Urteil des SozG Mainz vom 19.09.2006

SozG Mainz: berufliche ausbildung, pakistan, krankenversicherung, altersgrenze, fachhochschule, betriebswirtschaftslehre, berufsausbildung, student, hochschulstudium, einreise

Sozialrecht
SG
Mainz
19.09.2006
S 6 KR 400/04
Zur Auswirkung des Abschlusses eines Bachelors auf die Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB
V von Studenten, die das 30. Lebensjahr bereits überschritten haben.
Tenor:
1. Der Bescheid der Beklagten vom 05.12.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.10.2004
wird aufgehoben. Es wird festgestellt, dass der Kläger über den 29.02.2004 hinaus bis zum regulären
Abschluss des Diplom-Studienganges der Betriebswirtschaftslehre an der Fachhochschule M im Juni
2007 als Student in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert ist.
2. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger über den 29.02.2004 versicherungspflichtig in der
gesetzlichen Krankenversicherung ist.
Der am 1973 geborene Kläger ist pakistanischer Staatsangehöriger und war bei der Beklagten nach
Aufnahme seines Studiums der Betriebswirtschaftlehre an der Fachhochschule M zum Wintersemester
2001/2002 in der studentischen Krankenversicherung pflichtversichert. Vor seiner Einreise in die
Bundesrepublik Deutschland hat er in Pakistan den Studienabschluss eines „Bachelor auf Science“ in der
Fachrichtung Biologie und Chemie erlangt. Aufgrund des hierüber vorgelegten Studiennachweises wurde
durch Bescheinigung des Ausländerstudienkollegs der Fachhochschule K die Berechtigung des Klägers
zum Studium an den Fachhochschulen des Landes Baden-Württemberg in allen Fachrichtungen
anerkannt.
Nach den Feststellungen des VG Sigmaringen im Urteil vom 12.10.2000 A 5 K 12381/98 war der Kläger
vor seiner Einreise nach Deutschland in Pakistan politischer Verfolgung ausgesetzt. Laut
nervenärztlichem Gutachten von Herrn O und Herrn Dr. O vom Behandlungszentrum für Folteropfer U vom
13.04.2000 litt der Kläger zum damaligen Zeitpunkt an einer durch Folterungen verursachten
posttraumatischen Belastungsstörung, einer anhaltenden Persönlichkeitsänderung nach Extrambelastung
und Stress bzw. einer anhaltenden Belastungssituation.
Mit Bescheid vom 05.12.2003 teilte die Beklagte dem Kläger mit, seine studentische Krankenversicherung
ende am 29.02.2004, da nach diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V nicht
mehr vorlägen. Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom
13.10.2004 zurückgewiesen. Zur Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt, nach § 9 Abs. 1 Nr. 9
SGB V seien u. a. Studenten, die an staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschulen eingeschrieben
seien, bis zum Abschluss des 14. Fachsemesters, längstens bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres,
versicherungspflichtig; anschließend seien Stundenten nur versicherungspflichtig, wenn die Art der
Ausbildung oder familiäre sowie persönliche Gründe die Überschreitung der Altersgrenze oder eine
längere Fachstudienzeit rechtfertigten. Der Kläger habe jedoch bereits ein Erststudium mit
wissenschaftlichem Abschluss in Pakistan durchgeführt. Beim jetzigen Studium der
Betriebswirtschaftslehre handele es sich somit um ein Zweitstudium. In einem Zweitstudium sei die
Versicherungspflicht nach Vollendung des 30. Lebensjahres jedoch grundsätzlich ausgeschlossen.
Versicherungspflicht nach Vollendung des 30. Lebensjahres jedoch grundsätzlich ausgeschlossen.
Mit seiner am 08.11.2004 bei Gericht eingegangenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
Er trägt vor,
er sei 1998 aus seinem Heimatland Pakistan nach Deutschland eingereist. In Pakistan sei er politisch
verfolgt worden und Folterungen ausgesetzt gewesen. Deswegen sei er vom VG Sigmaringen als politisch
Verfolgter anerkannt wurden (Urteil vom 12.10.2000). Laut Gutachten des Behandlungszentrums für
Folteropfer, U leide er an einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer andauernden
Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung. Aufgrund dieses persönlichen Schicksals und der
erheblichen psychischen Beeinträchtigungen, der er zunächst habe bewältigen müssen, habe er erst ab
dem Jahr 2001 ein Studium aufnehmen können. In den vorangegangenen Jahren in der Bundesrepublik
Deutschland sei er hierzu aufgrund seiner schlechten körperlichen und psychischen Verfassung sowie
seiner ungewissen aufenthaltsrechtlichen Situation nicht in der Lage gewesen. Bei der Ausbildung
handele es sich auch nicht um ein Zweitstudium. Die in Pakistan absolvierten Studienleistungen seien in
Deutschland nur teilweise anerkannt worden. Um überhaupt in Deutschland studieren zu können, war der
Erwerb des „bachelor of science“ in Pakistan notwendig gewesen. Dieser Abschluss sei in Deutschland
nicht als eigenständige Berufsausbildung anerkannt; vielmehr handele es sich lediglich um eine
Zulassungsvoraussetzung für ein Studium an einer deutschen Universität.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 05.12.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.10.2004
aufzuheben und festzustellen, dass er, der Kläger, über den 29.02.2004 bis zum Abschluss des Studiums
im Juni 2007 als Student in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert ist.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält an ihren Entscheidungen fest.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die
Gerichtsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 05.12.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.10.2004 ist
rechtswidrig und daher aufzuheben. Der Kläger ist gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 9 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche
Krankenversicherung (SGB V) als Student in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert.
Nach dieser Vorschrift sind Studenten versicherungspflichtig, die an staatlichen oder staatlich
anerkannten Hochschulen eingeschrieben sind, bis zum Abschluss des 14. Fachsemesters, längstens bis
zur Vollendung des 30. Lebensjahres; anschließend sind Studenten nur versicherungspflichtig, wenn die
Art der Ausbildung oder familiäre sowie persönliche Gründe, insbesondere der Erwerb der
Zugangsvoraussetzung in einer Ausbildungsstätte des Zweiten Bildungsweges, die Überschreitung der
Altersgrenze oder eine längere Fachstudienzeit rechtfertigen. Die Ausnahmeregelung ist nach dem Willen
des Gesetzgebers eng auszulegen, um Missbräuche zu verhindern und der Tendenz das
Hochschulstudium zu verlängern, entgegenzuwirken; persönliche oder familiäre Gründe, die eine
Überschreitung der Altersgrenze rechtfertigen, müssen von solcher Art und solchem Gewicht sein, dass
sie nicht nur aus der Sicht des Einzelnen, sondern auch bei objektiver Betrachtungsweise die Aufnahme
eines Studiums oder seinen Abschluss verhindern oder als unzumutbar erscheinen lassen (BSG, Urteil
vom 30.09.1992 - 12 RK 8/91 - SozR 3.2500 § 5 Nr. 7). Dies können z. B. sein: Erkrankung, Behinderung,
Schwangerschaft, Nichtzulassung zur gewählten Ausbildung im Auswahlverfahren, Betreuung von
behinderten oder sonst hilfebedürftigen Kindern und ähnliches (BT-Drucksache 11/2237, S. 159). Die
Aufnahme eines Zweit- oder Aufbaustudiums rechtfertigt die Überschreitung der Altersgrenze hingegen
auch dann nicht, wenn es sich um einen sinnvollen Weg zur Verbesserung der Berufsaussichten handelt
(BSG, a. a. O.; Kruse in: jurisPK-SGB V § 5 Rn. 62).
Im vorliegenden Fall ist die Überschreitung der Altersgrenze von 30. Jahren aus persönlichen Gründen
des Klägers gerechtfertigt. Bei dem derzeit an der Fachhochschule M absolvierten Studium der
Betriebswirtschaftslehre handelt es sich in diesem Zusammenhang nicht um eine Zweit- oder
Aufbaustudium, so dass eine Überschreitung der Altersgrenze nicht schon aus diesem Grund
ausscheidet. Das vom Kläger in Pakistan mit dem Abschluss eines "Bachelor of Science" absolvierte
Studium der Chemie und der Biologie stellt keine abgeschlossene Berufsausbildung und damit kein
abgeschlossenes Erststudium dar. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang insbesondere, ob der
"Bachelor of Science" einen (vollwertigen) Universitätsabschluss darstellt oder welche berufliche
Qualifikation mit ihm in Deutschland oder in Pakistan verbunden ist.
Zur Beurteilung, ob ein Erst-, Aufbau- oder Zweistudium vorliegt, können die Vorschriften des
Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) herangezogen werden, da dieses hinsichtlich der
Förderungswürdigkeit der Berufsausbildung eine ähnliche Zielrichtung verfolgt: in beiden Gesetzen wird
die erste berufliche Ausbildung als förderungs- bzw. schutzwürdig angesehen, eine darüber hinaus
gehende, weitere berufliche Ausbildung hingegen in der Regel nicht bzw. - nach § 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V
nur bis zu einer Altersgrenze von 30 Jahren. Nach § 7 Abs. 1a BAföG wird u. a. für einen Master- oder
Magisterstudiengang im Sinne des § 19 des Hochschulrahmengesetzes (HRG) Ausbildungsförderung
geleistet, wenn er auf einem Bachelor- oder Baccalaureusstudiengang aufbaut und der Auszubildende
außer diesem noch keinen Studiengang abgeschlossen hat. Dies entspricht dem mehrstufigen
Ausbildungssystem, das durch den sog. Bologna-Prozess derzeit europaweit angestrebt wird, um eine
möglichst einheitliche europäische Hochschullandschaft zu schaffen und in diesem Zusammenhang u. a.
die Vergleichbarkeit der Hochschulabschlüsse zu gewährleisten und die Möglichkeiten des
grenzüberschreitenden Hochschulwechsel zu verbessern. Dieser Prozess hat bereits seinen
Niederschlag in § 19 HRG gefunden. In diesem mehrstufigen Studiensystem stellt der "Bachelor" oder
"Baccalaureus" nach einer Regelstudienzeit von mindestens drei und höchstens vier Studienjahren (§ 19
Abs. 2 HRG) den niedrigsten akademischen Grad dar, der entweder zur Berufstätigkeit oder zu einem
"Masterstudium" in der selben, oder teilweise sogar in einer anderen Fachrichtung qualifiziert. Ziel der
Unterteilung der Hochschulausbildung in mehrere abgestufte akademische Abschlüsse ist die Verkürzung
der Studiendauer und die Flexibilisierung der akademischen Ausbildung. Auch für die
krankenversicherungsrechtliche Betrachtung ist daher davon auszugehen, dass der "Bachelor" ein
akademisches Studium nicht in jedem Fall abschließt, sondern regelmäßig mit einem Masterstudium als
zweitem Studienabschnitt - nicht hingegen als vollem zweiten Studium - fortgesetzt werden kann.
Der Abschluss eines Bachelor stellt damit regelmäßig dann noch keinen Abschluss eines vollständigen
Erststudiums dar, wenn ein Masterstudium folgt; er steht einer weiteren Pflichtmitgliedschaft des Studenten
in der gesetzlichen Krankenversicherung über das 30. Lebensjahr grundsätzlich nicht entgegen. Dabei
kann dahingestellt bleiben, ob der Abschluss eines Bachelors im Vergleich mit dem bisherigen deutschen
Ausbildungssystem grundsätzlich mit dem Vordiplom oder dem Diplom vergleichbar ist. Für den
vorliegenden Fall kann weiter dahingestellt bleiben, ob der durch den Kläger in Pakistan erlangte
"Bachelor of Science" dem europäischen Bachelor, wie er in § 19 HRG und § 7 Abs. 1a BAföG Eingang
gefunden hat, entspricht, oder ob der pakistanische Abschluss eventuell eher mit dem deutschen Abitur
bzw. einer anderen Hochschulzugangsberechtigung vergleichbar ist, wofür die Praxis zahlreicher
deutscher Hochschulen spricht, Bachelor-Abschlüsse aus Pakistan lediglich als
Hochschulzugangsberechtigung zu akzeptieren und nicht auf das Hochschulstudium selbst anzurechnen.
(z. B. Universität Mainz laut deren Internetauftritt; in diese Richtung geht auch die vom Kläger vorgelegte
Bescheinigung des Ausländerstudienkollegs an der Fachhochschule K vom 21.05.2001). Jedenfalls dann,
wenn dem Studium bis zur Erlangung des Abschlusses eines Bachelors ein Masterstudium folgt, ist das
Bachelorstudium noch nicht als vollständig abgeschlossenes Erststudium und das anschließende
Masterstudium nicht als Zweitstudium, sondern als Fortsetzung des Erststudiums anzusehen (so OVG
Hamburg, Urteil vom 11.05.2006 - 4 Bf 408/05 - Juris Rn. 42 zum BAföG-Recht).
Aber auch im vorliegenden Fall, in dem der Klägerin derzeit keinen Masterstudiengang absolviert,
sondern eine (vollen) Diplomstudiengang der Betriebswirtschaftslehre, ist dieser nicht als Zweit- sondern
als Erststudium im krankenversicherungsrechtlichen Sinne anzusehen. Auch hierbei kann letztlich
dahingestellt bleiben, ob der vom Kläger in Pakistan erworbene Bachelor lediglich als
Hochschulzugangsberechtigung anzusehen ist (wofür die vorgelegte Bescheinigung des
Ausländerstudienkollegs an der Fachhochschule K vom 21.05.2001 spricht), oder bereits den ersten Teil
eines Hochschulstudiums darstellt; denn der Kläger konnte zum Zeitpunkt der Aufnahme seines
Fachhochschulstudiums im Jahre 2001 in Deutschland noch nicht auf ein flächendeckendes Angebot an
Bachelor- und Masterstudiengängen zurückgreifen; auch an der Fachhochschule M, an der der Kläger
derzeit sein Studium absolviert, sind die nach Bachelor und Master gestuften Studiengänge erst nach
Beginn des Studiums des Klägers eingeführt worden; er war daher darauf angewiesen, sich im deutschen
Ausbildungssystem neu zu orientieren. Es lag daher auch ein unabweisbarer Grund für die Aufnahme
eines weiteren Studiums im Sinne des § 7 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BAföG vor; für eine hiervon abweichende
Behandlung des Studiums des Klägerin im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V sind keine Gründe
ersichtlich.
Der Kläger war schließlich aus persönlichen Gründen gehindert, sein Studium vor Vollendung des 30.
Lebensjahres abzuschließen. Die persönliche Situation des Klägers zwischen den Jahren 1998 und 2001
stellt einen insoweit ausreichenden persönlichen Grund dar. Das nervenärztliche Gutachten des
Behandlungszentrums für Folgeropfer, U vom 13.04.2000 bestätigt, dass der Kläger wegen der in
Pakistan erlittenen Folterungen an einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer beginnenden
Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung litt; während des ungeklärten Aufenthaltsstatus in
Deutschland litt der Kläger laut Gutachten zusätzlich unter starken Ängsten vor einer eventuellen
unfreiwilligen Rückführung nach Pakistan, die mit der vom Kläger befürchteten erneuten Verhaftung,
erneuter Folter und möglicherweise Tötung begründet wurden. Die mit diesen Erkrankungen
verbundenen Einschränkungen stellen nach Ansicht der Kammer einen ausreichenden persönlichen
Grund dafür dar, die berufliche Ausbildung zunächst nicht zügig weiter zu verfolgen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.