Urteil des SozG Lüneburg vom 30.06.2010

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Sozialgericht Lüneburg
Urteil vom 30.06.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 1 R 532/06
1.) Der Bescheid der Beklagten vom 05.05.2006 wird abgeändert und der Widerspruchsbescheid vom 21.11.2006
aufgehoben. 2.) Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin für die Monate Januar/Februar 2006 die Vollrente zu
gewähren. 3.) Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die rückwirkende Absenkung der Altersrente aufgrund eines Hin-zuverdienstes.
Mit Bescheid vom 11. Mai 2005 gewährte die Beklagte der am 9. März 1943 geborenen Klägerin mit Wirkung ab dem
1. Juli 2005 eine Altersrente wegen Vollendung des 60. Le-bensjahres und Schwerbehinderung. Im Januar 2006 nahm
die Klägerin eine Teilzeitbe-schäftigung im G. in Munster auf. In der Arbeitgeberbescheinigung vom 14. März 2006
wur-de ausgeführt, dass die Klägerin für 33 Stunden/Monat als Kranken-schwester und Aushilfs-kraft mit einem
Monatslohn i. H. v. 355,95 EUR beschäftigt sei (Bl. 24 der Akte der Beklagte (= RA)). Mit dem Schreiben vom 17.
März 2006 wies die Beklagte die Klägerin darauf hin, dass die aktuelle Hinzuverdienstgrenze für die Vollrente i. H. v.
350,00 EUR überschritten sei. Mit dem Bescheid vom 27. März 2006 stellte die Beklagte die Rente neu fest und
zahlte ab dem 1. April 2006 nur noch eine Teilrente i. H. v. 2/3 der Vollrente (487,47 EUR). Außerdem wurde die
Klägerin mit Schreiben vom 29. März 2006 dahin-gehend angehört, dass eine entsprechende Bescheidsaufhebung
auch mit Wirkung zum 1. Januar 2006 beabsichtigt sei (Bl. 43 RA).
Mit dem gegen den Bescheid vom 27. März 2006 erhobenen Widerspruch machte die Klä-gerin geltend, dass sie ab
März 2006 nur noch unter 350.- EUR pro Monat verdienen würde. Die übersandte Verdienstbescheinigung wies in der
Tat für März 2006 nur noch einen Be-trag i. H. v. 344,65 EUR aus (Bl. 49 RA). In einer weiteren Bescheinigung vom
27. April 2006 bestätigte der Arbeitgeber der Klägerin, dass der Verdienst auch weiterhin nur 344,65 EUR betragen
würde. Mit dem Bescheid vom 5. Mai 2006 zahlte die Beklagte die Rente ab dem 1. März 2006 wieder i. H. der
Vollrente. Für die Zeit vom 1. Januar 2006 bis zum 28. Februar 2006 hob die Beklagte hingegen den Bescheid über
die Gewährung der Vollrente gem. § 48 Abs. 1 Nr. 2 - 4 SGB X auf und stellte eine Überzahlung i. H. v. 482,48 EUR
fest. Zur Begrün-dung wurde ausgeführt, dass die Einkünfte im Januar/Februar 2006 zur Überschreitung der
Hinzuverdienstgrenze geführt hätten und daher in diesem Zeitraum nur ein Anspruch auf eine Rente i. H. v. 2/3 der
Vollrente bestanden habe. Auf die gesetzliche Überschreitungs-möglichkeit könne sich die Klägerin nicht berufen, weil
sie im Dezember 2005 keine Einkünf-te gehabt habe und daher ein Vergleich mit den Einkünften aus Januar 2006
nicht möglich sei. Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 21. November
2006 zurückgewiesen.
Hiergegen hat die Klägerin am 6. Dezember 2006 Klage erhoben. Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 5. Mai 2006 abzuändern und den Widerspruchsbescheid vom 21. November 2006
aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Entscheidung lagen die Gerichtsakten und die Akten der Beklagten zugrunde. Auf ihren Inhalt wird Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und waren aufzuheben, soweit der
Klägerin für die Monate Januar und Februar 2006 nur eine Teilrente i. H. v. 2/3 der Vollrente gezahlt worden war. Sie
hatte vielmehr auch in diesem Zeitraum einen Anspruch auf Gewährung der Vollrente.
Die Beklagte hat die teilweise Bescheidsaufhebung auf § 48 Abs. 1 SGB X gestützt. Danach kann ein Verwaltungsakt
grundsätzlich nur dann aufgehoben werden, wenn nach dessen Er-lass eine wesentliche Änderung in den
tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen einge-treten ist (S. 1). Zwar ist in einer rentenschädlichen Überschreitung
einer Hinzuverdienst-grenze grundsätzlich eine wesentliche Änderung i. d. S. zu erblicken (vgl. BSG, Urt. vom 26.
Juni 2008 - B 13 R 119/07 R). Im vorliegenden Fall hat die Klägerin jedoch die Hinzu-verdienstgrenze nicht in
rentenschädlicher Weise überschritten. Bei der nach § 34 Abs. 2 S. 2 SGB VI vorzunehmenden Prüfung, ob erzieltes
Arbeitsentgelt die maßgebliche Hinzu-verdienstgrenzen übersteigt, bleibt nach Halbsatz 2 der Vorschrift "ein
zweimaliges Über-schreiten" um jeweils einen Betrag bis zur Höhe der Hinzuverdienstgrenze nach Abs. 3" im Laufe
eines jeden Kalenderjahres" außer Betracht. Der Rentenanspruch bleibt also beste-hen, wenn zweimal im Kalenderjahr
die maßgebliche Hinzuverdienstgrenze bis zum Doppel-ten dieses Betrags überschritten wird (sog. privilegiertes
Überschreiten). Dabei spielt der Grund für den Höherverdienst und die damit einhergehende Überschreitung der
Hinzuver-dienstgrenze keine Rolle. Ein Überschreiten ist durch jede Art von Entgelt zulässig. Es ge-nügt daher die
Überprüfung, ob der Versicherte die zulässigen Grenzen eingehalten hat, ohne zusätzlich klären zu müssen, worauf
der jeweilige Mehrverdienst beruht (vgl. BSG a. a. O.; m. w. N.).
Zwar hat das BSG in der genannten Entscheidung für die Feststellung einer rentenschädli-chen oder privilegierten
Überschreitung grundsätzlich eine Orientierung an dem sog. Vormo-natsprinzip für zulässig erklärt. Dies wurde jedoch
damit begründet, dass für jeden Kalen-dermonat feststehen muss, welche Hinzuverdienstgrenze die maßgebende ist.
Im vorliegen-den Fall wurde diesen Anforderungen auch ohne die Anwendung des Vormonatsprinzips in ausreichende
Weise genüge getan, da jeweils (nur) für die Monate Januar und Februar 2005 die Hinzuverdienstgrenze von 350.-
EUR - wenn auch geringfügig - überschritten war. Die Auffassung, dass ein privilegiertes Überschreiten der
Hinzuverdienstgrenze in den ersten beiden Monaten der Erzielung von einem möglicherweise rentenschädlichen
Hinzuverdienst nicht möglich sei, findet im Gesetz keine Stütze. Nach dem Gesetzeswortlaut wird nämlich das
"Überschreiten" nicht zu einem Vormonatslohn, sondern auf die in § 34 Abs. 3 SGB VI genannte absolute Grenze in
Beziehung gesetzt (im konkreten Fall: 350.- EUR). Die Kammer würde es mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3
Abs. 1 GG) nicht für vereinbar halten, wenn je nach (zufälliger) Verteilung der Monate ein innerhalb eines
Kalenderjahres liegen-des zweimaliges Überschreiten der Hinzuverdienstgrenze bis zur Höhe der Hinzuverdienst-
grenze außer Betracht bleiben kann, andererseits jedoch ein marginales Überschreiten zu Beginn der Beschäftigung
bereits zu einem Wechsel der Vollrente zur Teilrente führt. Dies mag folgendes - an der der Klägerin gewährten
Vollrente i. H. v. 723,71 EUR angelehntes - Rechenbeispiel verdeutlichen: Wenn man der Argumentation der
Beklagten folgt, würde bereits die geringfügige Überschreitung der Hinzuverdienstgrenze von nur 1,00 EUR in den
ersten beiden Monaten der Beschäftigung dazu führen, dass die monatliche Vollrente von 723,71 EUR auf eine
Teilrente von 482,47 EUR abgesenkt würde. Dem Betroffenen würden nur 1666,94 EUR verbleiben (2 x 482,47 EUR
Rente + 2 x 351,00 EUR Hinzuverdienst). Demgegenüber hätte ein zweimaliges Überschreiten bis zur zulässigen
Höchstgrenze in anderen Monaten der Beschäftigung zu einem wesentlich höheren Gesamteinkommen von 2847,47
EUR geführt (2 x 723,71 EUR Rente + 2 x 700,00 EUR Hinzuverdienst (bis zur Grenze des privilegierten Über-
schreitens)). Da im Gesetz nicht bestimmt ist, auf welche Monate innerhalb eines Kalender-jahres der privilegierte
Hinzuverdienst zu entfallen hat, kann die von der Beklagten vertrete-ne Auffassung nicht überzeugen. Sie führt zu
willkürlichen und durch sachliche Gründe nicht gerechtfertigten Ergebnissen. Außerdem ist zu beachten, dass gem. §
2 Abs. 2 SGB I bei der Auslegung der Vorschriften sicherzustellen ist, dass die sozialen Rechte möglichst weit-
gehend verwirklicht werden. Gerade dies wäre aber, wenn man die Auffassung der Beklag-ten zugrunde legt, nicht der
Fall. Das BSG hat im Übrigen in der genannten Entscheidung die hier zu entscheidende Frage ausdrücklich offen
gelassen (vgl. BSG, Urt. vom 26. Juni 2008 - B 13 R 119/07 R, Rz. 34).
Selbst wenn man jedoch die Auffassung der Beklagten für zutreffend hält und von einer ren-tenschädlichen
Überschreitung der Hinzuverdienstgrenze und damit von einer wesentlichen Änderung i. S. des § 48 SGB X ausgeht,
wäre äußerst zweifelhaft, ob die Voraussetzungen für eine Aufhebung des Rentenbescheids zum Zeitpunkt der
Änderung der Verhältnisse vor-gelegen haben. Denn die in § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X geregelte Aufhebung mit Wirkung
für die Vergangenheit ist einem - wenn auch eingeschränkten ("soll") - Ermessen unterworfen. Dies bedeutet, dass der
Leistungsträger den Verwaltungsakt zwar i. d. R. rückwirkend auf-heben muss, er jedoch in atypischen Fällen nach
seinem Ermessen hiervon abweichen kann. Ein atypischer Fall liegt vor, wenn der Einzelfall aufgrund seiner
besonderen Um-stände von dem Regelfall, der die Tatbestände einer rückwirkenden Aufhebung rechtfertigt, signifikant
abweicht. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob sich die Atypik aus einem mit-wirkenden Fehlverhalten des
Leistungsträgers ergibt (vgl. hierzu Steinwedel in Kasseler Kommentar, § 48 SGB X, Rz. 36 ff.). Ein solches
Fehlverhalten wäre nach Auffassung der Kammer auch im vorliegenden Fall anzunehmen, da die Klägerin durch die
Beklagte über die aus ihrer Auffassung resultierenden rechtlichen Konsequenzen nicht ausreichend infor-miert wurde.
Denn den Hinweisen der Beklagten war lediglich zu entnehmen, dass "die maßgebende Hinzuverdienstgrenze zweimal
im Laufe eines Kalenderjahres um einen Be-trag bis zur Höhe der für einen Monat geltenden Hinzuverdienstgrenze
überschritten werden darf" (vgl. z. B. Schreiben vom 17. März 2006 (Bl. 26 Rs. VA oder Bl. 41 Rs. VA)). Ein Hin-weis
auf das Vormonatsprinzip bzw. den Umstand, dass dies für die ersten Monate der Be-schäftigung nicht gelten soll, ist
jedoch nicht erfolgt. Aufgrund der Hinweise der Beklagten konnte daher die Klägerin keinesfalls erkennen, dass sie
sich durch die Überschreitung der Hinzuverdienstgrenze in den Monaten Januar und Februar 2006 nicht rechtskonform
verhält. Sie konnte deswegen auch die Lohngestaltung nicht entsprechend anpassen. Da eine Er-messensausübung
hier nicht erkennbar ist, hätte die Entscheidung der Beklagten auch aus diesem Grund keinen Bestand haben können.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Berufung zuzulassen, sind nicht ersichtlich (§ 144 SGG).
Rechtsmittelbelehrung:
Dieses Urteil kann nicht mit der Berufung angefochten werden, weil sie gesetzlich ausge-schlossen und vom
Sozialgericht nicht zugelassen worden ist.
Die Nichtzulassung der Berufung kann mit der Beschwerde angefochten werden.
Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Landessozi-algericht Niedersachsen-
Bremen, Georg-Wilhelm-Str. 1, 29223 Celle, oder bei der Zweigstelle des Landessozialgerichts Niedersachsen-
Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen, schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der
Geschäftsstelle einzulegen.
Die Beschwerde soll das angefochtene Urteil bezeichnen und die zur Begründung dienen-den Tatsachen und
Beweismittel angeben.
Die Beschwerde kann nur darauf gestützt werden, dass
1.) die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, 2.) das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts,
des Bundessozialgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesver-
fassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder 3.) ein der Beurteilung des Berufungsgerichts
unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
Auf Antrag kann vom Sozialgericht durch Beschluss die Revision zum Bundessozialgericht zugelassen werden, wenn
der Gegner schriftlich zustimmt. Der Antrag auf Zulassung der Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung
des Urteils bei dem Sozialgericht Lüne-burg, Lessingstraße 1, 21335 Lüneburg, schriftlich zu stellen. Die Zustimmung
des Gegners ist dem Antrag beizufügen. Ist das Urteil im Ausland zuzustellen, so gilt anstelle der oben genannten
Monatsfrist eine Frist von drei Monaten.
Lehnt das Sozialgericht den Antrag auf Zulassung der Revision durch Beschluss ab, so be-ginnt mit der Zustellung
dieser Entscheidung der Lauf der Frist für die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung von neuem, sofern
der Antrag auf Zulassung der Revision in der gesetzlichen Form und Frist gestellt und die Zustimmungserklärung des
Gegners bei-gefügt war.
D.