Urteil des SozG Lüneburg vom 21.04.2010

SozG Lüneburg: unfallversicherung, unternehmen, grundstück, versicherungspflicht, unternehmer, beitragspflicht, unterliegen, bewirtschaftung, gartenanlage, wohnhaus

Sozialgericht Lüneburg
Urteil vom 21.04.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 2 U 96/05
1.) Die Bescheide der Beklagten vom 6. September 2004, 10. November 2004 und 6. Mai 2005 sowie der Wider-
spruchsbescheid vom 29. Juni 2005 werden aufgehoben. 2.) Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin wendet sich gegen die Versicherungspflicht und Beitragszahlung zur landwirtschaftlichen
(gartenbaulichen) Unfallversicherung.
Die am 14. Dezember 1943 geborene Klägerin ist seit 1980 Eigentümerin eines Grundstücks von ca. 3.000 qm.
Darauf steht das von ihr und ihrem Ehemann genutzte Wohnhaus mit einer Terrassen- und Gartenanlage von ca.
1.200 qm (Ziergärten, Rasen und ein kleiner Teich). Auf den restlichen 1.800 qm wachsen naturbelassene Bäume und
Buschwerk. Eine Bewirtschaftung findet nicht statt. Hinsichtlich der örtlichen Situation wird auf die Skizze auf Bl. 24
der Akte der Beklagten (= VA) Bezug genommen.
Am 7. Juli 2004 erlitt die Klägerin einen Unfall, als sie beim Rosenschneiden von einer Trittleiter stürzte. Mit dem
Schreiben vom 5. Juli 2004 meldete die Krankenkasse der Klägerin bei der Beklagten den Unfall und machte einen
Erstattungsanspruch geltend. Mit dem Bescheid vom 6. September 2004 stellte die Beklagte fest, dass der von der
Klägerin unterhaltene Haus- und Ziergarten mit Wirkung ab dem 1. Januar 1999 dem gesetzlichen
Unfallversicherungsschutz unterliegen würde. Darüber hinaus stellte die Beklage ihre Zuständigkeit fest. Mit dem
hiergegen erhobenen Widerspruch wurde geltend gemacht, dass ein gartenbauliches Unternehmen nicht betrieben
werde. Es werde lediglich der am Haus angelegte Ziergarten gepflegt. Dem Gesetz könne nicht entnommen werden,
dass ab einer bestimmten Grundstücksgröße automatisch eine Zwangsmitgliedschaft in der gesetzlichen
Unfallversicherung bestehen würde. Mit den Bescheiden vom 10. November 2004 erhob die Beklagte für die Jahre
1999 bis 2003 jeweils den Mindestbeitrag (Gesamtforderung: 171,32 EUR - Bl. 30 ff. VA). Mit dem Bescheid vom 6.
Mai 2005 erhob sie für das Jahr 2004 einen Beitrag von 69,92 EUR. Auch hiergegen erhob die Klägerin jeweils
Widerspruch. Die Widersprüche wurden mit dem Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 2005 zurückgewiesen. Zur
Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sämtliche Park- und Gartengrundstücke, deren Fläche 0,25 ha
übersteige, der Versicherungspflicht bei der Beklagten als zuständigen gesetzlichen Unfallversicherungsträger
unterliegen würden. Eine Überprüfung der konkreten Nutzung des jeweiligen Grundstücks habe aufgrund des
eindeutigen gesetzgeberischen Willens zu unterbleiben.
Hiergegen hat die Klägerin am 1. August 2005 durch ihren Prozessbevollmächtigten beim Sozialgericht Lüneburg
Klage erhoben und weiterhin geltend gemacht, dass das Grundstück nur freizeitlich genutzt werde. Die Klägerin und
ihr Ehemann würden viele Monate im Jahr in E. verbringen. Das gelegentliche Mähen des Rasens sowie das
gelegentliche Beschneiden der Blumen im Ziergarten würde keine unternehmerische Tätigkeit darstellen. Es würde
auch am Merkmal der ständigen Bodenbewirtschaftung fehlen, da keine Bodengewächse planmäßig aufgezogen und
abgeerntet würden. Die Beklagte hat demgegenüber ausgeführt, dass in der gesetzlichen Unfallversicherung ein
weitumfassender Begriff des Unternehmens gelten würde, so dass unerheblich sei, ob der Unternehmer einen
wirtschaftlichen Zweck verfolge. Dies sei das Einfallstor der landwirtschaftlichen Unfallversicherung in den
außerberuflichen Lebensraum des Privatbesitzes, der Freizeit- und Hobbybeschäftigung. Denn die landwirtschaftliche
Unfallversicherung würde nahezu schrankenlos und bis ins Kleinste die Unternehmen der Land- und Fortwirtschaft
einschließlich des Garten- und Weinbaus umfassen.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,
die Bescheide vom 6. September 2004, 10. November 2004 und 6. Mai 2005 sowie den Widerspruchsbescheid vom
29. Juni 2005 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Entscheidung wurden die Gerichtsakten und die Akten der Beklagten zugrunde gelegt. Auf ihren Inhalt wird Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet. Die Beklagte hat die Klägerin zu Unrecht als Unternehmerin angesehen und zur
Versicherungs- und Beitragspflicht in der gesetzlichen Unfallversicherung herangezogen. Die angefochtenen
Bescheide sind daher rechtswidrig und waren aufzuheben.
Zwar unterliegen gem. § 2 Abs. 1 Nr. 5a i. V. m. SGB VII landwirtschaftliche Unternehmer (§ 123 Abs. 1 SGB VII)
kraft Gesetzes der Versicherungs- und Beitragspflicht in der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Klägerin betreibt
jedoch kein landwirtschaftliches Unternehmen, da es sich bei ihrem Grundstück um einen Haus- und Ziergarten
handelt. In § 123 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII ist ausdrücklich bestimmt, dass es sich bei solchen Gärten nicht um
landwirtschaftliche Unternehmen handelt. Nach dem unstreitigen Vorbringen der Klägerin befindet sich auf dem
streitgegenständlichen Grundstück ihr Wohnhaus mit einer dem Anwesen entsprechenden Terrassen- und
Gartenanlage. Darunter fallen insbesondere die am Haus befindlichen Blumen- bzw. Rosenbeete (= Ziergärten), ein
kleiner Teich von ca. 4 x 4 m sowie ein Rasenbereich. Der Rest der Anlage besteht aus naturbelassenen Bäumen und
Buschwerk. Aus der Skizze auf Bl. 24 VA wird deutlich, dass diese Gartenanlage im unmittelbaren Kontext zum
Wohnhaus der Klägerin und ihres Ehemannes steht und durch deren Wohnsituation ihr Gepräge erhält. Daran, dass es
sich um einen Haus- und Ziergarten handelt, kann daher kein Zweifel bestehen. Hiervon geht offenbar auch die
Beklagte aus, da sie im Bescheid vom 6. September 2004 das Grundstück als Haus- und Zier-garten eingeordnet hat.
Die Auffassung der Beklagten, dass bei Haus- und Ziergärten ab einer Grundstücksgröße von 2.500 qm automatisch
von einem landwirtschaftlichen/gärtnerischen Unternehmen auszugehen sei, findet im Gesetz keine Stütze, da eine
solche Grenze in § 123 Abs. 2 SGB VII nicht genannt ist. Eine entsprechende, feste Obergrenze hinsichtlich einer
Grundstücks-größe existiert im Bereich des SGB VII nicht (Deisler in Lauterbach, Kommentar zur Unfallversicherung,
§ 123 SGB VII, Rz. 71) und wurde auch vom BSG für die dem § 123 Abs. 2 SGB VII vorangehende Vorschrift des
778 RVO ausdrücklich offen gelassen (BSGE 64, 252, 254; BSG, Urt. v. 11. November 2003 - B 2 U 51/02 R). Es hat
vielmehr darauf hingewiesen, dass sogar vom Reichsversicherungsamt keine starre Grenze von 2.500 qm
angenommen wurde, sondern bei einer extrem geringen Bewirtschaftung gerade auch eine Überschreitung der Grenze
in Betracht kam (BSGE 64, 252, 254).
Auch aus der Befreiungsvorschrift des § 5 SGB VII - danach können landwirtschaftliche Unternehmen bis zu einer
Größe von 2.500 qm auf Antrag von der Versicherung gem. § 2 Abs. 1 Nr. 5 SGB VII befreit werden - ergibt sich
nichts Gegenteiliges. Daraus geht lediglich hervor, dass für die Annahme eines landwirtschaftlichen/gärtnerischen
Unternehmens eine Mindestgröße nicht existiert (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Kommentar zur Unfallversicherung, § 123
SGB VII, Rz. 4.1., m. w. N.; vgl. BSG, Urt. v. 7. Dezember 2004 - B 2 U 43/03 R). Es kann jedoch nicht im
Umkehrschluss davon ausgegangen werden, dass ein Grundstück, welches die Größe von 2.500 qm überschreitet,
automatisch ein landwirtschaftliches Unternehmen darstellt. § 5 SGB VII ist vielmehr erst dann anwendbar, wenn
feststeht, dass ein landwirtschaftliches Unternehmen mit der genannten Größe auch tatsächlich betrieben wird.
Da die landwirtschaftliche Unfallversicherung keinen eigenständigen Unternehmensbegriff kennt, ist hier auf die in §
121 Abs. 1 SGB VII genannte Definition zurückzugreifen (Deisler in Lauterbach, Kommentar zur Unfallversicherung, §
123 SGB VII, Rz. 9). Unternehmen sind danach Betriebe, Verwaltungen, Einrichtungen oder Tätigkeiten. Hieraus
ergibt sich zu-nächst, dass ein Grundstück als solches kein Unternehmen sein kann. Es bedarf vielmehr zusätzlich
einer bestimmten Nutzung, um von einem Unternehmen im unfallversicherungsrechtlichen Sinne auszugehen. Bereits
aus diesem Grund, kann der Beklagten nicht darin gefolgt werden, dass es für die Einordnung eines
Gartengrundstücks als Unternehmen nicht auf die konkrete Nutzung ankommt. Zwar können auch "Tätigkeiten" als
Unternehmen i. S. des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung angesehen werden, wenn diese planmäßig und mit
einer gewissen Regelmäßigkeit ausgeübt werden, für eine gewisse Dauer bestimmt und auf einen einheitlichen Zweck
ausgerichtet sind (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Kommentar zur Unfallversicherung, § 121 SGB VII, Rz. 3.1., m. w. N.;
BSGE 16, 79, 81). Da diese Definition jedoch grundsätzlich sämtliche Tätigkeiten, die zur Pflege eines auch noch so
kleinen Gartens erforderlich sind, umfasst, wäre dies - um die Terminologie der Beklagten aufzu-greifen - tatsächlich
ein bis ins Kleinste reichendes, nahezu schrankenloses Einfallstor der landwirtschaftlichen Unfallversicherung in den
außerberuflichen Lebensraum des Privatbesitzes, der Freizeit- und Hobbybeschäftigung. Genau dies ist jedoch vom
Gesetzgeber in Bezug auf Haus- und Ziergärten nicht gewollt, da er diese gerade wegen ihres der privaten
Lebenssphäre zuzurechnenden Charakters ausdrücklich nicht als landwirtschaftliche Unternehmen angesehen hat
(Bereiter-Hahn/Mehrtens, a. a. O., § 123 Rz. 18). Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 123 Abs. 2 SGB VII ist ein
Haus- oder Ziergarten vielmehr ausnahmsweise nur dann als landwirtschaftliches Unternehmen anzusehen, wenn er
regelmäßig mit besonderen Arbeitskräften bewirtschaftet wird oder dessen Erzeugnisse nicht haupt-sächlich dem
eigenen Haushalt dienen. Die Auffassung der Beklagten, nach der es auf die konkrete Nutzung nicht ankommen soll,
steht daher auch aus diesem Grund im offensichtlichen Widerspruch zum Gesetz. Nur durch die Feststellung der
konkreten Nutzung lässt sich im Übrigen bei Haus- und Ziergärten auch ein Anknüpfungspunkt in Bezug auf die
soziale Schutzbedürftigkeit, welche letztlich die einzige Legitimation für eine gesetzliche Zwangsversicherung
darstellt, herstellen. Um die Unternehmereigenschaft der Klägerin festzustellen, kommt es daher entscheidend darauf
an, ob hier die in § 123 Abs. 2 SGB VII genannten Ausnahmetatbestände vorliegen oder eine über die Nutzung als
Haus- und Ziergarten hinausgehende unternehmerische Tätigkeit der Klägerin festgestellt werden. Beides ist jedoch
nicht der Fall, da weder eine Bewirtschaftung stattfindet noch Erzeugnisse vermarktet werden. Darüber hinaus stellt
sowohl das gelegentliche Beschneiden der Blumen im Ziergarten als auch das gelegentliche Mähen des Rasens keine
von der typischen Nutzung als Haus- und Ziergarten abweichende unternehmerische Tätigkeit dar. Gerade die
Tätigkeit des Rasenmähens ist das typische Erkennungszeichen des Haus- und Hobbygärtners. Die Auffassung des
Bayerischen Landessozialgerichts im Urteil vom 22. September 2009 (Az. L 17 U 94/07) ist daher insoweit nicht
überzeugend.
Aus diesen Gründen kann es im vorliegenden Fall dahinstehen, ob die Beklagte - ausgehend von ihrem Ansatz - von
der Berechnung der Unternehmensgröße zumindest die nicht gärtnerisch genutzten Teile des Grundstücks (Haus,
Teich, Terrassen) hätten ausnehmen müssen.
Die Entscheidung konnte durch Gerichtsbescheid erfolgen, da der Sachverhalt, soweit er für die Entscheidung von
Bedeutung ist, geklärt ist und die Beteiligten hierzu gehört wurden (§ 105 SGG). Die Beteiligten haben sich mit dieser
Entscheidungsform auch einverstanden erklärt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Im vorliegenden Fall ist § 197a SGG nicht anzuwenden, da die
Klägerin zum privilegierten Personenkreis des § 183 S. 1 SGG gehört. Danach ist das Verfahren vor den Gerichten
der Sozialgerichtsbarkeit für Versicherte, Leistungsempfänger etc. kostenfrei, soweit sie in dieser jeweiligen
Eigenschaft als Klägerin oder Beklagte beteiligt sind. Da im vorliegenden Fall die Unternehmereigenschaft der
Klägerin mit ihrer Versicherteneigenschaft identisch ist (§ 2 Abs. 1 Nr. 5 a SGB VII), schließt die Klage gegen den
Status als landwirtschaftliche/gärtnerische Unternehmerin zwangsläufig auch die Frage ihrer damit untrennbar
verbundenen Versicherteneigenschaft mit ein. Bei Streitigkeiten um den Versichertenstatus ist aber die Vorschrift des
§ 197a SGG nicht anzu-wenden (BSG, Urt. v. 5. Oktober 2006 – B 10 LW 5/05. abgedruckt in NZS 2007, 443).
Darüber hinaus ist der Klägerin auch nicht einem Arbeitgeber gleichzusetzen. Die Einbeziehung der
landwirtschaftlichen Unternehmer in die Versicherungspflicht - aber auch in das Leistungsspektrum der gesetzlichen
Unfallversicherung - erfolgte vielmehr wegen deren vom Gesetzgeber angenommenen besonderen sozialen
Schutzbedürftigkeit. Insoweit werden sie daher den Arbeitnehmern gleichgestellt. Die Beitragspflicht von Arbeitgebern
beruht demgegenüber auf dem Gedanken eines Solidarausgleichs, welcher in § 197a SGG seine kostenrechtliche
Konsequenz findet. Die Frage eines Solidarausgleichs stellt sich jedoch bei landwirtschaftlichen Unternehmern,
insbesondere dann, wenn sie keine Arbeitnehmer beschäftigen, nicht. Es wäre sogar widersinnig, einerseits die
Zulässigkeit einer im Spannungsfeld mit Art. 2 Abs. 1 GG stehenden gesetzlichen Zwangsversicherung mit der
beson-deren sozialen Schutzbedürftigkeit des Betroffenen zu begründen, diese dann aber andererseits bei der
Kostenfrage zu verneinen. Der Auffassung von Köhler ist daher insoweit nicht zu folgen (vgl. Köhler "Das
Kostenprivileg des § 183 SGG im Fall eines unfallversicherten Unternehmers", abgedruckt in SGb 2008, 76 ff.).
Die Klägerin hat ihre Eigenschaft als Versicherte auch dann nicht verloren, wenn sie "lediglich" ein versicherungs-
bzw. beitragsrechtliches Verfahren betreibt (vgl. Sächsisches LSG, Beschluss v. 22. November 2005 – L 6 B 195/05
U-LW, mit überzeugender Begründung). Es handelt sich vielmehr um einen Streit, dem ein einheitliches
Versicherungsverhältnis zugrunde liegt, welches üblicherweise - wie die zwei Seiten einer Medaille - sowohl eine
beitragsrechtliche als auch eine leistungsrechtliche Seite aufweist. § 183 Abs. 1 SGG bezieht daher nach seinem
eindeutigen Wortlaut sowohl Versicherte als auch Leistungsempfänger in den privilegierten Personenkreis ein, wobei
es nach dem Sinn und Zweck der Regelung für die Anwendung des Kostenprivilegs nicht darauf ankommen darf, ob
eine entsprechende Klage erfolgreich war oder nicht (Meyer-Ladewig, a. a. O., 8. Aufl. § 183 SGG, Rz. 9; BSG, Urt. v.
5. Oktober 2006 – B 10 LW 5/05, abgedruckt in NZS 2007, 443).
Schließlich wird § 197a SGG auch außerhalb der gesetzlichen Unfallversicherung bei Streitigkeiten, welche die
Einbeziehung bestimmter Gruppen von Kleinunternehmern in die Versicherungspflicht betreffen (z. B. § 2 SGB VI),
nicht angewandt (z. B. LSG Hamburg, Beschluss v. 28. Juni 2008 - L 3 B 138/05 R).