Urteil des SozG Lüneburg vom 23.11.2010

SozG Lüneburg: abgabe von hilfsmitteln, krankenversicherung, ärztliche verordnung, im bewusstsein, leistungserbringer, sachleistung, krankenkasse, vertragsarzt, versorgung, bestandteil

Sozialgericht Lüneburg
Urteil vom 23.11.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 6 KR 275/08
1. Der Bescheid der Beklagten vom 20. November 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juni 2008
wird aufgeho- ben. 2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger 275,00 EUR zu zahlen. 3. Die Beklagte hat dem Kläger
die notwendigen Kosten des Verfahrens zu erstatten. 4. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten wegen der Kosten einer motorischen Schultergelenkbewegungsschiene.
Der 1959 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Wegen anhaltender Beschwerden wurde
er am 07. November 2007 ambulant von dem Facharzt für Orthopädie Dr. G. am rechten Schultergelenk operiert. Am
gleichen Tag stellte Dr. G. für den Kläger eine ärztliche Verordnung über die Miete einer ARTROMOT S CPM-
Schulterbewegungsschiene für vier Wochen aus. Am 08. November 2007 sandte das Sanitätshaus H. per Fax an die
Beklagte einen Kostenvoranschlag (Mietpauschale für 28 Tage insgesamt 680,20 EUR) zur Genehmigung.
Am 19. November 2007 gab Dr. I. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Niedersachsen (MDKN) für die
Beklagte eine Stellungnahme ab. Danach sei die beantragte Verordnung nicht medizinisch begründet. Mit Bescheid
vom 20. November 2007, gerichtet an den Kläger, lehnte die Beklagte daraufhin den Antrag auf Kostenübernahme ab.
Nach den Heilmittelrichtlinien seien Krankengymnastik, Physiotherapie, Gerätetraining sowie Übungen in Eigenregie
vorrangig und ausreichend. In diesem Bescheid heißt es weiter: "Sollte diese Mitteilung zur Folge haben, dass sich
der Leistungserbringer mit einer Rechnung an sie wendet, so bitten wir Sie, diese nicht zu bezahlen und uns zu
informieren". Eine Rechtsbehelfsbelehrung enthält der Bescheid nicht.
Der Kläger übersandte daraufhin der Beklagten die Rechnung des Sanitätshauses vom 28. Dezember 2007 (Mietdauer
vom 10.11.2007 bis 23.11.2007, Rechnungsbetrag 275,- EUR).
Am 04. Februar 2008 legte der Kläger gegen die Ablehnung der Kostenübernahme Widerspruch ein. Er verwies darauf,
dass er durch die Verwendung der Bewegungsschiene seine Arbeit wesentlich früher wieder habe aufnehmen können
als dies dem Normalfall entspreche.
Zur weiteren Begründung übersandte er u.a. ein Attest des Dr. G. vom 15. Februar 2008. Darin heißt es, es sei eine
ausgedehnte Operation mit großzügiger Teilbursektomie sowie einer subakromialen Dekompression und ergänzend
eine Resektion des AC-Gelenkes durchgeführt worden. Der Kläger sei gehalten, aufgrund der riesigen Wundflächen
die im Operationsgebiet entstanden seien, den Arm in den ersten Wochen nicht aktiv zu bewegen. Der Einsatz einer
CPM-Schiene, d.h. einer passiven Bewegungshilfe, sei daher unentbehrlich.
Mit Gutachten vom 31. März 2008 bestätigte Dr. J. vom MDK das Ergebnis der vorherigen MDK-Stellungnahme.
Dementsprechend wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23. Juni 2008 den Widerspruch zurück. Es gebe
keinen Nachweis des therapeutischen Nutzens einer passiven Bewegungstherapie im häuslichen Bereich. Die
motorische Schulterbewegungsschiene sei nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnungsfähig.
Dagegen hat der Kläger am 24. Juli 2008 Klage erhoben. Er sei der Auffassung gewesen, die CPM-Schiene stehe ihm
als Sachleistung der Beklagten zu. Nachdem er den Ablehnungsbescheid erhalten habe, habe er sie sofort wieder
zurückgegeben (also nach weniger als zwei Wochen Gebrauch), obwohl die Verordnung über vier Wochen ausgestellt
war.
Der Kläger beantragt,
1. den Bescheid der Beklagten vom 20. November 2007 in der Gestalt der Wider- spruchsbescheides vom 23. Juni
2008 aufzuheben, 2. die Beklagte zu verurteilen dem Kläger 275,00 EUR zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
1. die Klage abzuweisen, 2. hilfsweise die Berufung zuzulassen.
Sie ist der Auffassung, motorische Schultergelenkbewegungsschienen seien keine Leistung der gesetzlichen
Krankenversicherung. Sie verweist u.a. auf Stellungnahmen des MDK und auf sozialgerichtliche Rechtsprechung.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie der näheren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die
Verwaltungsakten der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren,
verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet.
Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtswidrig und verletzt den Kläger dadurch in seinen Rechten. Die
Beklagte hat die Kostenerstattung für die Miete der CPM-Bewegungsschiene zu Unrecht abgelehnt.
Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch ergibt sich unmittelbar aus § 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 33 Abs.
1 Satz 1, Absatz 4 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch -Gesetzliche Krankenversicherung- (SGB V). Es handelt
sich vorliegend nicht um einen Kostenerstattungsanspruch gemäß § 13 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB
V). Auf dessen Voraussetzungen kommt es deshalb nicht an.
Der Kläger durfte nämlich zunächst davon ausgehen, die Bewegungsschiene leihweise als Sachleistung der
gesetzlichen Krankenversicherung zu erhalten. Er muss deshalb so gestellt werden wie jeder andere Versicherte, der
eine Sachleistung tatsächlich erhalten hat, nämlich ohne eigenen finanziellen Einsatz.
Hilfsmittel wie die verordnete Motorbewegungsschiene sind als Bestandteil der Krankenbehandlung (§ 27 Abs. 1 Satz
2 Nr. 3, §§ 33 und 34 SGB V) wie diese als Sachleistung (§ 2 Abs. 2 SGB V) zu erbringen, wenn die gesetzlichen
Voraussetzungen dafür vorliegen. Dementsprechend gehen auch §§ 126, 127 SGB V und die dazu geschlossenen
Verträge davon aus, dass der Versicherte die vom Leistungserbringer unter Vorlage einer vertragsärztlichen
Verordnung erworbenen Hilfsmittel auf Kosten seiner Krankenkasse erhält. Die Versorgung der Versicherten mit
Hilfsmitteln wird im Wege der vertragsärztlichen Versorgung durchgeführt (§ 73 Abs. 2 Nr. 7 SGB V). Das bedeutet,
dass ein Hilfsmittel nur dann auf Krankenkassenkosten gewährt werden kann, wenn es ein Vertragsarzt auf dem
hierfür vorgesehen Formblatt ("Kassenrezept") verordnet hat (BSGE 73, 271, 211 = SozR3 – 2500 § 13 Nr. 4).
Solch ein Kassenrezept liegt hier vor. Der Vertragsarzt Dr. G. (Orthopäde) hat am 7. November 2007 auf dem hierfür
vorgesehen Formblatt eine motorische Artromot S CPM Schulterbewegungsschiene für die kontinuierliche, passive
Bewegungsbehandlung (CPM) des Schultergelenks mietweise für vier Wochen schriftlich verordnet. Auf diesem in der
Verwaltungsakte als schlecht lesbare Kopie abgehefteten Formblatt findet sich kein Hinweis darauf, dass diese
Verordnung unter dem Vorbehalt der – vorherigen – Zustimmung der Krankenkasse steht.
Auch aus § 30 Abs. 8 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) und § 16 Abs. 8 Bundesmantelvertrag-Ärzte/Ersatzkassen
(EKV-Ä) ergibt sich keine Verpflichtung des gesetzlich Krankenversicherten, ein vertragsärztlich verordnetes
Hilfsmittel vorab von der Krankenkasse genehmigen zu lassen. Nach diesen Regelungen bedarf die Abgabe von
Hilfsmitteln auf Grund der Verordnung eines Vertragsarztes der Genehmigung durch die Krankenkasse. Nach dem
eindeutigen Wortlaut ist hier nur die Modalität der Abgabe geregelt. Adressat ist also der abgebende
Leistungserbringer und nicht der die Leistung erhaltende Versicherte (Leistungsempfänger). Unabhängig davon wäre
bereits zweifelhaft, ob sich aus den zwischen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Krankenkassen
geschlossenen Verträgen überhaupt Verpflichtungen der Versicherten ergeben können.
Auch im Gesetz findet sich ein solcher Vorbehalt nicht, auch nicht in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Danach besteht der
Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln nur, soweit sie im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der
Krankenbehandlung zu sichern. Damit wird das Gebot des § 2 Abs. 4 SGB V konkretisiert, wonach Krankenkassen,
Leistungserbringer und Versicherter darauf zu achten haben, dass die Leistungen wirksam und wirtschaftlich erbracht
und nur im notwendigen Umfang in Anspruch genommen werden. Zwar richtet sich somit der gesetzliche Auftrag zur
Vorabprüfung der Wirksamkeit, Wirtschaftlichkeit und Notwendigkeit auch an den Versicherten. Dies kann aber nur
gelten, wenn der Versicherte auch in der Lage ist, diese Gesichtspunkte richtig einzuschätzen. Dem Kläger war das
am 7. November 2007 nicht möglich.
Gesetzlich Krankenversicherte wie der Kläger müssen im Regelfall davon ausgehen können, dass bei einer formell
ordnungsgemäßen Verordnung durch einen Vertragsarzt die o.g. Gesichtspunkte ordnungsgemäß beachtet wurden.
Dem Versicherten kann im Regelfall nicht die fehlerhafte Einschätzung des Vertragsarztes entgegen gehalten werden.
Der Vertragsarzt kann nämlich als Schlüsselfigur der Heil-, Hilfs- und Arzneimittelversorgung betrachtet werden (so
BSG Urteil vom 17. April 1996 – 3RK 19/95, SozR3 – 2500 § 19 Nr. 2 mwN). Er verordnet dem Versicherten ein
bestimmtes Hilfsmittel, welches er bei der diagnostizierten Krankheit als medizinisch notwenig erachtet. Bei
Ausstellung dieser Verordnung handelt er Kraft der ihm durch das Kassenarztrecht verliehenen Kompetenzen als
Vertreter der Krankenkasse. Er gibt somit mit Wirkung für und gegen diese eine Willenserklärung ab (BSG, 17. April
1996 aaO, vgl. auch LSG Niedersachsen-Bremen, 8. Dezember 2003 – L 4 B 44/03 KR –, Breithaupt 2004, Seite 98
Leitsatz 1).
Die Gewährung als Sachleistung entbindet den Versicherten von der Kontrolle der therapeutischen Leistung und der
Prüfung ihrer Abrechnung; gleichzeitig wird ihm die Sorge um seine finanzielle Liquidität im Krankheitsfall genommen,
weil auch die Vorfinanzierung entfällt. Dafür ist er allerdings gehalten, nur zugelassene Leistungserbringer in Anspruch
zu nehmen und sich auf den für die gesetzliche Krankenversicherung festgelegten Leistungskatalog zu beschränken.
Das Risiko der Überschreitung von Leistungsbeschränkungen trägt im Rahmen der Sachleistungsgewährung aber
nicht er, sondern der Leistungserbringer, der dafür in Regress genommen werden kann (BSG, Urteil vom 28. März
2000 – B1 KR 21/99 R –, BSGE 86, 66 ff.). Dem Versicherten (und damit auch dem Kläger) kann deshalb im Regelfall
nicht zugemutet werden, die Entscheidung des Vertragsarztes in Zweifel zu ziehen und z. B. die Notwendigkeit eines
verordneten Hilfsmittels selbst zu überprüfen.
Der Kläger durfte zunächst davon ausgehen, dass die Schulterbewegungsschiene für ihn zum Leistungsumfang der
gesetzlichen Krankenversicherung gehört. Hier liegt die kassenärztliche Verordnung des behandelnden und
operierenden Orthopäden vor und er hat durch diesen den Eindruck vermittelt bekommen, die Bewegungsschiene sei
für ihn erforderlich und Bestandteil der -versicherten- Krankenbehandlung. Wegen der Folgen der Operation,
insbesondere auch der riesigen Wundflächen, musste er keinerlei Zweifel an der medizinischen Notwendigkeit des
Einsatzes der Bewegungsschiene habe. Aus seiner Sicht war diese zwingend medizinisch erforderlich.
Erst mit Erhalt des Ablehnungsbescheides konnte und musste er diese Notwendigkeit in Zweifel ziehen. Er hat
umgehend die Folgen bezogen und die Schiene wieder zurückgegeben. Während der gesamten Mietdauer war er
deshalb im Bewusstsein, eine Sachleistung der gesetzlichen Krankenversicherung erhalten zu haben. Er muss
deshalb im Ergebnis auch so gestellt werden, als sei das der Fall gewesen. Es handelt sich vorliegend deshalb nicht
um einen Kostenerstattungsanspruch gemäß § 13 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Auf dessen
Voraussetzungen kommt es deshalb nicht an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz. Die Berufung war wegen § 144 Abs. 1 Nr. 1 iVm §
144 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG zuzulassen.