Urteil des SozG Mainz vom 03.08.2006

SozG Mainz: erwerbsfähigkeit, diabetes mellitus, erwerbsunfähigkeit, arbeitsmarkt, form, unfallversicherung, arbeitsunfall, quelle, gerichtsakte, eingliederung

Sozialrecht
SG
Mainz
03.08.2006
S 6 U 180/05
Zu den Voraussetzungen des Ausschlusses einer MdE bei bereits vor dem Versicherungsfall bestehender
völligen Erwerbsunfähigkeit
Tenor:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf Verletztenrente wegen der Folgen des
Arbeitsunfalls vom 09.09.2003.
Am 09.09.2003 erlitt der Kläger als mitarbeitender Familienangehöriger im landwirtschaftlichen Betrieb
des Herrn K-H M einen Unfall, bei dem er sich eine Weichteilverletzung der rechten Hand mit
nachfolgender Entzündung zuzog. Der seitens der Beklagten hierzu gutachtlich gehörte Dr. K schätzte die
hierauf zurückzuführende Minderung der Erwerbsfähigkeit zunächst vom 16.02.2004 bis 22.11.2004 auf
20 v. H. ein und empfahl im Anschluss daran eine Nachuntersuchung. Die Beklagte erkannte den Unfall
durch Bescheid vom 23.08.2004 als Arbeitsunfall an, lehnte jedoch die Gewährung einer Verletztenrente
wegen der Folgen des Arbeitsunfalls ab, da der Kläger ausweislich des beigezogenen - für die
gesetzliche Rentenversicherung erstatteten - Gutachtens des Dr. Sch vom 04.04.1997 bereits vor dem
Unfall durch unfallunabhängige Erkrankungen (Bluthochdruck, Diabetes mellitus,
Schilddrüsenüberfunktion, Herzrhythmusstörung, Tinnitus mit Schwerhörigkeit beidseits, formverbildende
Veränderungen der Halswirbelsäule) unfähig gewesen sei, sich unter Ausnutzung der
Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm nach seinen gesamten Kenntnissen sowie körperlichen und geistigen
Fähigkeiten im ganzen Bereich des wirtschaftlichen Leben bieten, einen Erwerb zu verschaffen. Da der
Kläger mithin bereits vor dem Unfall völlig erwerbsunfähig gewesen sei, habe durch den Unfall keine
Minderung der Erwerbsfähigkeit mehr eintreten können.
Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 04.08.2005
zurückgewiesen.
Mit seiner am 26.08.2005 bei Gericht eingegangenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
Er ist der Ansicht,
ihm stünde eine Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von 20 v. H. wegen der Folgen des Unfalls vom
09.09.2003 zu. Volle Erwerbsminderung im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung genüge nicht, um
völlige Erwerbsunfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung zu begründen. Ausreichend für
eine MdE im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung sei eine vor dem Unfall vorhandene
Erwerbsfähigkeit, gleich welchen Ausmaßes, die dazu befähige, wirtschaftlich sinnvolle Tätigkeiten zu
verrichten bzw. einen Verdienst zu erzielen. Auch ein Restleistungsvermögen von 2 bis 3 Stunden täglich
reiche somit allemal aus, um durch einen Arbeitsunfall gemindert zu werden. Die unstreitige Tatsache,
dass er, der Kläger, bereits im Unfallzeitpunkt eine Rente von der Landwirtschaftlichen Alterskasse wegen
voller Erwerbsminderung bezogen habe, sie daher nicht entscheidungserheblich. Entscheidungsrelevant
sei lediglich, dass das von der Beklagten beigezogene Rentengutachten des Internisten Dr. Sch unstreitig
ein Restleistungsvermögen von 2 bis 3 Stunden täglich ausweise. Dr. K habe die MdE - aufbauend auf
diesem Restleistungsvermögen - auf 20 v. H. eingeschätzt. Auf die Entscheidung des BSG in BSGE
17,160, 161 werde verwiesen und Bezug genommen.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 23.08.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.08.2005
abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 09.09.2003 eine
Verletztenrente von wenigstens 20 v. H. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält an ihren Entscheidungen fest.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die
Gerichtsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet.
Dem Kläger steht kein Anspruch auf Verletztenrente wegen der Folgen des Unfalls vom 09.09.2003 zu.
Der Anspruch auf Verletztenrente setzt gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII voraus, dass der Versicherte in
seiner Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall
hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist. Versichertes Rechtsgut ist die individuelle Erwerbsfähigkeit
des Versicherten zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) richtet
sich gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des
körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem
gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Ihre Bemessung geht von der - unabhängig von etwaigen
Vorschäden - als 100 % angenommenen individuellen Erwerbsfähigkeit des Versicherten zum Zeitpunkt
des Versicherungsfalls aus und erfolgt nach dem Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung, d. h.
ohne konkrete Schadensfeststellung in Form eines tatsächlichen Minderverdienstes. Maßgeblich ist
ausschließlich die anhand allgemeiner Erfahrungssätze zu bestimmende - durch die jeweiligen
Funktionseinschränkungen verursachte - Verminderung der Möglichkeiten, sich auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt eine Lebensgrundlage in Form eines Erwerbs zu verschaffen. Hierbei führen gleiche
gesundheitliche Funktionseinschränkungen grundsätzlich zur gleichen Höhe der MdE. Zum Zeitpunkt des
Versicherungsfalls bereits bestehende Beeinträchtigungen beeinflussen daher die Höhe der MdE
grundsätzlich nicht.
Begrifflich ausgeschlossen ist eine MdE jedoch dann, wenn bereits zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls
keine Erwerbsfähigkeit bestand, die gemindert werden könnte: Bestand nämlich bereits zuvor dauernde
völlige Erwerbsunfähigkeit, dann hatte der Versicherte bereits vor dem Versicherungsfall keine
Möglichkeit, sich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen Erwerb zu verschaffen (BSG, Urteil vom
29.06.1962 - 2 RU 159/61 - BSGE 17, 160; Urteil vom 24.02.1997 - 8 RU 58/76 - BSGE 43, 209; Urteil vom
17.03.1992 - 2 RU 20/91 - BSGE 70,177). Die völlige dauernde Erwerbsunfähigkeit ist nicht identisch mit
der (früheren) Erwerbsunfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern liegt erst dann
vor, wenn die Fähigkeit fehlt, sich trotz Nutzung aller nach seinen Kenntnisse und Fähigkeiten gegebenen
Arbeitsmöglichkeiten im gesamten Wirtschaftleben noch nennenswerten Verdienst zu erzielen (BSG,
Urteil vom 29.06.1962 - 2 RU 159/61 - BSGE 17, 160, in dem dies für Blinde verneint wurde). Ausreichend
ist hingegen nicht, dass der Versicherte in der Lage, überhaupt eine sinnvolle Tätigkeit auszuüben.
Andernfalls bedürfte es der dargelegten Einschränkung des Rentenanspruch nicht, denn ein
Versicherungsfall setzt bereits die Ausübung einer versicherten Tätigkeit begrifflich voraus.
Im vorliegenden Fall bestand nach Ansicht der Kammer bereits vor dem Versicherungsfall dauernde
völlige Erwerbsunfähigkeit des Klägers. Die Möglichkeit, sich auf dem Arbeitsmarkt eine Lebensgrundlage
in Form eines nennenswerten Verdienstes zu verschaffen besteht nicht mehr, wenn - wie im vorliegenden
Fall - nur noch ein allgemeines Leistungsvermögen von bis zu 2 Stunden täglich besteht. Diese
Einschätzung wird bestätigt durch die Regelung des § 8 SGB II, die von Erwerbsfähigkeit im Sinne der
Möglichkeit der Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt erst dann ausgeht, wenn der Betroffene in
der Lage ist, auf absehbare Zeit mindestens drei Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des
allgemeine Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein. Dies ist beim Kläger nach den Feststellungen des Dr. Sch
in seinem Gutachten vom 04.04.1997 nicht der Fall.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.