Urteil des SozG Mainz vom 07.08.2006

SozG Mainz: sozialhilfe, krankenversicherung, selbständige erwerbstätigkeit, leistungsbezug, gsg, versicherungspflicht, empfehlung, altersgrenze, anschluss, gleichbehandlung

Sozialrecht
SG
Mainz
07.08.2006
S 6 KR 224/05
Kein Beitrittsrecht zur gesetzlichen Krankenversicherung nach § 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 8 SGB V für Personen,
die ab dem 01.01.2005 im Leistungsbezug nach dem SGB XII stehen
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin zum 01.01.2005 gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V zur
freiwilligen Krankenversicherung bei der Beklagten beigetreten ist.
Die Klägerin bezog im Zeitraum vom 01.11.2001 bis 30.11.2004 Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) und im Anschluss daran bis zum 31.12.2004 Leistungen nach dem
Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (GSiG). Seit dem
01.01.2005 erhält Sie Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII. Nach dem übereinstimmenden
Vortrag der Beteiligten war die Klägerin in der Vergangenheit zu keinem Zeitpunkt gesetzlich oder privat
krankenversichert.
Mit Schreiben vom 02.05.2005 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Aufnahme als freiwilliges
Mitglied, was die Beklagte mit Bescheiden vom 03.05.2005 und 04.05.2005 ablehnte. Mit Bescheid vom
03.05.2005 lehnte die Beklagte den Beitritt zur freiwilligen Versicherung nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB
V ab, da die Klägerin bereits das 45. Lebensjahr vollendet habe, das nach § 10 Abs.1 der Satzung der
Beklagten die Altersgrenze für den Beitritt Schwerbehinderter im Sinne des SGB IX darstelle. Mit Bescheid
vom 04.05.2006 lehnte die Beklagte den Beitritt zur freiwilligen Versicherung nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8
SGB V ab, da die Klägerin laufend Leistungen nach dem SGB XII beziehe und ihr nicht das Beitrittsrecht
für frühere Leistungsbezieher zustehe.
Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14.09.2005
zurück.
Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer am 05.10.2005 bei Gericht eingegangenen Klage, mit der sie
ihr Begehren weiterverfolgt.
Sie ist der Ansicht,
ihr stehe ein Recht auf Beitritt zur freiwilligen Versicherung zu.
Sie beantragt sinngemäß,
die Bescheide der Beklagten vom 03.05.2005 und 04.05.2005, beide in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 14.09.2005 aufzuheben und festzustellen, dass sie, die Klägerin, zum
01.01.2005 zur freiwilligen Versicherung bei der Beklagten beigetreten sei.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält an ihrer Auffassung fest.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die
Gerichtsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet.
Die Klägerin ist nicht wirksam zur freiwilligen Versicherung beigetreten, da kein Beitrittstatbestand des § 9
Abs. 1 Satz 1 SGB V erfüllt ist. Zunächst sind die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB V nicht
erfüllt, da weder die Vorversicherungszeiten vorliegen, noch das Alter der Klägerin unterhalb der nach §
10 Abs. 1 der Satzung der Beklagten festgelegte Altersgrenze liegt.
Auch die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V sind nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift
können Personen, die in der Vergangenheit laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem
Bundessozialhilfegesetz bezogen haben und davor zu keinem Zeitpunkt gesetzlich oder privat
krankenversichert waren, innerhalb von sechs Monaten ab dem 01.01.2005 der Versicherung beitreten.
Die Klägerin erfüllt diese Voraussetzungen nicht, da sie ab dem 01.01.2005 Leistungen der Sozialhilfe
nach dem SGB XII bezieht. Zum beitrittsberechtigten Personenkreis im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8
SGB V gehören indes nur diejenigen, der „in der Vergangenheit“ laufende Leistungen zum
Lebensunterhalt nach dem BSHG bezogen und nicht Personen, die laufend Sozialhilfe - ab dem
01.01.2005 nach dem SGB XII beziehen. Unerheblich ist auch, ob zwischenzeitlich ein Leistungsbezug
nach dem GSiG stattgefunden hat.
Allerdings ergibt sich diese Auslegung nicht ohne weiteres aus dem Wortlaut der Vorschrift. Naheliegen
würde angesichts des Wortlauts der Vorschrift auch ein Verständnis dahingehend, dass Voraussetzung
des Beitrittsrechts - neben der fehlenden Vorversicherung - lediglich der in der Vergangenheit
stattgefundene Bezug von Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem BSHG ist, unabhängig davon ob
die Person erwerbsfähig ist oder im Anschluss an den Leistungsbezug nach dem BSHG andere
steuerfinanzierte Sozialleistungen für Bedürftige erhält. Einen ausdrücklichen Ausschluss von Personen
vom Beitrittsrecht, die laufend Leistungen nach dem SGB XII erhalten, enthält der Wortlaut der Vorschrift
nämlich nicht (worauf SG Koblenz, Urteil vom 08.03.2006 - S 12 KR 90/05 - JURIS - und LSG Baden-
Württemberg, Urteil vom 11.04.2006 - L 11 KR 714/06 - JURIS - verweisen und daher auch Personen, die
laufend Leistungen nach dem SGB XII beziehen in das Beitrittsrecht einbeziehen; ebenso Gerlach in:
Hauck/Noftz, SGB V, § 9 Rn. 78).
Auch der Gesetzesbegründung lässt sich keine eindeutige Aussage für die eine oder andere Auslegung
der Vorschrift entnehmen. Für letzteres Verständnis (Beitrittsrecht auch für Bezieher von laufenden
Leistungen nach dem SGB XII) spricht etwa, dass in dem Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und
Arbeit vom 16.10.2003 (BT-Drs. 15/1749) auf S. 36 ausgeführt ist, dass das einmalige Beitrittsrecht eine
Gleichstellung mit Personen, die aufgrund des Bezugs von Arbeitslosengeld nach dem SGB II
Pflichtmitglied der gesetzlichen Krankenversicherung werden, erreicht werden soll (so SG Koblenz,
Beschluss vom 09.02.2005 - S 5 ER 14/05 KR). Der Passus könnte indes auch dahingehend verstanden
werden, dass nicht die Gleichbehandlung von erwerbsfähigen und nicht erwerbsfähigen früheren
Beziehern von Leistungen der Sozialhilfe nach dem BSHG und jetzigen Beziehern von Leistungen nach
dem SGB II bzw. SGB XII erreicht werden soll, sondern dass sich die Gleichbehandlung lediglich auf
erwerbsfähige Personen bezieht, die entweder arbeitssuchend sind und daher Leistungen nach dem SGB
II erhalten (und damit pflichtversichert in der gesetzlichen Krankenversicherung sind) oder
zwischenzeitlich eine selbständige Erwerbstätigkeit aufgenommen haben und damit - können sie keine
Vorversicherungszeiten aufweisen - von den sozialen Sicherungssystemen ausgeschlossen sind. Hierfür
würde auch sprechen, dass der Ausschussbericht (a. a. O.) auf eine Empfehlung des
Petitionsausschusses verweist, der die Petition eines Selbständigen zugrunde lag, der zuvor Sozialhilfe
nach dem BSHG bezogen hatte und die Möglichkeit eingeräumt haben wollte, der gesetzlichen
Krankenversicherung beizutreten. In dieser Beschlussempfehlung wird darauf hingewiesen, dass nach
Art. 28 des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG) beabsichtigt gewesen sei, auch Bezieher von Hilfe zum
Lebensunterhalt nach dem BSHG in die gesetzliche Krankenversicherung einzubeziehen. Diese
Regelung sei noch nicht umgesetzt worden (und ist bis heute nicht umgesetzt worden). Bei einer
Umsetzung dieser Norm sollten auch Altfälle, „d. h. ehemalige Bezieher laufender Hilfe zum
Lebensunterhalt“, berücksichtigt werden. Die Bezugnahme der Gesetzesbegründung auf diese
Empfehlung des Petitionsausschusses weist damit deutlich darauf hin, dass das Beitrittsrecht nach § 9
Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V auf einen bereits abgeschlossenen Leistungsbezug Bezug nimmt (vgl. LSG
Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 26.04.2006 - L 11 KR 8/06 - JURIS). Da das SGB XII zum Zeitpunkt der
Beschlussempfehlung des Petitionsausschlusses noch nicht gegolten hat, steuerfinanzierte
Sozialleistungen an Bedürftige mithin grundsätzlich nach dem BSHG erbracht wurden, muss davon
ausgegangen werden, dass das Beitrittsrecht an einen abgeschlossenen Bezug solcher Leistungen -
gleich auf welcher Gesetzesgrundlage - anknüpfen sollte. Weiter spricht für diese - engere - Auslegung
der Gesetzesbegründung, dass sie einen „eng begrenzten Personenkreis“ im Blick hat; ein generelles
Beitrittsrecht für alle Bezieher laufender Leistungen nach dem SGB XII, die bislang nicht krankenversichert
waren, kann mithin nicht gemeint gewesen sein.
Im Ergebnis spricht eine an Sinn und Zweck der Regelung und gesetzessystematischen Überlegungen
orientierte Auslegung der Vorschrift dafür, das Beitrittsrecht nur auf frühere Bezieher von Sozialhilfe im
Sinne von steuerfinanzierten Sozialleistungen für Bedürftige - mithin auf abgeschlossene Leistungsfälle -
zu beziehen. Eine solche Auslegung ist vom Wortlaut der Vorschrift noch gedeckt.
Der Gesetzgeber hat sein ursprüngliches Vorhaben, die Sozialhilfeempfänger in die Versicherungspflicht
in der gesetzlichen Krankenversicherung mit einzubeziehen (vgl. Art. 28 Abs. 1 des
Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG) vom 21.12.1992, BGBl. I S. 2266), offenbar zwischenzeitlich
aufgegeben, nachdem es zu dem nach Art. 26 Abs. 2 GSG vorgesehenen Gesetz über das Nähere zur
Abgrenzung des versicherten Personenkreises, über die Beitragsbemessung und die Meldepflicht nicht
gekommen war (vgl. Peters, in: KassKomm § 5 SGB V, Rn. 148). Statt dessen wurde für diesen
Personenkreis zum 01.01.2004 in § 264 Abs. 2 bis 7 SGB V die Übernahme der Krankenbehandlung
durch die Krankenkassen gegen Kostenerstattung durch die Träger der Sozialhilfe vorgesehen. Grund
waren wohl Einigungsschwierigkeiten hinsichtlich der Beitragszahlungen; zwischenzeitlich sah man auch
Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen der aufgrund einer Versicherungspflicht zu zahlenden Beiträge
auf das steuerliche Existenzminimum und damit verbundener Steuerausfälle (BT-Drs. 15/1525, S. 140).
Ein generelles Beitrittsrecht für Bezieher von laufender (lediglich seit dem 01.01.2005 auf neuer
gesetzlichen Grundlage gewährter) Sozialhilfe würde dieser Konzeption zuwiderlaufen. Vielmehr käme
das Beitrittsrecht einer Verlagerung der Krankenbehandlungskosten der Sozialhilfeempfänger auf die
Krankenkassen „durch die Hintertür“ gleich, wovon nicht ausgegangen werden kann (so LSG Nordrhein-
Westfalen, Urteil vom 26.04.2006 - L 11 KR 8/06 - JURIS). Außerdem knüpft der freiwillige Beitritt nach der
bisherigen Gesetzeskonzeption in der Regel an eine Veränderung im Status des Versicherten und meist
zusätzlich an Vorversicherungszeiten an. Es kann indes nicht davon ausgegangen werden, dass der
Gesetzgeber dieses Prinzip aufgeben wollte, und als Tatbestand für den freiwilligen Beitritt zur
gesetzlichen Krankenversicherung lediglich die Änderung der gesetzlichen Grundlage für den Bezug der
Sozialhilfe vorsehen wollte.
Nach alledem besteht ein Beitrittsrecht nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V nur, wenn der Bezug der
Sozialhilfe - gleich auf welcher gesetzlichen Grundlage, d. h. auch in Form von Leistungen nach dem
GSiG - vor dem 01.01.2005 geendet hat (so auch LSG Nordrhein-Westfalen, a. a. O.; LSG Berlin-
Brandenburg, Urteil vom 28.03.2006 - JURIS; SG Berlin, Gerichtsbescheid vom 07.07.2005 - S 81 KR
1003 /05; Krauskopf-Baier, Soziale Krankenversicherung, § 9 SGB V, Rn. 23; a. A. SG Koblenz, Beschluss
vom 09.02.2005 - S 5 ER 14/05 KR; Urteil vom 08.03.2006 - S 12 KR 90/05 - JURIS; LSG Baden-
Württemberg, Urteil vom 11.04.2006 - L 11 KR 714/06; Gerlach in: Hauck/Noftz, SGB V, § 9 Rn. 78; wohl
auch Peter, in: KassKomm. § 9 SGB V, Rn. 48).
Da die Klägerin weiter im Bezug von Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII steht, gehört sie nicht
zu dem beitrittsberechtigten Personenkreis nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V und konnte daher mit ihrem
Schreiben vom 02.05.2005 nicht zur freiwilligen Versicherung bei der Beklagten beitreten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.