Urteil des SozG Mannheim vom 25.10.2016

schutz der menschenwürde, europäische menschenrechtskonvention, verfassungskonforme auslegung, leistungskürzung

SG Mannheim Urteil vom 25.10.2016, S 9 AY 555/16
Voraussetzungen einer Leistungsabsenkung bei einem vollziehbar ausreisepflichtigen
Asylbewerber
Tenor
1. Das beklagte Land wird unter Aufhebung des Bescheides vom 19.01.2016 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 12.08.2016 verurteilt, dem Kläger für die Zeit von Februar bis April 2016
ungeminderte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu gewähren.
2. Die Berufung wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Angelegenheit zugelassen.
3. Das beklagte Land erstattet dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten dem Grunde nach.
Tatbestand
I.
1 Die Beteiligten streiten um eine Leistungsabsenkung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz - AsylbLG
(angefochtener Absenkungszeitraum zuletzt nur noch Februar bis April 2016).
II.
2 Der am geborene – somit heute 52jährige – Kläger stammt aus Kamerun und ist 1991 ins Bundesgebiet
eingereist. Nach Beendigung seines Studiums und Ablehnung der Anträge auf Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis beantragte der Kläger im Sommer 2010 Asyl. Im Februar 2011 wurde dieser Antrag als
offensichtlich unbegründet abgewiesen. Deshalb bezog der Kläger schon in der Vergangenheit Leistungen
nach dem AsylbLG. Zuletzt erhielt er bis zum 22.9.2015 Arbeitslosengeld nach dem Sozialgesetzbuch III -
SGB III (täglicher Leistungssatz = 35,44 EUR).
3 Sein Behinderungsgrad (GdB) nach dem Sozialgesetzbuch IX beträgt 30. Dem liegen folgende
Einzelbehinderungen zugrunde:
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1. Bluthochdruck, Herzklappenfehler,
2. Seelische Störung, funktionelle Organbeschwerden, Kopfschmerzsyndrom.
5 Seit Oktober 2015 wurden dem Kläger erneut Leistungen nach dem AsylbLG in Höhe von monatlich 704,00
EUR gezahlt (für den Monat Oktober: Bescheid vom 2.10.2015, Widerspruchs- bzw. Abhilfebescheid vom
18.1.2016; für den Monat November: Bescheid vom 9.11.2015).
III.
6 Mit Anhörungsschreiben vom 17.12.2015 setzte der Beklagte den Kläger darüber in Kenntnis, dass
beabsichtigt sei, seine Leistungen in dem Zeitraum von November 2015 bis April 2016 zu kürzen, denn er
habe es selbst zu vertreten, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden könnten. Er sei
nämlich ausreisepflichtig und verfüge nur über eine Duldung. In der Vergangenheit seien geplante
Abschiebungen (30.6.2010, 27.4.2011, 14.6.2011) durch Verschulden des Klägers gescheitert. Darüber
hinaus sei der Kläger mehrfach darauf hingewiesen worden, dass er seine Passpflicht zu erfüllen habe. Dies
sei bisher nicht geschehen. Zuletzt sei der Kläger mit Schreiben vom 4.6.2013 unter Fristsetzung bis zum
5.7.2013 erfolglos aufgefordert worden, sich ein gültiges Ausreisedokument bei der Botschaft seines
Heimatlandes zu beschaffen. Vor diesem Hintergrund sei beabsichtigt, dem Kläger für die Zeit bis zum
31.12.2015 zur Deckung des notwendigen Bedarfs an Ernährung, Körper- und Gesundheitspflege einen
monatlichen Geldbetrag von 166,00 EUR (November und Dezember 2015) zu gewähren. Dieser Betrag
erhöhe sich für den Monat Januar 2016 auf 168,00 EUR. Ab dem Monat Februar 2016 solle der Kläger für die
genannten Bedarfe nur noch Gutscheine erhalten. Der Bedarf für Unterkunft und Heizung werde in dem
genannten Zeitraum weiterhin durch Sachleistungen gedeckt. Der Kläger habe Gelegenheit zur Äußerung
binnen sieben Tagen nach Erhalt dieses Schreibens.
7 Gleichwohl bewilligte das beklagte Land dem Kläger mit Bescheid vom 7.1.2016 für die Monate Dezember
2015 und Januar 2016 (Grund-) Leistungen nach dem AsylbLG wie folgt:
8
Dezember 2015 Januar 2016
Miet-bzw. Wohnkosten
410,00 EUR
410,00 EUR
Leistungen nach § 3 Abs. 1 Satz 5 AsylbLG 143,00 EUR
145,00 EUR
Abzüglich Kürzung
30,00 EUR
-
Leistungen nach § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG 216 00 EUR
219,00 EUR
Abzüglich Kürzung(en)
35,00 EUR
196,00 EUR
Gesamtbedarf
704,00 EUR
578,00 EUR
Leistungsbetrag
704,00 EUR
578,00 EUR
9 Erst mit Bescheid vom 19.1.2016 setzte das beklagte Land das Anhörungsschreiben vom 17.12.2015 um
und bewilligte dem Kläger mit Wirkung ab dem 1.11.2015 bis zum 30.4.2016 unter Anordnung der
sofortigen Vollziehung Leistungen wie folgt:
10
Ernährung, Körper- und Gesundheitspflege Unterkunft und Heizung
November und Dezember 2015 jeweils 166,00 EUR
Sachleistungen
Januar 2016
168,00 EUR
Sachleistungen
ab Februar 2016
Gutscheine
Sachleistungen
11 Zur Begründung der Leistungskürzung verwies das beklagte Land nochmals auf die gescheiterten
Abschiebeversuche und die letzte Aufforderung an, kamerunische Rückreisedokumente zu beschaffen bzw.
vorzulegen (Sommer 2013). Zusammenfassend müsse daher festgestellt werden, dass der Kläger
ausreisepflichtig sei und dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus Gründen, die er selbst zu vertreten
habe, nicht durchgesetzt werden könnten. Deshalb komme § 1a Abs. 3 AsylbLG zur Anwendung, so dass der
Kläger neben der als Sachleistung zur Verfügung gestellten Unterkunft nur noch folgende Leistungen
erhalten könne:
12
2015
2016
Abteilung 1: Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke 141,85 EUR 143,82 EUR
Abteilung 6: Gesundheitspflege
7,19 EUR
7,29 EUR
Abteilung 12 (anteilig): Körperpflege
16,73 EUR
17,13 EUR
Summe
165,77 EUR 168,25 EUR
Gerundete Leistungen pro Monat
166,00 EUR 168,00 EUR
IV.
13 Gegen diese Entscheidung erhob der Kläger am 1.2.2016 Widerspruch. Die verfügte Leistungskürzung sei
eine Willkürmaßnahme und verstoße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und seine
Menschenwürde.
14 Am 27.6.2016 erteilte das beklagte Land einen abweisenden (ersten) Widerspruchsbescheid und führte aus,
der Kläger könne Leistungen im Zeitraum von November 2015 bis April 2016 wie folgt beanspruchen:
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November und
Dezember 2015
Januar 2016
Ab Februar 2016
Ernährung, Körper- und
Gesundheitspflege
Geldbetrag von
jeweils 163,57
Geldbetrag von jeweils
165,85 EUR
Geldbetrag von jeweils 158,
65 EUR,
Berechtigungsschein für
Gesundheitspflege
Unterkunft und Heizung
Sachleistung
Sachleistung
Sachleistung
16 Hieraus ergebe sich für die Zeit von November 2015 bis April 2016 eine zu erstattende Überzahlung von
263,16 EUR.
17 Diesen Widerspruchsbescheid hob das beklagte Land nach einem rechtlichen Hinweis des Sozialgerichts
Mannheim am 12.8.2016 auf und erteilte zugleich einen neuen Widerspruchsbescheid. Der Kläger könne
Grundleistungen nach § 3 AsylbLG in folgender Höhe beanspruchen:
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November und Dezember 2015 jeweils 294,00 EUR
Januar 2016
299,00 EUR
19 Der weitergehende Widerspruch werde zurückgewiesen, so dass der Kläger für die Zeit von Februar 2016
bis zur Ausreise, längstens jedoch befristet bis April 2016 zur Deckung der Bedarfe Ernährung, Körper- und
Gesundheitspflege Gutscheine im Wert von monatlich 168,00 EUR erhalte. Der Bedarf an Unterkunft und
Heizung werde durchgehend durch Sachleistungen gedeckt. Zur Begründung wies das beklagte Land erneut
darauf hin, dass der Kläger in der Vergangenheit mehrere Abschiebeversuche vereitelt und auch bei der
Beschaffung von Reisedokumenten nicht mitgewirkt habe. Daher lägen die Grundvoraussetzungen für eine
Leistungsabsenkung nach § 1a AsylbLG vor. Da dem Kläger durch einen Verwaltungsfehler trotz des
vorangegangen Anhörungsschreibens bis einschließlich Januar 2016 noch Leistungen in ungeminderter Höhe
bewilligt worden seien, setze die Leistungsminderung jedoch erst ab dem Monat Februar 2016 ein. Der noch
nicht ausgezahlte Differenzbetrag für den Monat Januar 2016 (131,00 EUR) werde nachgezahlt. Ab dem
Monat Februar 2016 würden die Leistungen jedoch abgesenkt. Dies sei auch unter Berücksichtigung der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Entscheidung vom 18.7.2012 (1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11)
möglich, denn die Leistungskürzung ergehe nicht aus „migrationspolitischen Erwägungen“ sondern
sanktioniere ein Verhalten, das zu missbilligen sei. Eine Nichtanwendung von § 1a AsylbLG würde zu einer
nicht gerechtfertigten Privilegierung gegenüber Leistungsempfängern nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II)
führen, denn im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitssuchende seien Sanktionen aus bestimmten
Gründen ebenfalls möglich. Die Umstellung der Leistungen auf Wertgutscheine verstoße nicht gegen die
Verfassung. Für den Monat Februar 2016 habe der Kläger Gutscheine im Wert von 158,71 EUR erhalten, im
Monat März und April 2016 seien dies jeweils 158,56 EUR gewesen. Für die Zeit von Februar bis April 2016
ergebe sich zu Gunsten des Klägers somit noch eine Nachzahlung von 28,17 EUR. Der Kläger sei zuvor
konkret darüber informiert worden, welche Mitwirkungshandlung von ihm erwartet werde. Zudem sei er
über die Folgen eines obliegenheitswidrigen Fehlverhaltens konkret informiert worden. Wenn sich der Kläger
schließlich noch auf seinen schlechten Gesundheitszustand berufe, sei ihm bereits im Jahr 2011 zugesichert
worden, dass die Kosten für eine Behandlung des Bluthochdrucks in Kamerun (einschließlich der
notwendigen Medikamente) für einen Zeitraum von zwei Jahren ab Rückkehr von dem beklagten Land
übernommen würden. Da der Kläger vollumfänglich reisefähig sei, spiele das Bluthochdruckleiden somit
keine Rolle.
V.
20 Schon am 1.3.2016 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht erhoben und wendet sich gegen das
Anhörungsschreiben vom 17.12.2015 sowie den Bescheid vom 19.1.2016: § 1a AsylbLG beziehe sich
offenkundig auf Ausländer ohne Bleibeperspektive; dies treffe auf ihn nicht zu, denn er habe zahlreiche
Ansprüche auf ein Bleiberecht. So habe er vor mehr als acht Monaten eine Aufenthaltserlaubnis beantragt.
Hierüber habe das Verwaltungsgericht Karlsruhe (9 K 117/16) bis zum heutigen Tage noch nicht
entschieden. Dabei müsse auch berücksichtigt werden, dass er schon seit mehr als 25 Jahren im
Bundesgebiet lebe. Zudem stünden seine chronischen Erkrankungen nach § 60 Abs. 7 AufenthG einer
Abschiebung entgegen. Denn er müsse mehrere Medikamente einnehmen und verfüge nicht über die
notwendigen Mittel, sich diese zu kaufen. Obwohl das beklagte Land seinem Begehren mit dem
Widerspruchsbescheid vom 12.8.2016 teilweise abgeholfen hat, beantragt der Kläger sinngemäß gefasst,
21 das beklagte Land unter Aufhebung des Bescheides vom 19.1.2016 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 12.8.2016 zu verurteilen, ihm für die Monate Februar bis April 2016
ungeminderte Leistungen nach dem AsylbLG zu gewähren.
22 Das beklagte Land beantragt,
23 die Klage abzuweisen
24 Es führt ergänzend aus, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge habe schon mit Bescheid vom
17.2.2011 den Asylantrag des Klägers als offensichtlich unbegründet abgelehnt und zugleich festgestellt,
dass weder die Voraussetzungen aus § 60 Abs. 1 noch Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG
gegeben seien. Ein hiergegen geführter Eilantrag sei erfolglos geblieben, das Klageverfahren sei im Juni 2011
eingestellt worden. In der Folge sei der Abschiebeversuch vom 27.4.2011 gescheitert, da sich der Kläger
geweigert habe, die Diensträume der Bundespolizei am Frankfurter Flughafen zu verlassen. Da sich der
Kläger vehement gewehrt habe, sei die Abschiebung zur Aufrechterhaltung der Sicherheit des Flugverkehrs
abgebrochen worden. Ein weiterer Abschiebeversuch (Juni 2011) sei gescheitert, da der Kläger von den
zuständigen Polizeibeamten in der Gemeinschaftsunterkunft nicht aufgefunden werden konnte. Schließlich
sei der Antrag des Klägers auf Feststellung eines Härtefalls im Juni 2012 abgelehnt worden. Nicht zuletzt
habe der Kläger auf die Aufforderung, Rückreisedokumente nach Kamerun zu beschaffen und vorzulegen
(Sommer 2013), nicht reagiert. Somit lägen die Voraussetzungen für eine Leistungskürzung nach § 1a
AsylbLG vor. Anders als im Bescheid vom 19.1.2016 angekündigt, seien dem Kläger ab dem Monat Februar
2016 für den Bedarf Gesundheitspflege nicht Wertgutscheine, sondern Berechtigungsgutscheine, die in
ausgewählten Apotheken eingelöst werden könnten, zur Verfügung gestellt worden. Außerdem habe der
Kläger Anspruch auf Krankenhilfe nach § 4 AsylbLG. Diese Leistungen seien von der Leistungskürzung nicht
betroffen.
25 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die dem Gericht vorliegende
Verwaltungsakte des beklagten Landes (drei Bände) und auf die Prozessakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I.
26 Die Klage, die sich in formeller Hinsicht auf den Bescheid vom 19.01.2016 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 12.08.2016 und in materieller Hinsicht auf die Leistungskürzung in den
Monaten Februar bis April 2016 bezieht, ist zulässig:
27 Das vom Kläger mit der Klage angeführte Anhörungsschreiben vom 17.12.2015 erfüllt nicht die Kriterien
eines Verwaltungsakts nach § 35 Satz 1 Landesverwaltungsverfahrensgesetz (LVwVfG). Es ist somit nicht
Gegenstand der Klage. Dies trifft auch auf die Bescheide für die Folgezeiträume zu, denn diese werden nicht
nach § 96 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in das laufende Klageverfahren einbezogen, so dass sich die
nach § 54 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige kombinierte Anfechtungs- und
Leistungsklage nur auf den im vorstehenden Absatz umrissenen Streitgegenstand erstreckt.
28 Das notwendige Vorverfahren (§ 78 SGG) ist durchgeführt worden (Widerspruchsbescheid vom 12.08.2016).
29 Unschädlich ist, dass der Kläger bereits am 01.03.2016 Klage erhoben hat, denn es reicht aus, wenn die
Zulässigkeits- bzw. Sachurteilsvoraussetzungen im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung erfüllt sind.
II.
30 Die Klage richtet sich gegen das Land Baden-Württemberg, denn das Landratsamt handelt bei Ausführung
des AsylbLG als untere Verwaltungs- und damit als staatliche bzw. Landesbehörde (vgl. § 1 Abs. 2 und § 2
Abs. 2 Nr. 3 Flüchtlingsaufnahmegesetz - FlüAG, § 15 Abs. 1 Nr. 1 Landesverwaltungsgesetz - LVG sowie § 1
Abs. 3 Satz 2 Landkreisordnung - LKrO).
III.
31 Das Gericht lässt ausdrücklich offen, ob der angefochtene Bescheid vom 19.01.2016 formell rechtmäßig ist.
Dies erscheint im Hinblick auf die nach § 28 Abs. 1 LVwVfG gebotene Anhörung (vgl. hierzu juris-PK, § 1a
AsylbLG Rdnr. 157) zweifelhaft, weil das beklagte Land dem Kläger nach dem Anhörungsschreiben vom
17.12.2015 mit dem Bescheid vom 07.01.2016 (versehentlich) weiterhin ungeminderte Leistungen bewilligt
hat. Hierdurch sind die Wirkungen des Anhörungsschreibens vom 17.12.2015 „verbraucht“ worden, so dass
vor Erteilung des Bescheides vom 19.01.2016 eine erneute Anhörung vonnöten gewesen wäre. Allerdings
würde sich insoweit wohl im Rahmen des nachfolgenden Widerspruchsverfahrens eine Heilung dieses
Mangels ergeben (§ 45 Abs. 1 Nr. 3 in Verbindung mit Abs. 2 LVwVfG), so dass diese Problematik an dieser
Stelle nicht weiter vertiefen ist, zumal der angefochtene Bescheid - wie die folgenden Ausführungen zeigen
werden - unabhängig hiervon an erheblichen materiellen Mängeln leidet:
IV.
32 Im Zentrum dieses Rechtsstreits steht § 1a Abs. 3 AsylbLG in der durch das
Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vom 20.10.2015 geänderten Fassung. Diese Vorschrift lautet somit ab
dem 24.10.2015 sinngemäß zitiert wie folgt:
33 Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nrn. 4 und 5 AsylbLG, bei denen aus von ihnen selbst zu
vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, haben keinen
Anspruch auf Leistungen nach den §§ 2, 3 und 6 AsylbLG, es sei denn, die Ausreise kann im Einzelfall aus
Gründen, die sie nicht zu vertreten haben, nicht durchgeführt werden. Für diesen Personenkreis endet der
Anspruch auf die angeführten Leistungen mit dem auf die Vollziehbarkeit einer Abschiebungsandrohung
oder Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung folgenden Tag.
34 Zwar rechnet der Kläger grundsätzlich zu dem betreffenden Personenkreis, denn seine
Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG leitet sich aus einer Duldung (§ 60a AufenthG) ab; zudem ist er
seit dem Abschluss seines Asylverfahrens (2011) wohl auch vollziehbar ausreisepflichtig, so dass er zu den
Leistungsberechtigten nach § 1 Abs. 1 Nrn. 4 und 5 AsylbLG gehört.
35 Darüber hinaus geht das Gericht davon aus, dass sich der Kläger in der Vergangenheit (2011) mehrfach
Versuchen der Ausländerbehörde bzw. der Bundespolizei, ihn abzuschieben, entzogen hat. Schließlich ist zu
konstatieren, dass der Kläger soweit dies nach hiesiger Aktenlage beurteilt werden kann, eine im Sommer
2013 ausgesprochene Passverfügung nicht befolgt hat. Zudem ist von der zuständigen Ausländerbehörde
offenkundig auch aktuell wieder eine Passverfügung verhängt worden, ohne dass der Kläger dieser
Aufforderung bislang Folge geleistet hätte.
36 Gleichwohl liegen die Voraussetzungen einer Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 3 AsylbLG aus
grundsätzlichen Gründen nicht vor.
37 Wie eingangs bereits kurz angesprochen ist die zitierte Vorschrift nämlich im Zuge des
Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes erst im Oktober 2015 in Kraft getreten. Mangels einer
Übergangsregelung stellt sich somit die Frage, wie „Altfälle“ zu lösen sind, wie also Menschen zu behandeln
sind, die nicht erst im Zuge der jüngsten Flüchtlingswelle nach Deutschland gekommen sind, sondern sich -
wie der Kläger - bereits seit vielen Jahren in Deutschland aufhalten, selbst wenn sie vollziehbar
ausreisepflichtig sind. Dass solche Personen nach jahrelangem Aufenthalt das Bundesgebiet kurzfristig
verlassen werden und daher einen nur reduzierten Leistungsbedarf haben, ist unrealistisch (so ausdrücklich
juris-PK, § 1a AsylbLG Rdnr. 156). Auf diesen Umstand, nämlich die (angenommene) Abweichung der
notwendigen existenzsichernden Bedarfe gegenüber anderen bedürftigen Personen, die sich längerfristig im
Bundesgebiet aufhalten, stellen die Gesetzgebungsmaterialien zum Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz
im hiesigen Zusammenhang jedoch entscheidend ab (BT-Drucksache 18/2592 Seiten 17f., zitiert aus:
Deibel/Hohm, AsylbLG aktuell, Kurzkommentierungen, Materialien, Synopse, 2016, Seite 20).
38 Eine schematische Anwendung der zitierten Norm auf den soeben beschriebenen, auch den Kläger mit
einschließenden Personenkreis würde nach Auffassung des Gerichts zu einem Verfassungsverstoß führen.
39 Somit ist eine verfassungskonforme Rechtsanwendung geboten, die den nach wie vor gültigen Ausführungen
des BVerfG in seinem Urteil vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11) Rechnung trägt:
40 Zwar hat das BVerfG in dieser Entscheidung nur die Grund- bzw. Geldleistungen nach § 3 AsylbLG (alte
Fassung) für verfassungswidrig erklärt und insoweit (zum 01.01.2011) in Orientierung an den
Leistungssätzen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) bzw. dem Regelbedarfsermittlungsgesetz (RBEG)
eine Übergangsregelung getroffen. Auch wenn die Ausführungen des BVerfG somit vorliegend keine
unmittelbare Anwendung finden können, muss jedoch beachtet werden, dass das BVerfG in der zitierten
Entscheidung deutlich ausspricht, dass auch Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG an dem von Verfassung
wegen garantierten physischen und soziokulturellen Existenzminimum teilhaben. Am Schluss der
Entscheidungsgründe bemerkt das BVerfG zwar beiläufig, aber ausdrücklich, dass „migrationspolitische
Erwägungen“ nicht geeignet sind, eine Unterschreitung dieses Existenzminimums zu rechtfertigen. Der
Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz - GG) und das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1
und Art. 28 Abs. 1 GG) können somit zur Abschreckung von Zuwanderern nichtrelativiert werden.
41 Daher ist auch bei Anwendung von § 1a Abs. 3 AsylbLG nach Auffassung des Sozialgerichts eine
verfassungskonforme Auslegung geboten, die den Eintritt der dort angeordneten strengen Rechtsfolge
(Bedarfsdeckung nur noch für die Bedarfe Ernährung, Unterkunft, Heizung, Körper- und Gesundheitspflege,
vollständige Streichung der Bedarfe für Bekleidung und Schuhe, Wohnungsinstandhaltung,
Innenausstattung, Haushaltsgeräte, Verkehr, Nachrichtenübermittlung, Freizeit, Unterhaltung, Kultur,
Bildung, Beherbergung und Gaststättendienstleistungen sowie andere Waren und Dienstleistungen) an
strenge formale und materielle Voraussetzungen knüpft.
42 Dabei ist besonders zu beachten, dass die zitierte Vorschrift letztlich darauf abzielt, ausländerrechtliches
Fehlverhalten zu sanktionieren. Hierfür dienen aber in erster Linie die Mechanismen des Ausländerrechts.
Zwar verpflichten der Schutz der Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip die Bundesrepublik
Deutschland nicht zur Gewährleistung einer voraussetzungslosen Fürsorge, so dass das Fachrecht durchaus
an bestimmte Mitwirkungshandlungen bzw. an bestimmte Obliegenheiten der hilfebedürftigen Personen
anknüpfen und bei deren Nichterfüllung auch Sanktionen vorsehen darf. In jedem Fall muss aber zwischen
dem sanktionierten Verhalten und der verhängten Sanktion ein angemessenes Verhältnis bestehen. Darüber
hinaus muss für den betroffenen Ausländer vor Verhängung der Sanktion erkennbar sein, welches Verhalten
von ihm erwartet wird. Ferner muss er vor der Verhängung der Sanktion Gelegenheit haben, sich zu
äußern.
43 In Anlehnung an die entsprechenden Normen des SGB II (§§ 31 ff.) ist daher aufgrund der Entscheidung des
BVerfG 18.07.2012 eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 3 AsylbLG verfassungsrechtlich nur dann
unbedenklich, wenn der betreffende Ausländer zuvor konkret darüber informiert worden ist, welche
Mitwirkungshandlung von ihm erwartet wird. Darüber hinaus ist es erforderlich, dass er zuvor über die
Folgen eines obliegenheitswidrigen Fehlverhaltens konkret belehrt worden ist. Im Übrigen darf sich die
Sozialverwaltungsbehörde bei der Beantwortung der Frage, ob der Tatbestand für eine
Anspruchseinschränkung gegeben ist, nicht lediglich an einer schlichten Mitteilung der Ausländerbehörde
orientieren; vielmehr ist sie gehalten, dies eigenständig zu überprüfen.
44 Zudem ergibt sich aus den vorstehenden Ausführungen nach Auffassung des Gerichts auch, dass eine
Anspruchseinschränkung auf Basis von § 1a Abs. 3 AsylbLG nur auf solche Umstände gestützt werden darf,
die sich nach dem Inkrafttreten des Gesetzes (also ab dem 24.10.2015) ereignet haben. Aus Ereignissen
bzw. Vorkommnissen vor diesem Zeitpunkt kann also eine Leistungsabsenkung nicht abgeleitet werden.
Insoweit kann § 1a Abs. 3 AsylbLG nämlich die von Verfassung wegen gebotene Warnfunktion nicht erfüllen.
Eine Anknüpfung an Sachverhalte vor dem 24.10.2015 käme somit einer verfassungsrechtlich unzulässigen
Rückwirkung gleich.
45 Im Übrigen ergibt sich aus der verfassungskonformen Auslegung der zitierten Vorschrift, dass eine
Deckungsgleichheit (Kongruenz) von rechtsmissbräuchlichem Verhalten und Leistungszeitraum erforderlich
ist. Dies bedeutet, dass eine Leistungsabsenkung nur so lange in Betracht kommen kann, wie das
rechtsmissbräuchliche Verhalten anhält (juris-PK, § 1a AsylbLG, § 1a Rdnr. 69). Darüber hinaus ist hieraus
aber auch abzuleiten, dass eine Leistungseinschränkung ausgeschlossen ist, wenn die zuständige Behörde
dem betreffenden Ausländer – wie hier – im Anschluss an das jetzt inkriminierte Verhalten zunächst über
einen längeren Zeitraum ungeminderte Leistungen erbracht hat. In einer solchen Situation ist die
Leistungseinschränkungen der Behörde „verwirkt“, denn der Ausländer durfte darauf vertrauen, dass aus
dem in der Vergangenheit liegenden Verhalten für den aktuellen Leistungsbezug keine Nachteile folgen.
Somit setzt eine Leistungseinschränkung in einer solchen Situation zwingend voraus, dass dem Ausländer
zuvor nochmals ernsthaft mitgeteilt wird, welches konkrete Verhalten von ihm gefordert wird und welche
Konsequenzen drohen, wenn er die gebotene Mitwirkung verweigert. Diese Voraussetzung ist vorliegend
nicht erfüllt, insoweit verweist das Gericht auf seine Ausführungen zur formellen Rechtmäßigkeit des
angefochtenen Bescheides (Abschnitt III der Entscheidungsgründe).
46 Somit kann der angefochtene Bescheid insgesamt keinen Bestand haben. Denn das dem Kläger von dem
beklagten Land vorgehaltene Fehlverhalten liegt viele Jahre zurück. Seinerzeit war § 1a Abs. 3 AsylbLG (in
der hier für die Entscheidung maßgeblichen Fassung) aber noch gar nicht in Kraft, so dass hieraus aktuell
keine Rechtsfolgen abgeleitet werden dürfen. Es trifft zwar zu, dass auch die alte Fassung des AsylbLG (§ 1a
in der bis zum 23.10.2015 gültigen Fassung) für Personen, bei denen aus von ihnen selbst zu vertretenden
Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden konnten, eine Anspruchseinschränkung
vorgesehen hat. Zwischen dieser und der ab dem 24.10.2015 gültigen Gesetzesfassung bestehen aber
gewichtige Unterschiede: Während sich die Leistungen nach der alten Fassung auf das im Einzelfall nach den
Umständen unabweisbar gebotene Maß beschränkt haben und stets eine unter Ermessen stehende
Einzelfallentscheidung der betroffenen Behörde gefordert hat, billigt die neue Fassung der Norm den
betroffenen Ausländern Leistungen kraft Gesetzes nur noch für die angeführten Bedarfe zu. Eine
einzelfallbezogene Verwaltungsentscheidung ist somit nach der neuen Fassung nicht erforderlich. Vor diesem
Hintergrund hätte der angefochtene Bescheid auch unter Anwendung der alten Gesetzeslage keinen
Bestand haben können, denn die von Verfassung wegen notwendigen besonderen Ermessenserwägungen,
auf die das Gericht in seinem Hinweis vom 04.07.2016 aufmerksam gemacht hat, sind von dem beklagten
Land nicht eingehalten worden.
47 Somit ist die Klage erfolgreich.
V.
48 Nur vorsorglich weist das Gericht noch auf folgendes hin:
49 Selbst zu vertretende Gründe für die Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Sinne von
§ 1a Abs. 3 AsylbLG liegen nur dann vor, wenn die zuständige Ausländerbehörde auch aktuell bestrebt ist,
die zwangsweise Ausreise des Ausländers durchzusetzen. Wenn die Ausländerbehörde
aufenthaltsbeendende Maßnahmen offensichtlich nicht mehr beabsichtigt, scheidet damit eine Anwendung
von § 1a Abs. 3 AsylbLG von vorne herein aus (juris-PK § 1a AsylbLG Rdnr. 64.1). Insoweit dürfte es
naheliegen, in Anlehnung an § 14 Abs. 1 AsylbLG eine Anwendung von § 1a Abs. 3 AsylbLG auszuschließen,
wenn die Ausländerbehörde über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten keinen Versuch mehr
unternommen hat, die Ausreise des Ausländers zwangsweise durchzusetzen.
50 Darüber hinaus ist im Rahmen einer strengen Kausalitätsüberprüfung festzustellen, ob die
Nichtvollziehbarkeit der Ausreisepflicht tatsächlich in rechtlich wesentlicher Weise dem
Verantwortungsbereich des Ausländers zuzurechnen ist. Dies kann bei der Nichtbefolgung einer
ausländerbehördlichen Passverfügung der Fall sein; zwingend ist dies aber nicht, so dass eine
Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 3 AsylbLG in einem solchen Fall nur eintreten kann, wenn sicher
feststeht, dass der betreffende Ausländer objektiv in der Lage ist, die zur Erteilung des Reisedokuments
notwendigen Mitwirkungshandlungen gegenüber der Botschaft seines Heimatlandes zu erbringen und dass
sich die zuständige ausländische Behörde im Rahmen einer Prognose mit hoher Wahrscheinlichkeit
bereiterklären wird, die notwendigen Reisedokumente zu erteilen. Vor diesem Hintergrund muss konkret
festgestellt werden, ob der Heimatstaat überhaupt bereit ist, Reisepapiere auszustellen und welche
Anforderungen Ausländer, die solche Papiere beanspruchen, erfüllen müssen. Nur wenn somit feststeht, dass
der betreffende Ausländer überhaupt eine realistische Chance hat, die notwendigen Papiere zu erhalten,
darf wegen unzureichender Mitwirkung eine Leistungseinschränkung durchgeführt werden. Anderenfalls
scheidet dies aus, denn ansonsten würde dem Ausländer letztlich etwas Unmögliches abverlangt.
VI.
51 Die auf § 193 SGG beruhende Kostenentscheidung berücksichtigt, dass die Klage erfolgreich ist.
VII.
52 Zwar erreicht der Wert der Beschwer nicht die Grenze von mehr als 750,00 EUR (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
SGG). Nach Auffassung des Gerichts haben die Rechtsfragen, die sich in Zusammenhang mit der Anwendung
und Auslegung von § 1a Abs. 3 AsylbLG (in der Fassung des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes)
ergeben, jedoch grundsätzliche Bedeutung über den Einzelfall hinaus, so dass die Berufung zuzulassen ist (§
144 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Somit entspricht das Gericht dem diesbezüglichen Hilfsantrag des Beklagten.