Urteil des SozG Mannheim vom 07.05.2013

körperliche unversehrtheit, recht auf leben, sozialhilfe, krankenkasse

SG Mannheim Urteil vom 7.5.2013, S 9 SO 2403/12
Sozialhilfe - Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung - abweichende
Festlegung des Regelbedarfs - Individualisierungsgrundsatz - unabweisbarer
Bedarf - erhebliche Abweichung vom Durchschnittsbedarf - Aufstockungsverbot
nach § 52 Abs 1 S 1 SGB 12
Leitsätze
Das Aufstockungsverbot (§ 52 SGB XII) steht einer abweichenden Bedarfsfestsetzung
wegen gesundheitsbedingter, den Leistungsrahmen der Gesetzlichen
Krankenversicherung überschreitender Aufwendungen nicht generell entgegen.
Zumindest dann, wenn das Krankheitsbild nicht heilbar ist und die hierauf beruhenden
unabweisbaren Aufwendungen den Betrag, den die Regelleistung für
Gesundheitspflege (Abteilung 6 RBEG) enthält, erreicht, hat eine entsprechende
Erhöhung des Sozialhilfebedarfs zu erfolgen.
Tenor
1. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 30.5.2011 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 4.7.2012 zu verurteilt, die Kosten für sterile
Einmallochtücher, Teflon-Bougies, Desinfektionsmittel sowie Gleitmittel für die Zeit ab
dem 1.8.2010 auf Dauer zu übernehmen.
2. Der Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten dem Grunde nach in
voller Höhe zu erstatten.
Tatbestand
1 Die Beteiligten streiten im Rahmen der Sozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch XII
(SGB XII) um eine Kostenübernahme für „sterile Einmallochbücher, Teflon-
Bougies, Desinfektionsmittel sowie Gleitmittel“.
2 Der am ... geborene - somit heute 59jährige - Kläger, dessen Behinderungsgrad
(GdB) 80 beträgt (mit Merkzeichen „G“), bezieht schon seit längerem ergänzend zu
seiner Rente wegen Erwerbsminderung ergänzende Leistungen der Sozialhilfe
nach dem 4. Kapitel des SGB XII.
3 Wegen einer Blasenentleerungsstörung ist er auf eine ständige Selbst-Bougierung
der Harnröhre angewiesen.
4 Anlässlich seines Weiterbewilligungsantrags wies der Kläger im Juli 2010 darauf
hin, er habe sich bereits 28mal – leider ohne Erfolg – einer Operation der
Harnröhre unterziehen müssen. Zusätzlich bestehe auch ein Nierenschaden.
Dadurch habe er „sehr große Nebenkosten, die von der Krankenkasse nur teils
über Privatrezept erstattet“ würden. Er bitte daher um Überprüfung, ob ihm nicht
„mehr Geld zum Leben“ zustehe.
5 Daraufhin bewilligte der Beklagte dem Kläger mit dem Bescheid vom 21.7.2010 für
die Zeit vom 1.8.2010 bis zum 31.7.2011 eine monatliche Hilfe von 151,33 EUR
(Regelleistung). Wegen des geltend gemachten Mehrbedarfs verwies der Beklagte
in diesem Bescheid auf sein Schreiben vom 22.7.2010 (Anforderung der
notwendigen Unterlagen, unter anderem ärztliches Attest, Aufstellung über die
entsprechenden Kosten).
6 Nachdem der Kläger hierauf nicht reagiert hatte, teilte der Beklagte ihm mit
Bescheid vom 7.9.2010 mit, seinem Antrag könne wegen fehlender Mitwirkung
nicht entsprochen werden.
7 Gegen diese Entscheidung erhob der Kläger am 17.9.2010 Widerspruch: Er habe
aus gesundheitlichen Gründen der Aufforderung nicht nachkommen können, er
habe „über 40 Operationen hinter sich“ und es falle ihm schwer, wegen seiner
vielen Erkrankungen immer wieder neue Fragebogen auszufüllen und weitere
Unterlagen beizubringen. Ergänzend trug der Kläger vor, er müsse seine
Harnröhre (bzw. „was davon noch vorhanden“ sei) schon seit mehr als zehn
Jahren „alle zwei bis drei Tage“ bougieren, sonst würde er sich durch „den Harn
vergiften“. „Kein Urologe“ sei bereit, diese Bougierung für das niedrige Honorar,
das er dafür erhalte, so häufig durchzuführen. Deshalb müsse er dies selber tun.
Zur Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Hygiene benötige er daher die
entsprechenden Desinfektionsmittel und Hilfsmittel (Einmallochtücher und Teflon-
Bougies).
8 Mit seinem Bescheid vom 30.5.2011 teilte der Beklagte dem Kläger mit, der
Bescheid vom 7.9.2010 werde nach Nachholung der Mitwirkungspflicht
aufgehoben. Jedoch könne dem Antrag in der Sache nicht entsprochen werden,
denn für die geltend gemachten Aufwendungen bestehe eine vorrangige
Einstandspflicht der Krankenkasse (...). Wegen „fehlender plausibler Nachweise
über ... selbst zu tragende, unabweisbare Krankheitskosten“ habe „keine
erhebliche Abweichungen vom Regelsatz“ festgestellt werden können.
9 Am 6.7.2011 teilte der Kläger telefonisch mit, er habe den zuletzt genannten
Bescheid am 3.6.2011 erhalten. Er wisse, dass die Widerspruchsfrist einen Monat
betrage, aber er sei erkrankt und habe daher die Frist nicht einhalten können.
Sodann erhob der Kläger mit Schreiben vom 5.7.2011 (Eingang: 11.7.2011) gegen
diesen Bescheid förmlich Widerspruch; zugleich bat er aus den telefonisch
mitgeteilten Gründen um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
10 Mit Bescheid vom 26.7.2011 bewilligte der Beklagte dem Kläger auch für den
Folgezeitraum (1.8.2011 bis 31.7.2012 eine monatliche Hilfe nach dem 4. Kapitel
des SGB XII in Höhe von monatlich 151,93 EUR.
11 Zur Begründung seines Widerspruchs vom 5.7.2011 führte der Kläger später aus,
er habe in der Vergangenheit die notwendigen Ausgaben von der ... ohne
Probleme gegen Rezept in voller Höhe erstattet bekommen. Mittlerweile akzeptiere
die ... dies aber nicht mehr. Seine Erkrankung sei sehr selten, nur einer unter 1
Million Männern leide darunter. Er müsse sich mittlerweile drei- bis viermal
bougieren. Hierfür benötige er sterile Einmallochtücher, Teflon-Bougies und
Desinfektionsmittel und Gleitmittel sowie Handschuhe. Diesen Aufwand könne er
nicht tragen. Dies sei ihm auch von seinen behandelnden Ärzten bestätigt worden.
12 Der Widerspruch ist jedoch erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom
4.7.2012, Zustellung am 5.7.2012): Der Widerspruch sei zulässig, jedoch nicht
begründet. Gegenstand des Widerspruchsverfahrens sei (nur) der Bescheid vom
30.5.2011. Bei der Entscheidung müsse beachtet werden, dass der Kläger bei der
... gesetzlich krankenversichert sei und wegen seiner Schwerbehinderung mit
Merkzeichen „G“ einen zusätzlichen Mehrbedarf von 17 % (derzeit 63,58 EUR)
erhalte. § 52 Abs. 1 SGB XII sehe ausdrücklich vor, dass die sozialhilferechtliche
Krankenhilfe in ihrem Umfang den Leistungen der gesetzlichen
Krankenversicherung entsprechen müsse. Hieraus ergebe sich, dass ein
medizinischer Bedarf, „der durch Leistungen der gesetzlichen
Krankenversicherung nicht gedeckt“ werde, „auch nicht durch aufstockende Hilfen
nach dem SGB XII erbracht werden“ könne. Vor diesem Hintergrund müsse der
Widerspruch abgewiesen werden.
13 Am 24.7.2012 hat der Kläger wegen „Übernahme von nicht erstattungsfähigen
Krankenkosten“ Klage zum Sozialgericht erhoben: Bei ihm bestehe eine „extreme
Enge der distalen Harnröhre“, die auch durch vielfache Operationen nicht habe
behoben werden können. Er sei daher auf eine ständige und regelmäßige „Selbst-
Bougierung“ angewiesen. Hierfür benötige er „zur Vermeidung von
Harnwegsinfektionen“ und zur Gewährleistung des „hygienische Standards“
dringend sterile Einmallochtücher, Teflon-Bougies, Desinfektionsmittel (Octenisept)
und Gleitmittel (Instillagel). Seiner Auffassung nach müsse dieser Aufwand im
Rahmen der Sozialhilfe nach § 47 Satz 2 SGB XII übernommen werden. Auf Bitten
des Gerichts beziffert der Kläger seinen privaten Aufwand (unvollständig?) zum
Schluss wie folgt:
14
- Schreiben der ... vom 3.3.2011, Eigenanteil:
50,36 EUR
- Schreiben der ... vom 12.10.2012, Eigenanteil: 43,97 EUR
- Schreiben der ... vom 30.1.2013, Eigenanteil:
48,07 EUR
15 Somit beantragt der Kläger,
16 die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 30.5.2011 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 4.7.2012 zu verurteilten, die Kosten für sterile
Einmallochtücher, Teflon-Bougies, Desinfektionsmittel sowie Gleitmittel zu
übernehmen und ihm die außergerichtlichen Kosten des Klageverfahrens zu
erstatten.
17 Der Beklagte tritt der Klage entgegen und beantragt,
18 die Klage abzuweisen.
19 Die Klagebegründung enthalte keine neuen Gesichtspunkte, die „die Übernahme
der Hygieneprodukte im Rahmen der Grundsicherung“ begründen würden.
20 Mit Schreiben vom 18.2.2013 berichtet der behandelnde Facharzt für Urologie, Dr.
... als sachverständiger Zeuge über die Behandlung des Klägers seit 1997: Der
Kläger leide nach vielfachen Operationen an einer erheblichen Stenose der
Harnröhre und sei mit einem suprapubischen Katheter versorgt (Wechsel etwa alle
6 Wochen). Seit 2003 führe er die erforderlichen Bougierungen selbst durch. Dies
sei erforderlich, um wenigstens den derzeitigen Zustand zu erhalten. Als letzte
Alternative verbliebe sonst nur noch eine perineale Ausleitung der Harnröhre. Die
Bougierung müsse, auch wenn sie vom „medizinischen Laien“ durchgeführt werde,
möglichst „keimarm“ erfolgen. Hierfür würden Lochtücher sowie Kompressen, die
beispielsweise in Braunol-Lösung getränkt worden seien, benötigt. Darüber hinaus
sei für das Einführen der Bougies in ansteigender Größe „Instillagel“ (Gleitmittel,
Lokalanästhetikum) unerläßlich. Nicht zuletzt benötige der Kläger auch
Verbandsmaterial, um die Hautwunde nach dem Wechseln des Katheters zu
versorgen. Außerdem sei – bei schmerzhafter Bougierung trotz Instillagel –
regelmäßig zusätzlich noch ein Schmerzmittel (Tramal Tropfen) von Nöten. Dies
gelte auch für Handschuhe.
21 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die dem
Gericht vorliegende Verwaltungsakten des Beklagten (zwei Bände) und auf die
Prozessakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
22 Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1
i.V.m. Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz - SGG) zulässig. Da der Beklagte den
Widerspruch vom 5.7.2011 als zulässig angesehen hat, ist eine
Auseinandersetzung damit, ob die Widerspruchsfrist eingehalten worden ist bzw.
ob Wiedereinsetzungsgründe gegeben waren, im Rahmen dieses
Klageverfahrens obsolet (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage
2012, § 84 Rdnr. 7).
23 Die Klage ist begründet. Denn der Kläger kann aufgrund seiner besonderen
Krankheitssituation beanspruchen, dass sein sozialhilferechtlicher Bedarf
abweichend von der gesetzlich vorge-gebenen Pauschale bemessen wird.
24 Im einzelnen:
25 Grundsätzlich umfassend die hier streitgegenständlichen Leistungen nach dem 4.
Kapitel des SGB XII je nach der maßgeblichen Regelbedarfsstufe feste
Regelbedarfspauschalen (§ 42 Nr. 1 i.V.m. § 28 SGB XII bzw. i.V.m. der
maßgeblichen Anlage zum SGB XII). Hierdurch wird dem Umstand Rechnung
getragen, dass seit dem Inkrafttreten des SGB XII zum 1.1.2005 nur noch eine
pauschalierte Bemessung des Regelbedarfs erfolgt. Innerhalb dieser Pauschale
sind die hilfebedürftigen Personen in der konkreten Verwendung der ihnen
gewährten Sozialhilfe frei. Auf der anderen Seite scheiden jedoch entgegen dem
früheren Rechtszustand unter dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) seither Hilfen
des Sozialamtes für einzelne Bedarfspositionen grundsätzlich aus. Mit anderen
Worten: Mit der Gewährung der Regelsatzpauschale wird der gesamte
Sozialhilfebedarf der hilfebedürftigen Person durch eine monatliche Einmalzahlung
abgegolten.
26 Hiervon abweichend sieht § 27a Abs. 4 Satz 1 SGB XII (inhaltsgleich
Vorgängervorschrift bis zum 31.12.2010: § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII) vor, dass
eine abweichende Bedarfsbemessung zu erfolgen hat, wenn der konkrete Bedarf
der hilfebedürftigen Person „unabweisbar seiner Höhe nach erheblich von einem
durchschnittlichen Bedarf“ abweicht. Hiermit trägt der Gesetzgeber dem
Spannungsverhältnis zwischen dem System der Regelsatzpauschale auf der
einen Seite und dem gesetzlichen Auftrag, dass sich die Sozialhilfe „nach den
Besonderheiten des Einzelfalls, insbesondere nach der Art des Bedarfs“ zu richten
hat (sogenannter „Individualisierungsgrund-satz“ nach § 9 Abs. 1 SGB XII),
Rechnung. Denn das das Regelsatzsystem tragende Interesse der öffentlichen
Hand an Verwaltungspraktikabilität findet im Rahmen einer zulässigen
gesetzlichen Typisierung (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 1.10.2012 - 1 BvR
3046/11 im Anschluss an seinen Beschluss vom 22.3.200 - 1 BvR 1136/96) seine
Grenze dort, wo die pauschalierte Hilfe aufgrund der besonderen, unabweisbaren
Umstände des Einzelfalls zur Gewährleistung des Sozialstaatsprinzips, des
menschenwürdigen Existenzminimums und des Grundrechts auf Leben und
körperliche Unversehrtheit unzureichend ist.
27 Vor diesem Hintergrund erfüllt der Kläger nach Auffassung des Gerichts die
Voraussetzungen für eine abweichende Bedarfsfestlegung:
28 Zunächst ist der Bedarf des Klägers an sterilen Einmallochtüchern, Teflon-
Bougies, Desinfektions- sowie Gleitmitteln „unabweisbar“. Denn der Kläger leidet
an einer gravierenden Erkrankung seiner Harnblase bzw. der Harnröhre und ist
deshalb zur Durchführung der notwendigen „Selbstbougierung“ auf diese
Gegenstände angewiesen. Dies wird im Grunde genommen von dem Beklagten
auch nicht bestritten. Zudem wird es im Rahmen der fachärztlichen
Zeugenauskunft von Dr. ... (18.2.2013) bestätigt.
29 Das Gericht ist weiter überzeugt, dass hierdurch eine „erhebliche“
Bedarfsabweichung bedingt wird. Denn aus § 5 Abs. 1
Regelbedarfsermittlungsgesetz (RBEG) ergibt sich, dass die für den Kläger
vorgesehene Regelsatzpauschale für den Bereich der Gesundheitspflege
(Abteilung 6) lediglich einen monatlichen Betrag von 15,55 EUR beinhaltet. Die
aktenkundigen Unterlagen belegen jedoch, dass der Kläger bislang alleine für
Gleit- und Desinfektionsmittel seit August 2010 folgende Aufwendungen
(Eigenanteil nach Kulanzleistung der Krankenkasse) nachgewiesen hat:
30
- Oktober 2010 7,59 EUR
- Januar 2011
45,34 EUR
- April 2011
45,41 EUR
- Juli 2011
46,22 EUR
- Oktober 2012 43,97 EUR
- Januar 2013
48,07 EUR
- April 2013
48,27 EUR
31 Somit steht fest, dass der Kläger – abgesehen von der noch zu klärenden Lücke
zwischen Juli 2011 und Oktober 2012 – pro Quartal gut 45,00 EUR für die zur
„Selbstbougierung“ der Harnröhre unerlässlichen „Hilfsmittel“ aufwenden muss.
Hiermit zehrt er somit den gesamten Anteil, den die Regelsatzpauschale für den
Bereich der Gesundheitspflege vorsieht, auf. Dies hat zur Konsequenz, dass dem
Kläger innerhalb der Regelsatzpauschale keinerlei Beträge für sonstige Einkäufe,
die dem Bereich der Gesundheitspflege zuzuordnen sind, mehr zur Verfügung
stehen. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise an den Erwerb von
freiverkäuflichen Arzneimitteln in der Apotheke (wie beispielsweise
Erkältungsmittel, Kopfschmerztabletten) oder an Zuzahlungen zu
verschreibungspflichtigen Medikamenten oder (bis zum 31.12.2012) an die
„Praxisgebühr“ zu denken (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16.12.2010 - B 8 SO 7/09 R
und Beschlüsse vom 27.1.2011 - B 8 SO 60/10 B und vom 21.1.2011 - B 8 SO
57/10B). Hierfür hätte der Kläger dann kein Geld mehr! Insoweit weicht die
konkrete Lebenssituation des Klägers in deutlicher Weise von dem Regelfall, der
der der Regelsatzpauschale innewohnenden Typisierung zugrunde liegt, ab.
Wenn weiter berücksichtigt wird, dass es sich nicht nur um eine zeitlich befristete
Abweichung handelt sondern dass (leider) damit gerechnet werden muss, dass
das Krankheitsbild des Klägers sein Leben lang anhalten wird, liegt es für das
Gericht auf der Hand, dass dies eine sozialhilferechtlich erhebliche
Bedarfsabweichung auslöst.
32 Vor diesem Hintergrund sieht das Gericht die tatbestandlichen Voraussetzungen
aus § 27a Abs. 4 Satz 1 SGB XII als erfüllt an. Dies hat zur Konsequenz, dass der
Beklagte verpflichtet ist, zusätzlich zu der Regelsatzpauschale die
entsprechenden Aufwendungen des Klägers zu übernehmen.
33 In diesem Zusammenhang ist der Einwand des Beklagten, der Kläger habe auf die
geltend gemachten Gegenstände bzw. Aufwendungen einen Anspruch im
Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem Sozialgesetzbuch V
(SGB V) nicht überzeugend. Denn nach § 34 SGB V besteht ein entsprechender
krankenversicherungsrechtlicher Anspruch gerade nicht. Wenn der Kläger im
Rahmen der mündlichen Verhandlung beiläufig erwähnt hat, eigentlich könne er
zur Durchführung der „Bougierung“ auch seinen Urologen aufsuchen, so dass
dieser diese Prozedur im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung als
Dienstleistung durchführen müsse, ist die sozialhilferechtlich irrelevant. Zwar ist die
Sozialhilfe gegenüber den anderen Leistungssystemen des Sozialgesetzbuch
(SGB) nachrangig (§ 2 SGB XII). Jedoch stellt das Krankenversicherungsrecht die
Leistungsansprüche gegenüber der Krankenkasse ausdrücklich unter ein
Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 Abs. 1 SGB V), so dass nicht notwendige
Leistungen von vorneherein auf dem Leistungskatalog ausgeschlossen sind. Vor
diesem Hintergrund ist das Gericht überzeugt, dass der Kläger entgegen seiner
Einschätzung gerade keinen Anspruch gegenüber seiner Krankenkasse auf
regelmäßige Durchführung der „Bougierung“ durch einen Kassenarzt hat. Denn
offenkundig hat der Kläger bei seinem schon lange bestehenden Krankheitsbild
über die Jahre die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten erworben, diese
Prozedur selbst durchzuführen. Hiermit trägt er dem in § 1 SGB V niedergelegten
Grundsatz, dass die Versicherten für ihre Gesundheit mitverantwortlich sind und
deshalb gehalten sind, bei der Krankenbehandlung „aktiv“ mitzuwirken, Rechnung.
Deshalb muss es letztlich als „großzügige Kulanzentscheidung im Einzelfall“
gewertet werden, dass sich die Krankenkasse des Klägers (über das gesetzliche
Erlaubte hinaus) an den entsprechenden Aufwendungen des Klägers teilweise
beteiligt. Solange die Krankenkasse an dieser Praxis festhält, können die
entsprechenden Beträge im Rahmen des Nachranggrundsatzes bei der
abweichende Bedarfsbemessung mindernd berücksichtigt werden. Die
Kulanzleistungen der Krankenkasse sind jedoch nicht geeignet, die
sozialhilferechtliche Einstandspflicht des Beklagten gänzlich auszuschließen.
34 Hieran ändert sich auch nichts dadurch, dass § 52 Abs. 1 SGB XII ausdrücklich
und unmissverständlich anordnet, dass die sozialhilferechtliche Krankenhilfe den
Leistungsrahmen der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem SGB V nicht
übersteigen darf. Die hierin liegende Abkehr vom für das Sozialhilferecht
wesentlichen „Bedarfsdeckungsgrundsatz“ bzw. „Individualisierungsgrundsatz“
(vgl. Schellhorn u.a., SGB XII, 18. Auflage 2010, Einführung Rdnr. 20) wird damit
gerechtfertigt, dass Sozialhilfebezieher im Rahmen der Gesundheitsfürsorge nicht
besser gestellt werden sollen als gesetzlich Versicherte. Diese Argumentation mag
dem Wortlaut und dem systematischen Aufbau des SGB XII entsprechen. Sie
verkennt in Bezug auf den vorliegenden Kontext jedoch, dass die durch § 52 Abs.
1 Satz 1 SGB XII bewirkte Abkehr vom Bedarfsdeckungsgrundsatz dem
Grundverständnis der Sozialhilfe fremd ist. Denn als Fürsorgesystem zielt die
Sozialhilfe darauf ab, der Menschenwürde entsprechend das lebensnotwendige
Existenzminimum zu sichern. Nach dem Selbstverständnis der Bundesrepublik als
Sozialstaat (Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz - GG) ist es
daher bedenklich, schematisch eine erhöhte, unabweisbare krankheitsbedingte
Bedarfslage nur wegen einer (vermeintlichen) Gleichbehandlung mit
krankenversicherten Bürgern aus dem Leistungsspektrum der Sozialhilfe
auszuschließen, dies umso mehr, wenn sich die betreffende Bedarfslage auf
einem grundrechtlich geschützten Kernbereich beruht. Dies ist vorliegend
offenkundig der Fall, denn Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG räumt jedem gegenüber der
öffentlichen Gewalt ein uneingeschränktes Recht auf Leben und körperliche
Unversehrtheit ein. In diesem Zusammenhang kann der Gesetzgeber im Rahmen
einer zulässigen Typisierung davon ausgehen, dass (auch) ein minderbemittelter
bzw. ein minderverdienender Bürger in der Lage ist, sich die notwendigen
gesundheitlichen Leistungen, die von der Krankenkasse nicht finanziert werden,
aus seinem Einkommen bzw. Vermögen selbst zu verschaffen. Eine solche
Annahme verbietet sich jedoch bei Personen, die zur Bestreitung ihres gesamten
Lebensunterhalts auf eine staatliche Fürsorgeleistung angewiesen sind. Hier sind
im Rahmen einer abweichenden Bedarfsbemessung nach § 27a Abs. 4 Satz 1
SGB XII die unabweisbaren und erheblichen „Gesundheitsaufwendungen“ trotz
des in § 52 Abs. 1 SGB XII niedergelegten Aufstockungsverbots zu
berücksichtigen. Alles andere würde den Anspruch der Bundesrepublik, die
Menschenwürde nicht anzutasten, sie zu achten und zu schützen (vgl. Art. 1 Abs.
1 GG) und für einen ausreichenden Gesundheitsschutz der Bürger Sorge zu
tragen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) verfehlen. Wenn zudem in Rechnung gestellt wird,
dass der Gesetzgeber selbst nicht konsequent handelt, indem er trotz des
dargestellten gesetzlichen Aufstockungsverbots (§ 52 Abs. 1 Satz SGB XII) in § 31
Abs. 1 Nr. 3 SGB XII seit dem 1.1.2011 für die Anschaffung und Reparatur von
orthopädischen Schuhen bzw. von therapeutischen Geräten und Ausrüstungen
einmalige Hilfen vorsieht, ist es nach Auffassung des Gerichts im Rahmen einer an
teleologischen Grundsätzen orientierten Auslegung zur Gewährleistung der oben
wiedergegebenen verfassungsrechtlichen Vorgaben geboten, bei der
abweichenden Bedarfsbemessung nach § 27a Abs. 4 Satz 1 SGB XII
krankenversicherungs-rechtlich nicht gedeckte Gesundheitsaufwendungen nicht
aus „dogmatischen“ Gründen von vornherein auszuklammern (vgl. zu § 52 Abs. 1
SGB XII Urteil der Kammer vom 19.3.2013 - S 9 SO 568/12, Berufung beim LSG
Baden-Württemberg anhängig unter dem Az. L 2 SO 1625/13).
35 Nach § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG macht das Gericht dem Antrag entsprechend von
der Möglichkeit Gebrauch, lediglich über den Anspruchsgrund zu entscheiden.
Insoweit ist der Beklagte – nach Rechtskraft dieses Urteils – gehalten, die vom
Kläger nachgewiesenen Aufwendungen für die im Urteilstenor erwähnten
Gegenstände bzw. Hilfsmittel unter Berücksichtigung etwaiger Kulanzleistungen
der Krankenkasse im Rahmen einer abweichenden Bedarfsbemessung zu
berücksichtigen und zu tragen.
36 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Klage
erfolgreich ist.