ausgleich für einen frühen Fall des Eintritts eines Versorgungsfalles wird der bis dahin erreichte Anspruch
erhöht. So erhält ein Vertragsarzt, der vor Vollendung des 42. Lebensjahres seine vertragsärztliche Tätigkeit in
Hessen aufgenommen hat, mindestens einen Satz von 50 % des nach dieser Normalstaffel erreichbaren
Höchstanspruches (vgl. § 3 Abs. 2 Buchstabe a) GEHV).
Der Anspruch auf Anwendung der Mindestsatzregelung bedarf einer schriftlichen Zusage der zuständigen
Bezirksstelle. Eine uneingeschränkte Zusage ist dabei nur zu erteilen, wenn der Vertragsarzt mittels eines ärztlichen
Zeugnisses nachweist, dass er bei Aufnahme der vertragsärztlichen Tätigkeit berufsfähig ist. Besteht eine Krankheit
aufgrund derer nach allgemeiner ärztlicher Erfahrung der Eintritt einer Berufsunfähigkeit innerhalb von sechs Jahren
nach Aufnahme der vertragsärztlichen Tätigkeit nicht auszuschließen ist, so ist die Mindestsatzregelung bis zum
Ablauf von sechs Jahren nach Aufnahme der vertragsärztlichen Tätigkeit für eine in ursächlichem Zusammenhang mit
dem festgestellten Befund stehende Erkrankung zu versagen. Einzelheiten regelt der Vorstand (§ 3 Abs. 2 Buchst. d
GEHV).
Diese Regelungen sind auch durch den Beschluss der Abgeordnetenversammlung vom 26.06.2004 unverändert
geblieben (vgl. Grundsätze der Erweiterten Honorarverteilung der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen, Stand
26.06.2004, Gültig ab: 01.01.2004, veröffentlicht als Anlage 1 zum Landesrundschreiben/Bekanntmachung vom
16.07.2004).
Die Beklagte hat nach ihrer Satzungsgrundlage zutreffend eine uneingeschränkte Zusage der Anwendung der
Mindestsatzregelung für die Dauer von sechs Jahren ausgeschlossen. Bei der Erkrankung der Klägerin kann eine
Berufsunfähigkeit innerhalb von sechs Jahren nach Aufnahme der vertragsärztlichen Tätigkeit nicht ausgeschlossen
werden. Mit dieser Ausschlussregelung nach den GEHV ist eine Prognose nach ärztlichem Erfahrungswissen
aufzustellen. Die Formulierung "nicht auszuschließen ist" stellt dabei geringe Wahrscheinlichkeitsanforderungen an
den möglichen Eintritt einer Berufsunfähigkeit. Bei einer bekannten Vorerkrankung kann die Ausschlussregelung nur in
Fällen einer sicheren Unwahrscheinlichkeit einer Berufsunfähigkeit nicht angewandt werden. Es muss mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass aufgrund der Vorerkrankung
Berufsunfähigkeit eintritt. Bei einer derart schweren Krankheit wie sie ein Brusttumor darstellt, ist dies nicht der Fall.
In Deutschland erkranken jährlich über 55.100 Frauen an Brustkrebs, davon etwa 23.200 im Alter unter 60 Jahren.
Brustkrebs stellt die häufigste Krebserkrankung bei Frauen dar. Diese Erkrankung ist für 26,8 % aller
Krebsneuerkrankungsfälle bei Frauen und für deutlich mehr als ein Drittel (40 %) der Neuerkrankungen bei Frauen
unter 60 Jahren verantwortlich. Das mittlere Erkrankungsalter liegt bei etwas über 62 Jahren, knapp 7 Jahre unter dem
mittleren Erkrankungsalter bei Krebs gesamt. Die relative 5-Jahres-Überlebensrate für Brustkrebspatientinnen beträgt
mittlerweile, über alle Stadien betrachtet, 79 % (vgl. Krebs in Deutschland. Häufigkeiten und Trends, hrsg. von der
Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e.V., in Zusammenarbeit mit dem Robert Koch
Institut, 5. überarbeitete, aktualisierte Ausgabe, Saarbrücken 2006, Seite 53, zitiert nach www.rki.de).
Aufgrund der Schwere und weiteren Gefährlichkeit der Erkrankung wird nach einer Behandlung zu regelmäßigen
Kontrolluntersuchungen geraten. Diese Untersuchungen zielen vor allem darauf, einen örtlich begrenzten Rückfall
frühzeitig zu erkennen, ein so genanntes Lokalrezidiv, oder ein neues Karzinom in der anderen Brust. Die
Nachsorgetermine dienen auch der Überwachung bezüglich möglicher Folgen und Nebenwirkungen der
vorausgegangenen Tumorbehandlung. Zu Art und zeitlichen Abständen der empfohlenen Nachsorgeuntersuchungen
geben die Leitlinien der Deutschen Krebsgesellschaft einen Rahmen vor: In den ersten drei Jahren erfolgen die
Untersuchungen alle drei Monate, im vierten und fünften Jahr alle sechs Monate. Nach fünf Jahren ohne Rückfall sind
Kontrollen in jährlichen Abständen ausreichend (vgl. Deutsches Krebsforschungszentrum Heidelberg,
Krebsinformartionsdienst, Brustkrebs, Teilkapitel "Nachsorge - wie geht es weiter,
www.krebsinformationsdienst.de/Krebsarten/brustkrebs nachsorge).
Eine rezidivierende bzw. Verschlimmerung der Krankheit kann daher gerade nicht ausgeschlossen werden. Von daher
weist die Beklagte zutreffend darauf hin, dass die vorliegenden ärztlichen Zeugnisse im jetzigen Stadium keine
Prognose für die Zukunft geben können. Die Klage war daher im Hauptantrag abzuweisen.
Auch der hilfsweisen gestellte Antrag war abzuweisen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Befreiung von der
Beitragspflicht zur EHV bis zum 31.03.2009.
Nach den GEHV bedarf es für die Heranziehung zur EHV keines Antrags. Ähnlich einer gesetzlichen
Pflichtversicherung werden alle ärztlichen Mitglieder der Beklagten (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 GEHV) nach Maßgabe der
§ 3 Abs. 1 Buchstabe a und § 5 GEHV zur Finanzierung der EHV herangezogen. Die Möglichkeit eines Beitritts bzw.
eines Austritts sieht die Satzung nicht vor. Das Antragserfordernis nach § 1 Abs. 2 GEHV gilt lediglich für die
Teilnahme an der EHV, ähnlich einem Rentenantrag.
An der Rechtmäßigkeit der GEHV bestehen keine Zweifel (vgl. zuletzt BSG, Urt. v. 09.12.2004, Az: B 6 KA 44/03 R,
zitiert nach juris Rdnr. 110 ff.). Insbesondere obliegt es dem satzungsgeberischen Ermessen der Beklagten, inwieweit
sie eine Mindestsatzregelung oder einen Ausschluss von der Mindestsatzregelung vorsieht. Die Mindestsatzregelung
hat die Funktion von Zurechnungszeiten für Vertragsärzte, die in jungen Jahren berufsunfähig werden und von daher
nur eine geringe Anwartschaft aufbauen konnten. Bei der EHV handelt es sich aber nur um ein
Zusatzversorgungssystem, so dass eine Ungleichbehandlung aufgrund der Ausschlussklausel für die
Mindestsatzregelung nicht vorliegt. Hierdurch wird vielmehr der Versicherungsschutz bei bekannten schwerwiegenden
Vorerkrankungen für die Dauer von sechs Jahren begrenzt. Die Beklagte weist zutreffend darauf hin, dass ansonsten
uneingeschränkter Versicherungsschutz besteht und eine Anwartschaft aufgebaut wird. Von daher erfolgt die
Heranziehung zur EHV nicht ohne Gegenleistung. Eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung vermochte die
Kammer hierin nicht zu erkennen. Die Klage war daher auch im Hilfsantrag abzuweisen.
Im Ergebnis war die Klage daher insgesamt abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 VwGO. Der unterliegende Teil trägt die Kosten
des Verfahrens.