Urteil des SozG Mannheim vom 07.05.2013

aufenthalt, familienpflege, eltern, haushalt

SG Mannheim Urteil vom 7.5.2013, S 9 SO 4188/12
Sozialhilfe - Kostenerstattung zwischen Sozialhilfeträgern - Kostenerstattung bei
Unterbringung in einer anderen Familie - nicht bei freiwilligem Unterkommen bei
einem anderen Familienmitglied außerhalb des Elternhauses ohne Beteiligung
einer Behörde - sozialgerichtliches Verfahren - Gerichtskostenfreiheit
Leitsätze
Das freiwillige Unterkommen eines Jugendlichen außerhalb seines Elternhauses bei
einem anderen Familienangehörigen ohne Beteiligung einer Behörde stellt keine
Unterbringung im Sinne von § 107 SGB XII dar. Aus § 64 Abs. 3 Satz 2 SGB X i.V.m. §
197a SGG ergibt sich, dass in einem Erstattungsstreit, an dem ausschließlich
Sozialhilfeträger beteiligt sind, Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Verfahrenskosten.
Tatbestand
I.
1 Die Beteiligten streiten um die Erstattung der von der Klägerin getragenen
Sozialhilfeaufwendungen für S.M. in der Zeit vom 28.3.2007 bis zum 4.12.2010.
2 S.M. (geboren am 5.12.1995 - heute somit 17 Jahre alt) wurde am 4.5.2006 von
ihrer Mutter auf dem Polizeiposten in ... (Zuständigkeitsbezirk des Beigeladenen)
vermisst gemeldet: S.M. sei seit dem 20.4.2006 nicht mehr nach Hause
zurückgekehrt. Die polizeilichen Ermittlungen ergaben, dass sich S.M. in der Folge
„innerhalb der Sinti-Gemeinschaft“ an wechselnden Orten im Bundesgebiet
aufgehalten haben soll. Seit dem 1.1.2007 befand sich S.M. im
Zuständigkeitsbezirk der Klägerin in dem Haushalt ihres Halbbruders ... .
II.
3 Mit Bescheid vom 10.11.2010 bewilligte die Klägerin S.M. Hilfe zum
Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des Sozialgesetzbuch XII (SGB XII) für die
Zeit vom 16.8.2010 bis zum 4.12.2010.
4 Sodann meldete die Klägerin bei dem Beigeladenen mit Schreiben vom
17.11.2010 „Kostenerstattung gemäß § 107 SGB XII“ an.
5 Hierzu teilte der Beigeladene mit Schreiben vom 25.3.2011 mit, die Anmeldung des
Erstattungsanspruches sei zuständigkeitshalber an das Jobcenter ...
weitergegeben worden. Hierauf entgegnete die Klägerin am 31.3.2011, der
Zeitraum, für den Kostenerstattung begehrt werde, betreffe die Zeit vor dem 15.
Lebensjahr von S.M., so dass die Zuständigkeit des Beigeladenen gegeben sei.
6 Mit Bescheid vom 26.7.2011 gewährte die Klägerin S.M. rückwirkend Hilfe zum
Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII für die Zeit seit dem 28.3.2007.
Hintergrund war, dass ... seine Halbschwester (S.M.) seinerzeit bei einer
Antragstellung auf dem Job-Center ... mitangegeben hatte und das Job-Center
ohne hierüber sachlich zu entscheiden von einer Weiterleitung der Angelegenheit
an die Klägerin abgesehen hatte. Deshalb nahm die Klägerin zugunsten von S.M.
die Voraussetzungen eines „sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs“ an.
7 Mit Schreiben vom 26.7.2011 erinnerte die Klägerin den Beigeladenen an den
angemeldeten Erstattungsanspruch und wies ergänzend darauf hin, dass
mittlerweile auch für die Zeit ab dem 28.3.2007 rückwirkend Hilfe zum
Lebensunterhalt erbracht worden sei. Auch insoweit werde Erstattung begehrt.
8 Mit Schreiben vom 13.9.2011 wies der Beigeladene die geltend gemachte
Erstattungsforderung zurück: Denn S.M. halte sich bereits seit dem 1.1.2007 im
Zuständigkeitsbezirk der Klägerin auf. Eine Zuständigkeit des Beigeladenen wäre
nur dann gegeben, wenn S.M. innerhalb eines Monats „nach ihrem Verziehen“
Sozialhilfe erhalten hätte. Dies sei nicht der Fall. Dies konkretisierte der
Beigeladene mit Schreiben vom 11.11.2011 dahin, „bei Unterbringung eines
Kindes in einer anderen Familie“ bleibe zwar der Sozialhilfeträger zuständig, in
dessen Bezirk das Kind „seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der
Aufnahme ... oder in den zwei Monaten davor gehabt“ habe. Vorliegend müsse
aber beachtet werden, dass sich S.M. nach den Angaben der Mutter bei der Polizei
schon seit dem 20.4.2006 nicht mehr im Bezirk des Beigeladenen aufgehalten
habe. Die Polizei habe aufgrund der Vermisstenanzeige vom 4.5.2006 eine
landesweite Fahndung, die schließlich sogar auf das ganze Bundesgebiet und
auch auf den „Schengen-Raum“ ausgeweitet worden sei, veranlasst. Den
polizeilichen Unterlagen könne entnommen werden, dass S.M. „aufgrund familiärer
Auseinandersetzungen ... mit einer Sinti-Gruppierung ihren Aufenthalt ständig
wechselte, um nicht zur Mutter zurückgebracht zu werden“. Erst im Februar 2007
sei schließlich ermittelt worden, dass sich S.M. „seit wenigstens 1.1.2007 bei ihrem
Onkel und dessen Lebensgefährtin“ im Zuständigkeitsbezirk der Klägerin aufhielt.
III.
9 Daraufhin wandte sich die Klägerin mit Schreiben vom 30.11.2011 wegen der
Erstattungsforderung an den Beklagten: Vorsorglich werde ein
Erstattungsanspruch nach §§ 106, 107 SGB XII angemeldet. Denn der
Beigeladene habe die dort geltend gemachte Erstattungsforderung
zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass sich S.M. seit April 2006
nicht mehr im dortigen Zuständigkeitsbereich aufgehalten habe. Die Aussage,
dass sich S.M. sodann bei verschiedenen Verwandten innerhalb des
Bundesgebietes aufgehalten habe, habe bislang „noch nicht belegt“ werden
können. Später (18.1.2012) führte die Klägerin aus, S.M. sei „vor der Aufnahme in
den Haushalt ihres Onkels“ in ... ohne gewöhnlichen Aufenthalt gewesen. Sie habe
„mit den betreuenden Personen ständig ihren Aufenthaltsort“ gewechselt ohne
einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen. Daher bestehe eine
Erstattungspflicht des Beklagten.
10 Diesen Anspruch wies der Beklagte mit Schreiben vom 17.7.2012 zurück: Nach
den polizeilichen Ermittlungen habe sich S.M. bis zum 20.4.2006 bei ihrer Mutter im
Zuständigkeitsbezirk des Beigeladenen aufgehalten und dort ihren gewöhnlichen
Aufenthalt gehabt. Wo sich S.M. in der Folge tatsächlich aufgehalten habe, könne
den polizeilichen Ermittlungsunterlagen nicht entnommen werden. Dies sei „aber
auch nicht entscheidend, weil die 'Fremdunterbringung' im Sinne des § 107 SGB
XII [schon] am 20.4.2006“ begonnen habe „und damit der gewöhnliche Aufenthalt
zu diesem Zeitpunkt“ maßgeblich sei. Somit komme es auf den Aufenthalt von
S.M. bis zum 20.4.2006 im Zuständigkeitsbereich des Beigeladenen an.
11 In der Folge (Schreiben vom 30.8.2012) trat die Klägerin dieser Einschätzung
entgegen, denn die vorliegenden Informationen deuteten lediglich „auf kurzfristige
Unterbringungen bei verschiedenen Personen und Familien“ hin. „Eine
Unterbringung im Sinne des § 107 SGB XII“ setze „jedoch eine nicht nur
kurzfristige Unterbringung voraus“.
12 Hierauf entgegnete der Beklagte am 6.9.2012, eine kurzfristige Unterbringung
könne nur dann angenommen werden, wenn das Kind seinen gewöhnlichen
Aufenthalt bei seinen Eltern beibehalte „und eine baldige Rückkehr zu den Eltern
geplant“ sei. Dies sei vorliegend nicht der Fall gewesen. Alleine der Umstand, dass
S.M. jetzt offenkundig „in einer zweiten Pflegefamilie untergebracht“ sei, mache die
frühere „Unterbringung nicht zu einer 'kurzfristigen' Unterbringung“.
IV.
13 Am 27.12.2012 hat die Klägerin gegen die Beklagte Klage vor dem Sozialgericht
erhoben. Nach den Angaben des Beigeladenen und den polizeilichen
Ermittlungsergebnissen werde angenommen, dass S.M. „bis zur Aufnahme im
hiesigen Verwandtenhaushalt keinen gewöhnlichen Aufenthalt mehr begründet“
habe. „Nach nahezu einhelliger Meinung“ erwerbe ein Kind oder ein Jugendlicher
während des Aufenthalts in einer Pflegefamilie oder einer Familienpflegestelle
keinen „erstattungsrechtlich relevanten gewöhnlichen Aufenthalt“. Denn „aufgrund
der entsprechend für anwendbar erklärten Regelung“ der §§ 98 Abs. 2 und 106
SGB XII werde „auch die Fiktion des § 109 SGB XII automatisch mit
eingeschlossen“. Somit setze die Unterbringung im Sinne von § 107 SGB XII „eine
nicht nur kurzfristige Unterbringung eines Minderjährigen außerhalb des eigenen
Elternhauses voraus“. Nachdem S.M. den Haushalt ihrer Mutter im
Zuständigkeitsbezirk des Beigeladenen am 20.4.2006 verlassen hatte, habe erst
im Februar 2007 mit Sicherheit festgestellt werden können, dass sie sich nun bei
ihren Verwandten im hiesigen Zuständigkeitsbezirk aufgehalten habe. Nach dem
Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen habe S.M. ihren Aufenthalt in der
Zwischenzeit häufig gewechselt, so dass für die Zwischenzeit nicht von einer
„Unterbringung“ im Sinne von § 107 SGB XII ausgegangen werden könne.
Vielmehr habe die Unterbringung erst mit der Aufnahme in die Familie des
Halbbruders im hiesigen Zuständigkeitsbezirk begonnen, so dass der Beklagte
„mangels gewöhnlichen Aufenthalts“ im Vorfeld kostenerstattungspflichtig sei. „Ein
Zeitfaktor der Hilfegewährung im Verwandtenhaushalt“ sei in der Vorschrift des §
107 SGB XII nicht benannt“. Daher sei es „unerheblich, dass erst einige Zeit nach
der Aufnahme“ durch die Klägerin Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt worden sei.
Entgegen dem Vorbringen des Beigeladenen sei es für die Anwendung von § 107
SGB XII nicht erforderlich, „dass von Beginn der Aufnahme an in den Haushalt der
'anderen Familie' Leistungen nach dem SGB XII gewährt“ würden. Dies ergebe
sich aus dem „Verweis auf § 98 Abs. 2 SGB XII“. Im Übrigen stehe § 107 SGB XII
„nicht zwingend mit den Vorschriften der Eingliederungshilfe“ in Verbindung. Dies
umso mehr, als es sich bei S.M. nicht um ein behindertes Kind handele. Zu dem
Argument des Beigeladenen, die Forderung sei (teilweise) verjährt, müsse
beachtet werden, dass die Klägerin seinerzeit in einem Eilverfahren des
Sozialgerichts ... erst mit Beschluss vom 30.9.2010 (S 9 SO 3401/10 ER)
beigeladen worden sei und von der Angelegenheit Kenntnis erhalten habe.
Sodann habe sie erst im Juni bzw. Juli 2011 über die Hilfegewährung rückwirkend
ab März 2007 entschieden. Erst zu diesem Zeitpunkt seien entsprechende Kosten
entstanden.
14 Somit beantragt die Klägerin,
15 den Beklagten zu verurteilen, die für S.M. in der Zeit vom 28.3.2007 bis zum
4.12.2010 gewährte Sozialhilfe in Höhe von 12.140,33 EUR zu erstatten.
16 Hilfsweise beantragt sie,
17 den Beigeladenen zu verurteilen, die für S.M. in der Zeit vom 28.3.2007 bis zum
4.12.2010 gewährte Sozialhilfe in Höhe von 12.140,33 EUR zu erstatten.
18 Der Beklagte tritt der Klage entgegen und beantragt,
19 die Klage abzuweisen.
20 Nach Auffassung des Beklagten habe die Unterbringung von S.M. schon ab dem
Zeitpunkt begonnen, „als sie“ ab dem 20.4.2006 „mit einer Sinti-Gruppierung
zusammenlebte“. Einer „besonderen Pflegeerlaubnis oder einer Genehmigung des
Jugendamtes“ bedürfe es für die Annahme einer Unterbringung nicht.
„Entscheidend“ sei „vielmehr, ob die eigentlich den Eltern obliegende
Betreuungsverpflichtung“ wahrgenommen worden sei. Somit komme es auf „die
tatsächliche, nicht nur kurzfristige Unterbringung“ an. Zudem spiele es keine Rolle,
„aus welchem Grund die Unterbringung“ erfolge und „wer die Kosten trage und wie
lange die Unterbringung dauere“. Auch an „die Qualität der Unterbringung“ dürften
„keine zu hohen Anforderungen“ gestellt werden. „Unter Würdigung dieser
Aspekte“ und unter Berücksichtigung, dass die Unterbringung von S.M. „nicht nur
kurzfristig (ca. acht Monate) und freiwillig“ erfolgt sei, könne angenommen werden,
„dass relevanter Zeitpunkt für die Beurteilung eines gewöhnlichen Aufenthalts der
20.4.2006“ sei „und somit“ der Beigeladene „kostenerstattungspflichtig“ sei.
Abschließend werde auf den Gerichtsbescheid vom 10.10.2002 des VG Potsdam
(7 K 4354/96) hingewiesen.
21 Der Beigeladene tritt der Klage entgegen und beantragt,
22 die Klage abzuweisen.
23 „§ 107 SGB XII, der die entsprechende Anwendung von §§ 98 Abs. 2 und 106
SGB XII bei Unterbringung eines Minderjährigen in einer anderen Familie oder bei
einer anderen Person als bei den Eltern oder einem Elternteil“ anordne, sei „hier
schon dem Grunde nach nicht anwendbar“. „Die Gleichstellung einer
Unterbringung mit stationären Leistungen“ könne „bei der Familienpflege bezüglich
Kindern und Jugendlichen nur dann zum Tragen kommen, wenn eine
Familienpflege als Leistung des SGB XII erbracht“ werde. Wenn „die
Familienpflege dagegen unter dem Regime“ der Kinder- und Jugendhilfe nach dem
Sozialgesetzbuch VIII (SGB VIII) erfolge oder wenn „sie ohne sozial(hilfe)rechtliche
Grundlage durchgeführt“ werde, gelte „§ 107 SGB XII nicht“. Letzteres sei
vorliegend der Fall, denn S.M. habe sich nach dem Verlassen der mütterlichen
Wohnung im April 2006 zunächst „offenbar an unterschiedlichen Orten“
aufgehalten und sei „bundesweit gesucht worden“. Seit dem 1.1.2007 habe sie
sich „einwohnermelderechtlich bei ... in ...“ aufgehalten. Ihre Mutter habe zudem am
2.2.2009 schriftlich die Zustimmung „zur Ausübung der Personensorge durch ...“
erteilt. An ... sei „bis heute weder Pflegegeld nach dem SGB XII noch nach dem
SGB VIII gezahlt“ worden. Somit handele es sich „lediglich um eine rein
tatsächliche Aufnahme im Einverständnis mit der Kindesmutter (unter 'Delegation'
des Sorgerechts“ nach § 1688 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB). Selbst wenn man
entgegen diesen Ausführungen von einer „Unterbringung“ ausgehen würde, wären
„die Voraussetzungen des §§ 106 Abs. 1 Satz 1 SGB XII nicht erfüllt“: Denn S.M.
habe „weder im Zeitpunkt der Aufnahme bei ... im Januar 2007 ... noch in den zwei
Monaten vor der Aufnahme zuletzt einen gewöhnlichen Aufenthalt im
Zuständigkeitsbereich des Beigeladenen“ unterhalten. Vielmehr habe sie ihren
gewöhnlichen Aufenthalt bei ihrer Mutter „bereits im April 2006 aufgegeben und im
weiteren Verlauf bis zur Aufnahme bei ... keinen neuen gewöhnlichen Aufenthalt
begründet“. Somit sei das Vorbringen des Beklagten unzutreffend, wonach „eine
'Fremdunterbringung' ... bereits am 20.4.2006 (also am Tag des 'Verschwindens')
... begonnen“ habe. „Höchst hilfsweise“ werde geltend gemacht, dass „der geltend
gemachte Kostenerstattungsanspruch bezüglich des Zeitraums vom 28.3.2007 bis
zum 31.12.2007 im Zeitpunkt der Klagerhebung bereits nach § 111 SGB XII
verjährt“ sei. Insoweit werde „die Einrede der Verjährung erhoben“. Im Übrigen
schließe die Ausschlussfrist nach § 111 Satz 1 Sozialgesetzbuch X (SGB X) einen
Erstattungsanspruch für die Zeit vom 28.3.2007 bis zum 31.7.2010 kraft Gesetzes
aus. Denn die Klägerin habe für die Zeit ab dem 28.3.2007 die Erstattung erst mit
Schreiben vom 26.7.2011 geltend gemacht (Eingang: 1.8.2011). Das frühere
Schreiben vom 17.11.2010 habe „sich ausdrücklich nur auf einen Zeitraum ab dem
16.8.2010 bezogen“.
24 Mit Beschluss vom 8.2.2013 hat das Gericht den Beigeladenen zu diesem
Verfahren beigeladen.
25 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die dem
Gericht vorliegenden Verwaltungsakten der Beteiligten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
26 Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz –
SGG) zulässig, aber unbegründet.
27 Die Klageforderung kann – sowohl mit ihrem Hauptantrag gegenüber dem
Beklagten, als auch mit ihrem Hilfsantrag gegenüber dem Beigeladenen – nur
bestehen, wenn der Tatbestand des § 107 SGB XII erfüllt wird. Denn § 97 Abs. 1
Satz 1 SGB XII ordnet ausdrücklich an, dass für die Sozialhilfe grundsätzlich der
örtliche Träger zuständig ist, wobei für die Bestimmung des konkret örtlich
zuständigen Trägers in aller Regel an den tatsächlichen Aufenthalt der
leistungsberechtigten Person angeknüpft wird (§ 98 Abs. 1 Satz 1 SGB XII).
Hieraus ergibt sich, dass die Klägerin für die von S.M. im streitigen Zeitraum
bezogene Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII sowohl
sachlich als auch örtlich zuständig ist, denn S.M. hatte seinerzeit ihren
tatsächlichen Aufenthalt bei ihren Halbbruder in ..., also im Zuständigkeitsbezirk
der Klägerin.
28 Eine hiervon abweichende sachliche oder örtliche Zuständigkeit, die Grundlage
der geltend gemachten Erstattungsforderung sein könnte, könnte sich nur
ergeben, wenn S.M. nach § 107 SGB XII seinerzeit „in einer anderen Familie oder
bei anderen Personen als bei [ihren] Eltern oder bei einem Elternteil untergebracht“
gewesen wäre. Nur für diesen Fall einer „Unterbringung“ außerhalb des
Elternhauses kommen Erstattungsansprüche bzw. eine abweichende Bestimmung
der sachlichen oder örtlichen Zuständigkeit des zuständigen Sozialhilfeträgers in
Betracht.
29 Die Auslegung der zitierten Vorschrift ist umstritten:
30 Die wohl herrschende Meinung in Literatur und Rechtsprechung nimmt eine solche
„Unterbringung“ schon dann an, wenn sich das betreffende Kind bzw. der
betreffende Jugendliche tatsächlich „in einer anderen Familie oder bei anderen
Personen als bei seinen Eltern oder bei einem Elternteil“ aufhält und dort die
gebotene Erziehung, Betreuung und Aufsicht erfährt (vgl. – allerdings zur
inhaltsgleichen Vorgängervorschrift im Bundessozialhilfegesetz [BSHG] –
zunächst OVG Lüneburg, Urteil vom 19.5.2003 - 12 LC 291/02 und sodann
grundlegend BVerwG, Urteil vom 17.12.2003 - 5 C 14/02 und hieran anknüpfend
VG Ansbach, Urteil vom 31.5.2007 - AN 14 K 04.02821 sowie bspw. LPK-SGB V, §
107 Rdnrn. 6 ff., Schellhorn u.a., SGB XII, 18. Auflage 2010, § 107 Rdnrn. 6 ff.).
31 Im Gegensatz hierzu wird nunmehr (juris-PK, § 107 SGB XII Rdnrn. 20 f.) darauf
hingewiesen, dass diese Vorschrift nur dann „zum Tragen“ kommen könne, „wenn
die Familienpflege als Leistung des SGB XII erbracht“ werde. Hierzu enthalte „§ 54
Abs. 3 SGB XII nähere Regelungen“. Wenn „die Familienpflege dagegen unter
dem Regime des Sozialgesetzbuch VIII [SGB VIII]“ ausgeführt oder wenn sie „ohne
sozialhilferechtliche Grundlage durchgeführt“ werde, gelte „§ 107 SGB XII nicht“.
Nur unter diesen Voraussetzungen sei die durch § 107 SGB XII bewirkte
zuständigkeits- bzw. erstattungsrechtliche „Gleichstellung mit stationären
Leistungen“ gerechtfertigt (vgl. hierzu juris-PK, § 107 Rdnr. 26).
32 Diese Argumentation macht sich das Gericht zu Eigen. Denn die Rechtsfolgen des
§ 107 SGB XII sind – im Rahmen der teleologischen Auslegung – ersichtlich von
der gesetzgeberischen Zielsetzung getragen, die Einrichtungsorte zu schützen
(vgl. bspw. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.2.2011 - L 20 SO 110/09).
Diesen Gesichtspunkt betonen im Übrigen auch die Anhänger der oben
wiedergegebenen herrschenden Meinung. Mit anderen Worten: Ähnlich wie
beispielsweise bei Frauenhäusern, Übergangswohnheimen oder Einrichtungen
der Sucht- und Drogenhilfe sollen diejenigen Sozialhilfeträger, in deren Bezirk sich
die genannten Einrichtungen befinden vor den finanziellen Folgen, die sich aus der
„Sogwirkung“ solcher Einrichtungen über den jeweiligen Sozialhilfebezirk hinaus
ergeben, geschützt werden. Darüber hinaus soll vermieden werden, dass
Sozialhilfeträger zur Vermeidung solcher „externen“ Kosten davon absehen,
solche Einrichtungen vorzuhalten bzw. mit diesem zusammenzuarbeiten. Dies wird
dadurch gewährleistet, dass die örtliche bzw. sachliche Zuständigkeit bzw.
wenigstens die Kostenlast für den Sozialhilfebezug der dort „untergebrachten“
Personen entweder auf den für den Herkunftsort zuständigen Sozialhilfeträger oder
aber auf den überörtlichen Sozialhilfeträger verlagert werden. Bei diesem
Verständnis ist es naheliegend, § 107 SGB XII nur dann anzuwenden, wenn
tatsächlich eine Einrichtung vorhanden ist, die eine solche „Sogwirkung“ entfalten
kann. Nur dann gebietet es nämlich der dargestellte Schutzzweck in Abweichung
von den allgemeinen Regelungen als Ausnahmetatbestand eine abweichende
sachliche oder örtliche Zuständigkeit anzuordnen bzw. eine Kostenverlagerung zu
bewirken. Somit muss § 107 SGB XII als Ausnahmevorschrift nach allgemeinen
methodischen Grundsätzen eng ausgelegt werden. Zudem deutet auch der
Wortlaut („untergebracht ist“) darauf hin, dass der Tatbestand nicht schon bei
einem entsprechenden tatsächlichen Aufenthalt des Kindes mit dort erfolgender
Erziehung, Betreuung und Versorgung erfüllt ist. Denn eine „Unterbringung“ meint
im allgemeinen Sprachgebrauch stets die Einbindung der „untergebrachten“
Person in eine organisatorisch bzw. institutionell vorgegebene „Einrichtung“.
Darüber hinaus bezieht sich der Begriff der „Unterbringung“ seinem Wortsinn nach
auch nur auf solche Einrichtungen bzw. Orte, die grundsätzlich für eine
unbestimmte Vielzahl von Personen offenstehen. Ob insoweit tatsächlich wie im
juris-PK (§ 107 Rdnrn. 21 f.) angegeben für den Anwendungsbereich von § 107
SGB XII eine Beschränkung auf die Familienpflege im Rahmen der
Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (§ 54 Abs. 3 SGB XII) anzunehmen
ist, lässt das Gericht offen. Jedenfalls scheidet es aber aus, § 107 SGB XII
anzuwenden, wenn das Kind oder der Jugendliche ohne Beteiligung eines Amtes
(zu denken ist in erster Linie naturgemäß an Maßnahmen der Kinder- und
Jugendämter sowie der Sozialämter, in Betracht kommen aber auch behördliche
bzw. gerichtliche Regelungen innerhalb des Familienrechts) innerhalb der Familie
freiwillig bei einem anderen Familienmitglied außerhalb des Elternhaushalts
unterkommt und dort (innerhalb der Familie im weiteren Sinne) betreut, versorgt
und erzogen wird. Denn dieser „Familienhaushalt“ kann nicht als schutzwürdige
„Einrichtung“ im oben dargestellten Sinne aufgefasst werden. Eine über den
Einzelfall hinausgehende „Sogwirkung“, die den für diesen Ort zuständigen
Sozialhilfeträger übermäßig belasten könnte, ist nämlich nicht ersichtlich. Zudem
kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Haushalt des Verwandten auch
ohne weiteres bereit ist, familienfremde Personen aufzunehmen, zu betreuen und
zu versorgen.
33 Letztlich muss die „Unterbringung“ (wenn man hiervon überhaupt sprechen
möchte) von S.M. im Haushalt des Halbbruders somit als private bzw.
verwandtschaftliche Hilfe begriffen werden, die ohne jede Beteiligung einer
öffentlichen Stelle erfolgt ist. In einer solchen Situation hat es aber nach
Auffassung des Gerichts aus den dargestellten Gründen dabei zu bleiben, dass für
die Hilfe zum Lebensunterhalt, die S.M. erhalten hat, an ihren tatsächlichen
Aufenthalt angeknüpft wird, ohne dass eine Verlagerung der Zuständigkeit bzw.
der Kostenlast auf einen anderen örtlichen Träger (Herkunftsortprinzip) bzw. auf
den überörtlichen Träger gerechtfertigt ist. In diesem Zusammenhang kommt der
schriftlichen Übertragung des Sorgerechts (2009) bzw. der familienrechtlichen
Übereinkunft zwischen der Mutter und dem Halbbruder von S.M. zur faktischen
Ausübung der elterlichen Sorge keine Bedeutung zu. Denn die hierdurch
begründete „Familienpflege“ ist für das dargestellte funktionale Verständnis von §
107 SGB XII ohne jede Bedeutung.
34 Somit kann die Klage keinen Erfolg haben.
35 Die Kostenentscheidung berücksichtigt, dass die Klage abzuweisen ist (§ 197a
SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO). Im Hinblick auf §
64 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch X (SGB X) werden Gerichtskosten von den
Beteiligten jedoch nicht erhoben. Denn § 197a SGG (der „unberührt“ bleibt) kommt
nach ständiger Rechtsprechung der Kammer nur dann zur Anwendung, wenn an
dem Erstattungsstreit neben Trägern der Sozialhilfe auch Leistungsträger sonstiger
Sozialleistungen beteiligt sind. Bei einem Erstattungsstreit, der ausschließlich
zwischen Sozialhilfeträgern geführt wird, verbleibt es bei § 64 Abs. 3 Satz 2 SGB X.
Anderenfalls würde diese Vorschrift nämlich „vollkommen leerlaufen“. Vor diesem
Hintergrund wird das Gericht nicht von Amts wegen einen Streitwert festsetzen.
Eine Streitwertfestsetzung nach dem Gerichtskostengesetz (GKG) wird daher nur
auf Antrag erfolgen.