Urteil des SozG Lüneburg vom 04.08.2009

SozG Lüneburg: angemessenheit der kosten, aufschiebende wirkung, schutz der menschenwürde, heizung, rechtskräftiges urteil, juristische person, vorläufiger rechtsschutz, hauptsache, wohnungsmarkt

Sozialgericht Lüneburg
Beschluss vom 04.08.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 78 AS 1306/09 ER
1. Der Beschluss der Kammer vom 4. August 2009 (S 78 AS 969/09 ER) wird aufgehoben. 2. Die aufschiebende
Wirkung des Widerspruchs sowie der Klage 28 AS 1326/09 gegen den Bescheid vom 15. Juni 2009 in der Fassung
des Widerspruchsbescheides vom 10. August 2009 wird angeordnet. 3. Die Antragsgegnerin wird im Wege der
einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab 1. Juli 2009 vorläufig - vorbehaltlich abweichender
Entscheidung im Verfahren der Hauptsache - SGB II-Leistungen unter Berücksichtigung von Kosten der Unterkunft in
Höhe von 490,76 EUR zu zahlen, u.zw. bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens der Hauptsache. 4. Die
notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin trägt die Antragsgegnerin. 5. Der Antragstellerin wird für
das einstweilige Rechtsschutzverfahren ratenfreie Prozesskostenhilfe ab Antragstellung bewilligt und ihr Rechtsanwalt
Joachim Krempin, Lüneburg, beigeordnet.
Gründe:
I.
Die E. geb., geschiedene Antragstellerin begehrt nach Ergehen einer einstweiligen Anordnung zu ihren Gunsten
(Beschluss vom 4. August 2009 zum Az. S 78 AS 969/09 ER) sowie eines danach erlassenen
Widerspruchsbescheides vom 10. August 2009 im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes weiterhin die Verpflichtung
der Antragsgegnerin, höhere Kosten der Unterkunft zu gewähren als im jetzt klageweise (28 AS 1326/09)
angefochtenen Bescheid vom 15. Juni 2009 - in der Fassung des Widerspruchsbescheides - festgelegt.
Sie steht seit Januar 2009 - nach Verbrauch ihres Vermögens - bei der Antragsgegnerin im Leistungsbezug, wohnt -
nach Trennung vom ihrem Ehemann - seit 1997 in der F. in G. in einer 57 qm-Wohnung (Kaltmiete 355,29 bei
Nebenkosten von 98,80 inkl. Stellplatz), die die Antragsgegnerin für überteuert hält, so dass sie eine
Senkungsaufforderung vom Januar 2009 zum 30. Juni 2009 erhielt. Sie wendet sich mit Widerspruch und Klage (28
AS 1326/09) gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 15. Juni 2009, demgemäß Kosten für Unterkunft und
Heizung in der Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 2009 nur noch in einer Höhe von 361,21 EUR berücksichtigt werden
könnten.
Zur Begründung ihres am 2. September 2009 gestellten Antrages auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vertritt
die Antragstellerin weiterhin die Auffassung, zu den von der Antragsgegnerin als angemessen bezeichneten
Unterkunftskosten sei in Bleckede und Umgebung keine Wohnung zu finden, da gerade kleinere Wohnungen extrem
teuer seien. Unter Abzug eines Warmwasserabzugs von 6,33 EUR habe sie tatsächliche Unterkunftskosten von
490,76 EUR. Die Antragstellerin beantragt,
die Antragsgegnerin zu verpflichten, der Antragstellerin Leistungen ab dem 1.07.2009 nach dem SGB II unter
Berücksichtigung von Kosten der Unterkunft in Höhe von 490,76, hilfsweise in Höhe von 406,30 EUR zu zahlen,
Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag abzulehnen.
Sie ist der Auffassung, der Antrag sei unzulässig, da bereits im vorangegangenen Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes bindend "über diesen Streitgegenstand" entschieden worden sei. Nach dem Tenor des Beschlusses
sei sie (nur) verpflichtet, bis zur endgültigen Entscheidung über den Widerspruch einen Betrag i.H.v. 490,76 EUR für
die Kosten der Unterkunft und Heizung zu gewähren. Über den Widerspruch sei mit Widerspruchsbescheid vom 10.
August 2009 entschieden worden, so dass damit dem bindenden Beschluss Rechnung getragen sei. Im Übrigen
bestehe nach § 22 SGB II kein Anspruch auf höhere Kosten der Unterkunft und Heizung. Gemäß einer umfassenden
Ermittlung und Auswertung des örtlichen Wohnungsmarktes durch den Landkreis H. als Grundsicherungsträger sei
hier als Orientierung davon auszugehen, dass die Tabellenwerte der rechten Spalte der Wohngeldtabelle (Geltung bis
1.1.2009) entsprechend heranzuziehen seien. Hiernach sei nur eine Miete von 325,- EUR als angemessen zu
betrachten. Auch bei Einbeziehung der ab 1.1.2009 geltenden Wohngeldtabelle, die einen Wert von 330,- EUR
ausweise, könnten keine Leistungen in voller Höhe gewährt werden. Der Antragstellerin sei es zuzumuten, im Umkreis
von Bleckede umzuziehen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten S
78 AS 969/09 ER sowie S 78 AS 1306/09 ER und die Verwaltungsakten der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gem. § 86 b Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist zulässig und auch
begründet.
1. Angesichts der Auffassung der Antragsgegnerin, es sei bereits durch den Beschluss der Kammer vom 4. August
2009 bindend über den "Streitgegenstand" entschieden worden, ist davon auszugehen, dass dieser Vollstreckungstitel
(vgl. § 199 Abs. 1 Nr. 2 SGG) jedenfalls für die tenorierte Zeit "ab 1. Juli 2009" bis zur "endgültigen Entscheidung über
den Widerspruch" galt, mithin bis zum 10. August 2009. Da die Monatsfrist des § 929 Abs. 2 ZPO bei Antragstellung
am 2. September 2009 noch nicht verstrichen war, kam eine Vollstreckung aus dem vorgenannten Beschluss
grundsätzlich noch in Betracht: Nach der gemäß 86b Abs. 2 Satz 4 SGG entsprechend anzuwendenden Vorschrift
des § 929 Abs. 2 ZPO ist die Vollziehung der einstweiligen Anordnung nur dann unstatthaft, wenn seit dem Tage, an
dem die Anordnung dem begünstigten Beteiligten zugestellt ist (hier: 7.08.2009), ein Monat verstrichen ist. Allerdings
hat die anwaltlich vertretene Antragstellerin einen Vollstreckungsantrag hier ausdrücklich nicht gestellt (vgl. S. 6 der
Antragsschrift vom 1.09.2009), sondern "ein neues einstweiliges Rechtsschutzverfahren anhängig gemacht". Damit
ist die Vollstreckung aus dem vorgenannten Beschluss der Kammer inzwischen - im Zeitpunkt der gerichtlichen
Entscheidung - unstatthaft, der entsprechende Beschluss aufzuheben. Die sog. "Vollziehungsfrist" ist von Amts
wegen zu beachten; sie kann weder abgekürzt noch verlängert werden. Vgl. dazu Sächs. LSG v. 24.1.2008 - L 3 B
610/07 AS ER -: "Der Anwendbarkeit von § 929 Abs. 2 ZPO steht nicht entgegen, dass sich die Antragsteller
möglicherweise darauf verlassen haben, der Antragsgegner werde sich gesetzestreu verhalten, und sie deshalb von
Vollstreckungsmaßnahmen abgesehen haben. Zwar kann sich der Bürger grundsätzlich darauf verlassen, dass eine
juristische Person des öffentlichen Rechts, zu der auch ein Landkreis zählt, sich wegen der in Artikel 20 Abs. 3 des
Grundgesetzes verankerten Bindung an Gesetz und Recht auch ohne Vollstreckungsdruck gesetzestreu verhält (vgl.
diesbezüglich zur Frage einer etwaigen Subsidiarität einer Feststellungsklage gegenüber einer Leistungsklage: BSG,
Urteile vom 26. Mai 1959 - 3 RK 36/56 - BSGE 10, 21 [24] und vom 26. Januar 2000 - B 6 KA 47/98 R - SozR 3-2500
§ 311 Nr. 6 S. 42; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz [8. Aufl., 2005], § 55 RdNr. 19b,
m.w.N ... A.A.: Ulmer, in: Hennig: Sozialgerichtsgesetz [13. Erg.-Lfg., August 2007], § 55 RdNr. 10 und 11, m.w.N.).
Dieser Erwartung hat der Antragsgegner nicht entsprochen. Er leistete ohne Rechtsgrund den einstweiligen
Anordnungen nicht Folge. Der Antragsgegner hätte die im Beschluss konkret bezeichneten Geldleistungen
entsprechend den Vorgaben des Sozialgerichtes vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung an die
Antragsteller zahlen müssen. Die einstweiligen Anordnungen waren gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 2 SGG sofort
vollstreckbar."
Daneben hat sich hier die Sach- und Rechtslage, haben sich die zugrunde liegenden Umstände seit dem Beschluss
der Kammer vom 4. August 2009 verändert: Die Antragsgegnerin hat den Anspruch der Antragstellerin und ihren
Ausgangsbescheid in ihrem Widerspruchsbescheid vom 10. August 2009 nochmals überprüft und ist - in Kenntnis des
Beschlusses der Kammer vom 4. August 2009 - zu einem für die Antragstellerin weiterhin negativen Ergebnis gelangt.
Damit besteht gerichtlich Anlass, der neuen Sach- und Rechtslage im Rahmen des erneut eingeleiteten Verfahrens
auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes effektiv (Art. 19 Abs. 4 GG) Rechnung zu tragen. Vgl. auch VG Ansbach,
Urt. v. 2.2.2005 - AN 15 K 04.02959 -: "Sollte es sich um einen Antrag auf Vollstreckung gegen die Beklagte handeln,
ist zwar eine einstweilige Anordnung im Sinne von § 123 VwGO der Rechtskraft und der Vollstreckung fähig (§ 168
Abs. 1 Nr. 2 VwGO) so dass, wenn die Behörde der Anordnung nicht nachkommt, ein Zwangsgeld nach § 172 VwGO
angedroht, nach fruchtlosem Fristablauf festgesetzt und von Amts wegen vollstreckt werden kann. Ein solcher Antrag
auf Vollstreckung wäre aber im vorliegenden Fall aussichtslos, unabhängig ob die Beklagte ihrer Verpflichtung aus der
einstweiligen Anordnung nachgekommen ist oder nicht. Denn nicht anders als ein rechtskräftiges Urteil gilt die
Rechtskraft einstweiligen Anordnungen nur, soweit sich die Sach- und Rechtslage anschließend nicht wesentlich
geändert hat, wie sich aus der entsprechenden Anwendbarkeit des § 927 ZPO ergibt (vgl. BayVGH FEVS 31, 11;
HessVGH DVBl 1996, 1319). Im vorliegenden Fall hat sich jedoch eine wesentliche Änderung der Sachlage deshalb
ergeben, weil die Beklagte im Anschluss an die einstweilige Anordnung erneut die Voraussetzungen für eine
Sozialhilfegewährung überprüft, diese aber mit Bescheid vom 19. März 2004 in Bezug auf die Klägerin abgelehnt hat."
Somit ist hier der ergangene Kammerbeschluss vom 4. August 2009 - da obsolet geworden - auch wegen veränderter
Umstände aufzuheben. Weiterhin ist wegen wesentlicher Änderung der Sach- und Rechtslage die aufschiebende
Wirkung des Widerspruchs und der erhobenen Klage anzuordnen (§ 86 b Abs. 1 SGG). Zugleich ist der Erlass einer
einstweiligen Anordnung weiterhin und gerade im Hinblick auf den ergangenen Widerspruchsbescheid "nötig" iSv § 86
b Abs. 2 SGG, um das Verfahren der Hauptsache - die erhobene Klage 28 AS 1326/09 - mit Blick auf einen effektiven
Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) weiterhin offen zu halten. Vgl. Hess VGH Beschl. v. 9.11.1995 - 6 TG 2992/95 -:
"Der Vorschrift kann - berücksichtigt man ihren Sinn und Zweck sowie die Interessenlage - entnommen werden, daß
wegen veränderter Umstände in einem neuen Eilverfahren die Möglichkeit eröffnet werden soll zu erreichen, daß
alsbald nach der Änderung der Umstände die rechtliche Situation der neuen Lage angepaßt wird. Soll das
Anordnungsverfahren das Hauptsacheverfahren durch den Erlaß sichernder oder regelnder Anordnungen
entscheidungsfähig halten, so muß es grundsätzlich zulässig sein, Änderungen der Rechtsprechung bei einer
erneuten Antragstellung zu berücksichtigen, wenn diese Änderungen sich auf die Entscheidung des bevorstehenden
Hauptsacheverfahrens auswirken werden."
Diese Anpassung der rechtlichen Situation an die "neue Lage" erfolgt hier in der Weise, wie das dem Tenor zu
entnehmen ist.
2. Die aufschiebende Wirkung der erhobenen Klage 28 AS 1326/09 ist anzuordnen, weil erhebliche rechtliche Zweifel
am angefochtenen Bescheid vom 15. Juni 2009 idF des Widerspruchsbescheides bestehen, demgemäß Kosten für
Unterkunft und Heizung in der Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 2009 nur noch in einer Höhe von 361,21 EUR
berücksichtigt werden könnten. Zur Begründung wird auf die Gründe des - aufgehobenen - Beschlusses der Kammer
vom 4. August 2009 (S 78 AS 969/09 ER) Bezug genommen, der den Beteiligten bekannt ist. Daneben wird auf
nachfolgende Gründe verwiesen.
3. Auch die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen derzeit - im Zeitpunkt der
gerichtlichen Entscheidung jetzt im September 2009 - vor: Nach § 86b Abs.2 S.2 SGG sind derartige Anordnungen
u.a. zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine
solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile "nötig" erscheint. Die tatsächlichen Voraussetzungen des
Anordnungsanspruchs – die Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist – sowie
des Anordnungsgrunds – die Eilbedürftigkeit / Dringlichkeit der begehrten vorläufigen Regelung – sind glaubhaft zu
machen (§ 86 Abs.2 S.4 SGG, § 920 Abs.3 Zivilprozessordnung - ZPO -). Das ist der Antragstellerin hier gelungen.
Angesichts der aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG iVm Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG abzuleitenden Verantwortung und
Pflicht des Staates als einer Solidargemeinschaft, die materiellen Bedingungen einer (tatsächlich) menschenwürdigen
Existenz zu sichern (Bachof, VVDStRL 12, 37/42; Dürig, AöR 81, 117/131 ff., Maihofer, Rechtsstaat und menschliche
Würde, S. 17 ff.; Neumann, NVwZ 1995, 426. ff.; vgl. Sächs. LSG, Beschluss v. 22.4.2008 - L 2 B 111/08 AS-ER -,
NZS 2009, S. 458/459 zu 1 b), ist es im grundrechtlichen Spannungsfeld im Lichte der Grundrechte nicht hinnehmbar,
wenn einem Hilfsbedürftigen das soziokulturelle Minimum vorenthalten wird.
In sozialgerichtlichen Verfahren ist einem Antragsteller das Abwarten des Hauptsacheverfahrens (der Ausgang des
Klageverfahrens) daher regelmäßig unzumutbar, so dass es in aller Regel nur auf eine materiell-rechtliche Beurteilung
der Sach- und Rechtslage ankommt. Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im
Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. In deren Rahmen ist unter
Berücksichtigung der Grundrechte (Art. 1 GG, Menschenwürde) und sämtlicher Belange des Rechtsschutzsuchenden
zu entscheiden. Jedenfalls eine Versagung und Abweisung des gerichtlich erstrebten vorläufigen Rechtsschutzes
hätte sich stets auf eine eingehende Aufklärung der Sach- und Rechtslage zu stützen, die in vielen Fällen jedoch
nicht möglich ist. Vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 25.2.2009 - 1 BvR 120/09 -:
"Art. 19 Abs. 4 GG verlangt auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn
schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die
Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69 (74); 94, 166 (216)). Die Gerichte
sind, wenn sie ihre Entscheidung nicht an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen, sondern an den
Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientieren, in solchen Fällen gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gehalten, die
Versagung vorläufigen Rechtsschutzes auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen. Ist dem
Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand
einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers
umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des
Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine
Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig
andauert, haben die Gerichte zu verhindern (vgl. BVerfGK 5, 237 (242 f.))."
Hier liegt es so, dass die Antragstellerin - wie schon im Verfahren S 78 AS 969/09 ER - einen Anordnungsanspruch
wie auch Anordnungsgrund glaubhaft gemacht hat. Im Übrigen führt hier wiederum auch eine Folgenabwägung zum
Erfolg des Antrags.
4. Gemäß § 22 Abs.1 S.1 SGB II werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen
Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Die Faktoren für die Angemessenheit (Wohnfläche,
Wohnstandard, regionales Mietzinsniveau) unterliegen in vollem Umfange der gerichtlichen Kontrolle, wobei die reale
Lage auf dem örtlichen Wohnungsmarkt ebenso zu berücksichtigen ist wie der Wohnstandard. Vgl. SG Bremen v.
17.07.2009 - S 26 AS 8/09 -: "Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe
der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Die Angemessenheit des Mietpreises ist
unter Berücksichtigung der örtlichen Besonderheiten konkret zu ermitteln (so bereits BSG, Urt. v. 07.11.2006, SozR
4-4200 § 22 Nr 3, RdNr 17). Dabei muss der Grundsicherungsträger zur Feststellung der Beschaffenheit des örtlichen
Mietwohnungsmarktes nicht zwingend auf einen qualifizierten oder einfachen Mietspiegel im Sinne der §§ 558c und
558d BGB abstellen, der in der Stadtgemeinde I. ohnehin nicht besteht. Die vom Grundsicherungsträger gewählte
Datengrundlage muss lediglich auf einem schlüssigen Konzept beruhen, das eine hinreichende Gewähr dafür bietet,
die aktuellen Verhältnisse des örtlichen Mietwohnungsmarktes wiederzugeben (BSG, Urt. v. 16.08.2006 - B 14/7b AS
44/06 R -).
Entscheidend ist die Angemessenheit tatsächlicher Aufwendungen im Ergebnis (Produkttheorie), wobei auf das
Bedarfsdeckungsprinzip abzustellen ist. Auch die Zumutbarkeit von - wie hier - aufgegebenen
Kostensenkungsbemühungen durch einen Umzug ist bei "hoher affektiver Bindung an eine bestimmte Unterkunft"
einschließlich des Alters der Antragstellerin zu berücksichtigen (Berlit in LPK-SGB II, § 22 Rdn. 59), wobei ggf. ein
Missverhältnis der seitens der Antragsgegnerin zu übernehmenden (oftmals hohen) Umzugskosten einerseits und der
Unterkunftsmehrkosten andererseits einzubeziehen ist und so u.U. eine Überschreitung der Regeldauer gem. § 22
Abs. 1 S. 3 SGB II durchaus gerechtfertigt sein kann.
Hier liegt es - soweit überschaubar - zudem auch so, dass nach der konkreten Situation auf dem regionalen
Wohnungsmarkt die Möglichkeit, die Kosten durch einen Umzug in eine kostenangemessene Unterkunft tatsächlich
zu senken, offenbar mangels kostenangemessener Unterkunftsalternativen im Raum J. derzeit gar nicht besteht (vgl.
Berlit in LPK-SGB II, § 22 Rdn. 61). Unwidersprochen hat die Antragstellerin dazu vorgetragen, dass es nach
"immobilienscout" aktuell überhaupt keine nach Zuschnitt und Kosten anmietbare Wohnung im J. Gebiet des
Landkreises gebe. Die Antragstellerin hat dazu eidesstattlich versichert, dass sie sich umfangreich, aber ergebnislos
um eine andere Wohnung in der Größe bis 50 qm bemüht habe. Dabei sei ihr bei den "verschwindend wenigen"
Wohnungen, die überhaupt in Betracht gekommen seien, immer wieder gesagt worden, grundsätzlich werde nicht an
SGB II-Empfänger oder aber nicht an eine alleinstehende ältere Dame vermietet (vgl. dazu die Eidesstattliche
Versicherung der Antragstellerin, Bl. 7 der GA). Dem ist die Antragsgegnerin nicht substantiiert entgegen getreten.
Die Behauptung der Antragsgegnerin, der für die Wohnung gezahlte Mietzins sei unangemessen hoch, entbehrt nach
dem derzeitigen Stand der Dinge einer tragfähigen Grundlage. Denn die Ermittlung und Auswertung des örtlichen
Wohnungsmarktes im Landkreis H., auf die sich die Antragsgegnerin bezieht (S. 2 d. Schr. v. 13.7.2009), stammt aus
dem Jahre 2007, ist überholt und heute nicht mehr verwertbar. Auf diese Erhebung kann sich die Antragsgegnerin für
die Frage der Angemessenheit mithin nicht mehr beziehen. Vgl. dazu das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg v.
30.3.2009 - S 41 AS 1032/08 -: "Die Kammer sieht sich nicht in der Lage, anhand von konkreten Daten einen
marktüblichen Mietzins über den spezifischen Wohnungsmarkt in H. festzusetzen. Örtliche Mietspiegel oder andere
Mietdatenbanken existieren nicht. Die Kammer ist darüber hinaus der Ansicht, dass auch die Beklagte, nach deren
Ermittlungen sich ein übernahmefähiger Betrag von 425,- Euro zuzüglich Heizkosten ergibt, nicht in ausreichendem
Maße ihrer Verpflichtung nachgekommen ist, zum Zwecke der Ermittlung der abstrakt angemessenen Wohnkosten
ein schlüssiges Konzept einschließlich entsprechender Tabellen mit grundsicherungsrelevanten Daten zu erstellen.
Diese dürfen zwar auf einer schwächeren Datenbasis als ein Mietspiegel nach § 558 d Bürgerliches Gesetzbuch
(BGB) beruhen. Gleichwohl müssen sie den maßgeblichen örtlichen Wohnungsmarkt nachvollziehbar abbilden. Die
vom Grundsicherungsträger gewählte Datengrundlage muss auf einem schlüssigen Konzept beruhen, das eine
hinreichende Gewähr dafür bietet, die aktuellen Verhältnisse des örtlichen Wohnungsmarktes wiederzugeben. Das
kann unter anderem dann der Fall sein, wenn die Datenbasis auf mindestens 10 % des regional in Betracht zu
ziehenden Mietwohnungsbestandes beruht. Ferner müssen die Faktoren, die das Produkt "Mietpreis" bestimmen
(Standard, gegebenenfalls ausgedrückt in Jahr des ersten Bezuges bzw. der letzten Renovierung plus
Wohnungsgröße und Ausstattung) in die Auswertung eingeflossen sein (Bundessozialgericht, Urteil v. 18.6.2008, Az.:
B 14/7b AS 44/06 R). Erforderlich sind auch Angaben zu Wohnort, Wohnfläche, Netto- und Brutto-Kaltmieten,
Anmietungszeitpunkt (weil nicht Bestandsmieten, sondern nur Angebotsmieten das Mietpreisniveau darstellen
können, zu dem eine Wohnung zu beschaffen ist), Umfang der ausgewerteten Datenquellen im Vergleich zu der Zahl
der Absenkungsverlangen, Modalitäten des Erhebungsverfahrens. Wichtig ist es, dass die Datenerhebung vollständig
und fortlaufend zu erfolgen hat, und nicht nur sporadisch oder einmalig. Insoweit haben preisgünstigere
Wohnungsangebote in Zeitungsannoncen oder als Ergebnis einer Internetrecherche für die abstrakte
Angemessenheitsprüfung keine große Bedeutung. Denn der Leistungsbezieher kann nicht auf vereinzelte, nicht
repräsentative, atypisch günstige Wohnraumangebote verwiesen werden, weil jede Angemessenheitsgrenze bzw.
Durchschnittsbewertung mit sich bringt, dass Wohnungen mit geringeren Mieten vorhanden sein müssen. Der
Hilfebedürftige würde ansonsten unter einem ständigen Umzugsdruck stehen, sofern der Grundsicherungsträger ihm
eine preiswertere Wohnung nachweist. Im Hinblick darauf, dass der Hilfebedürftige einen Anspruch auf Deckung
seines Unterkunftsbedarfs hat (§ 19 Satz 1 SGB II), muss sich das Gericht gemäß § 128 Abs. 1 SGG die
Überzeugung bilden, dass unter Berücksichtigung der jeweiligen örtlichen Verhältnisse Wohnraum zu einem
bestimmten Mietzins in ausreichender Zahl vorhanden ist. Erst dann ist die konkrete Angemessenheitsprüfung
möglich, ob der Hilfebedürftige eine realistische Chance hat, seinen Unterkunftsbedarf innerhalb dieser
durchschnittlichen Mietspanne zu decken (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil v. 11.3.2008, Az.: L 7
AS 332/07).
Den genannten Anforderungen genügt die von der Beklagten genannte, vom Landkreis H. durchgeführte
Datenerhebung über Wohnungsangebote vom 1.1.2007 bis zum 30.6.2007 in diesem Landkreis nach Ansicht der
Kammer nicht."
Unter diesen Umständen kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Unterkunft der Antragstellerin "über
den als angemessen anerkannten Werten" liegt (S. 2 d. Schr. v. 7.7.2009), die im vorliegenden Verfahren zugrunde
gelegt werden könnten. Somit dürften die Aufwendungen vorläufig weiterhin in tatsächlicher Höhe zu decken sein (§
22 Abs. 1 S. 1 SGB II). Hierzu ist die Antragsgegnerin bis auf Weiteres verpflichtet.
Damit ist ein Anordnungsanspruch der Antragstellerin glaubhaft gemacht, zumal es Sache der Antragsgegnerin ist, die
Marktüblichkeit der von ihr behaupteten (niedrigeren) Kosten der Unterkunft und Heizung zu belegen. Nach dem
Gesetz ist die Antragsgegnerin verpflichtet, Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen
Aufwendungen zu erbringen - soweit diese angemessen sind (§ 22 Abs. 1 S. 1 SGB II). Die Faktoren für eine
Unangemessenheit hat sie glaubhaft zu machen. Das ist ihr bei Beachtung des gen. Urteils der 41. Kammer des SG
Lüneburg v. 30.3.2009 - S 41 AS 1032/08 - nicht gelungen. Auf bloße Pauschalen oder Annahmen jedoch kann sich
die Antragsgegnerin nicht stützen und die von ihr angeführte "Erhebung über die Gegebenheiten des
Wohnungsmarktes" aus dem Jahre 2007 ist für September 2009 nicht mehr überzeugend, da sie - wie die
Antragstellerin zu Recht ausführt - "vollständig veraltet" ist (S. 5 oben d. Schr. v. 1.9.2009). Vgl. insoweit auch SG
Kassel Urt. v. 12.8.2009 - S 7 AS 618/06: "Die von der Beklagten gewährten Pauschalen sind vielmehr in Ansehung
der Rechtsprechung der Sozialgerichte rechtswidrig, da nach der Vorgabe des Gesetzeswortlautes des § 22 Abs. 1
Satz 1 SGB II die tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung zu gewähren sind, soweit sie angemessen sind;
von der zugunsten des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales bestehenden Verordnungsermächtigung des § 27
Nr. 1 SGB II, die Angemessenheit der Kosten der Unterkunft und Heizung zu bestimmen, ist bislang kein Gebrauch
gemacht worden. Die Kammer hält eigene Ermittlungen auf dem Wohnungsmarkt für vergangene Zeiträume - wie hier -
für fruchtlos. Denn es ist zu berücksichtigen, dass das Gericht dazu berufen ist, die Bescheide der Beklagten im
Nachhinein auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Bei einer solchen Prüfung ist naturgemäß bereits Zeit verstrichen,
bis das Gericht seinerseits überhaupt erst in Ermittlungen über den tatsächlichen Wohnungsmarkt eintreten könnte."
Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kann die Angemessenheit oder Unangemessenheit von
Unterkunftskosten jedoch nicht aufgeklärt werden.
Von einer bei dieser Sachlage möglichen Zurückverweisung an die Antragsgegnerin zwecks Ermittlung aktueller und
faktisch belastbarer Wohnungsmarktdaten (vgl. insoweit jedoch den Gerichtsbescheid des SG Bremen v. 17.07.2009 -
S 26 AS 8/09 - ) sieht die Kammer ab, da das die Effektivität des Rechtsschutzes im Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes mindern würde und der Antragstellerin für die Zeit bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache nicht
zuzumuten wäre.
5. Dies zugrunde gelegt, ist hier eine Folgenabwägungsentscheidung zu treffen, weil eine abschließende Klärung zur
Angemessenheit der Kosten für Unterkunft und Heizung, bei der auf die Besonderheiten des Einzelfalles Rücksicht zu
nehmen ist (u.a. das Alter der Antragstellerin), im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht
möglich ist. Das Gericht sieht sich im Rahmen der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen
summarischen Prüfung des Tatsachenmaterials außerstande zu entscheiden, inwieweit der Wohnungsmarkt im Raum
J. es tatsächlich nahelegt, von einer - gemessen an den realen Gegebenheiten - Unangemessenheit der Wohnung der
Antragstellerin auszugehen. Derzeit spricht mehr für eine Angemessenheit als dagegen.
Liegen damit die Voraussetzungen für eine Folgenabwägungsentscheidung vor, ist diese zu Gunsten der
Antragstellerin zu treffen. Mit der begehrten Leistung wird das verfassungsrechtlich gewährleistete "soziokulturelle
Existenzminimum" abgesichert. Dem Hilfeempfänger muss es möglich sein, in der Umgebung von
Nichthilfeempfängern ähnlich wie diese zu leben. Für die Abwägungsentscheidung bedeutet dies, dass die
Antragstellerin eine auf dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG)) und der Verpflichtung des Staates
zum Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) beruhende Position für sich reklamieren kann. Demgegenüber hat
das Interesse der Antragsgegnerin, dass finanzielle Mittel nur den gesetzlichen Regelungen entsprechend verwendet
werden dürfen (S. 3 d. Schr. v. 7.7.2009), vorläufig zurückzutreten, zumal Einiges dafür spricht, dass der
Rechtsstandpunkt der Antragsgegnerin nicht zu halten ist. Demgegenüber geht es für die demnächst 60-jährige
Antragstellerin um die Befriedigung existenzieller, vom Grundgesetz eindeutig anerkannter Bedürfnisse.
6. Der erforderliche Anordnungsgrund ergibt sich aus der Tatsache, dass die Antragstellerin auf die Zahlung der
Mietkosten sehr dringend angewiesen ist, da sie über keine weiteren Einkünfte verfügt.
7. Im Hinblick darauf, dass inzwischen ein Klageverfahren anhängig ist und mit Blick auf die gen. Entscheidung der
41. Kammer des Sozialgerichts ist es erforderlich und geboten, die Dauer der Regelungsanordnung gem. § 86 b Abs.
2 SGG nicht zu begrenzen, zumal gem. § 41 SGB II auch schon im Verwaltungsverfahren der Zeitraum für Leistungen
auf bis zu 12 Monate verlängert werden kann, wenn eine Veränderung der Verhältnisse in dieser Zeit nicht zu erwarten
ist. Davon ist hier auszugehen, so dass die zusprechende einstweilige Anordnung an der bestandskräftigen
Entscheidung in der Hauptsache bzw. am rechtskräftigen Abschluss des rechtshängigen Klageverfahrens zu
orientieren ist (vgl. insoweit Wündrich, Vorläufiger Rechtsschutz im sozialgerichtlichen Verfahren im Bereich des SGB
II, SGb 5/09, S. 272).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs.1 und 4 SGG.
Der Antragstellerin ist Prozesskostenhilfe für die Durchführung des Verfahrens unter Beiordnung von Rechtsanwalt
Joachim Krempin, Lüneburg, zu bewilligen, weil das Verfahren hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 73a SGG in
Verbindung mit §§ 114ff. ZPO).