Urteil des SozG Lüneburg vom 03.04.2008
SozG Lüneburg: diabetes mellitus, ernährung, diät, niedersachsen, fürsorge, pflege, haus, hauptsache, gesellschaft, aufwand
Sozialgericht Lüneburg
Beschluss vom 03.04.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 30 AS 508/08 ER
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen An-ordnung vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückzah-lung
verpflichtet, der Antragstellerin Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 4,20 EUR monatlich zu zahlen. Im Übrigen
wird der Antrag abgelehnt. Kosten werden nicht erstattet.
Gründe:
Die Antragstellerin lebt gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Großvater in einem Haus, das im Eigentum des
Großvaters steht. Die Antragstellerin und ihre Mutter haben die Pflege und Versorgung des pflegebedürftigen
Großvaters (Pflegestufe I) übernommen. Sie erhalten vom Großvater Pflegegeld in Höhe von 205,00 EUR. Die
Leistungen, die die Antragstellerin und ihre Mutter für die Pflege des Großvaters erbringen, werden hierdurch nicht
gedeckt, weswegen sie im Haus des Großvaters kostenfrei wohnen.
Die Antragstellerin stellte am 6. November 2007 einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II. Im Verlauf des
Antragsverfahrens gab sie an, dass sie von ihrer Mutter Leistun-gen erhalte, nämlich Geldleistungen in Höhe von ca.
100,00 EUR bis 200,00 EUR monatlich, volle Verpflegung frei, Kleidung, Telefon, Krankenkasse, Auto und
Versicherung, sowie Medikamente und Geld für Rechnungen. Die Antragstellerin reichte im Laufe des An-
tragsverfahrens auch einen Bescheid der Bundesagentur für Arbeit ein (Blatt 92 bis 94 der Verwaltungsakten), in dem
ihrer Mutter Arbeitslosengeld nach dem SGB III in Höhe von 620,40 EUR monatlich bewilligt wird. Der Bescheid
datiert vom 23. Oktober 2007.
Mit Bescheid vom 14. Dezember 2007 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag der An-tragstellerin mit der Begründung
ab, sie erhalte von ihren Angehörigen Sach- und Geld-leistungen und sei daher nicht hilfebedürftig. Gegen diesen
Bescheid legte die Antragstel-lerin am 4. Januar 2008 Widerspruch bei der Antragsgegnerin ein. Diesen begründete
sie damit, dass ihre Mutter sie zwar finanziell unterstütze, deren Einkünfte jedoch für zwei Personen nicht
ausreichten. Gemeinsam lebten sie von 620,40 EUR, von denen Strom, Wasser, Kleidung, Lebensmittel,
Krankenversicherung und Dinge des täglichen Bedarfs bezahlt würden. Des Weiteren leide sie an Diabetes und sei
nicht mehr in der Lage, das Geld für die besondere Ernährungsweise und die Medikamente aufzubringen. Über den
Widerspruch wurde bisher nicht entschieden.
II.
Der Antrag hat im tenorierten Umfang Erfolg.
Nach § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Absatzes 1 nicht vorliegt, auf Antrag
eine einstweilige Anordnung in bezug auf den Streitgegens-tand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine
Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts der Antragstellerin vereitelt oder wesentlich
erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vor-läufigen Zustandes in bezug
auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine sol-che Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint. Das Gericht der Hauptsache ist das Gericht des ersten Rechtszuges.
Voraussetzung für den Erlass der hier von der Antragstellerin begehrten Regelungsan-ordnung nach § 86 b Abs. 2
Satz 2 SGG, mit der er die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II begehrt, ist neben einer besonderen
Eilbedürftigkeit der Regelung (Anord-nungsgrund) ein Anspruch der Antragstellerin auf die begehrte Regelung
(Anordnungs-anspruch). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 3
SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Im vorliegenden Fall wurde ein Anordnungsanspruch in Höhe von 4,20 EUR monatlich glaubhaft gemacht.
Das Gericht geht davon aus, dass das Einkommen der Mutter der Antragstellerin monat-lich 620,40 EUR beträgt, wie
sich dies aus dem Bescheid der Agentur für Arbeit vom 23. Ok-tober 2007 ergibt und von der Antragstellerin in ihrem
Widerspruch vom 4. Januar 2008 erneut vorgetragen wird. Die Höhe des Einkommens der Mutter ist daher im
Eilverfahren hinreichend glaubhaft gemacht. Das an die Mutter der Antragstellerin weitergegebene Pflegegeld des
Großvaters in Höhe von 205.- EUR monatlich ist nicht als Einkommen anzu-rechnen (Brühl in LPK-SGB II, Rd.-Nr. 63
zu § 11).
Die Antragstellerin und ihre Mutter bilden eine Bedarfsgemeinschaft. Bei der Berechnung der Bedürftigkeit der
Antragstellerin ist das Einkommen der Mutter grundsätzlich anzu-rechnen. Hierbei ist für die Mutter von einem
Regelsatz von 347,00 EUR monatlich auszuge-hen und für die Antragstellerin gemäß § 20 Abs. 2 Satz 2 SGB II von
80 vom Hundert der Regelleistung, hier also 277,60 EUR (80 Prozent des Regelsatzes in Höhe 347,00 EUR). Mutter
und Tochter wohnen kostenfrei bei dem Großvater, so dass Kosten der Unterkunft au-genscheinlich nicht anzusetzen
sind. Der gesamte Bedarf für die Bedarfsgemeinschaft beträgt daher 624,60 EUR monatlich (347,00 EUR Regelsatz
für die Mutter, 277,60 EUR Regelsatz für die Tochter). Von diesem Bedarf ist das Einkommen der Mutter der
Antragstellerin in Höhe von 620,40 EUR abzuziehen. Es ergibt sich ein Anspruch in Höhe von 4,20 EUR monat-lich.
Soweit die Antragstellerin die Gewährung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwendiger Ernährung aufgrund von
Diabetes mellitus geltend macht, wurde ein Anordnungsan-spruch nicht glaubhaft gemacht. Das Landessozialgericht
Niedersachsen-Bremen hat mit Beschluss vom 26. Februar 2007 (Az.: L 6 AS 71/07 ER) entschieden wie folgt:
"Vorliegend ist bereits kein Anordnungsanspruch ersichtlich: Die von der Antragsgegnerin vorgelegten schriftlichen
Unterlagen, die in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Ärztin Dr C. stehen, lassen nicht erkennen, dass bei
einer Diabetes Mellitus-Erkrankung – gleich welchen Typs – wie auch bei einer Hyperurikämie und einer
Hyperlipidämie eine be-sondere Diät oder Ernährung notwendig ist, die einen erhöhten finanziellen Aufwand erfor-dert.
Der Senat schließt sich dem aktuellen medizinisch-ernährungswissenschaftlichen Er-kenntnisstand an, der in dem
Rationalisierungsschema 2004 des Bundesverbandes Deut-scher Ernährungsmediziner ua (www.daem.de) abgedruckt
in: Aktuel Ernaehr MdE 2004, S. 245 ff) sowie den Ernährungsempfehlungen für Diabetiker der Diabetes-Gesellschaft
Deutschland (www.diabetes-deutschland.de) und der Stellungnahme des Ausschusses Er-nährung der Deutschen
Diabetologischen Gesellschaft dargestellt ist (so auch SG Lüneburg Urteil vom 29. August 2006, - S 25 AS 55/06-;
SG Dresden, Beschluss vom 30. August 2006, - S 23 AS 1372/06 ER – jeweils mwNw).
Zwar wird in der Kommentierung zu § 21 Abs 5 SGB II eine Diabeteskost bzw lipidsenkende und purinreduzierte Kost
und ein damit verbundener erhöhter Mehrbedarf bejaht. Diese Ein-schätzung beruht auf den Empfehlungen des
Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge aus dem Jahre 1997, dem sich in der Folgezeit Gerichte
angeschlossen haben (ua Landessozialgericht Sachsen, Beschluss vom 26. Januar 2006, - L 3 B 299/05 AS-ER
sowie LSG Niedersachsen-Bremen vom 27. Oktober 2006, aaO). Inzwischen gibt es aber - neben den oben bereits
ausgeführten - Stellungnahmen namhafter Einrichtungen, die diese Einschätzung nicht mehr teilen und erhebliche
Zweifel daran wecken, dass die Empfehlun-gen des Deutschen Vereins unverändert zutreffen. So wird in dem
"Rationalisierungssche-ma 2004" ausdrücklich festgestellt, dass es nach der "heute deutlich vorherrschenden Ü-
berzeugung" eine eigentliche Diabetes- und Dyslipoproteinämiekost nicht mehr gibt. Statt-dessen wird bei den bei dem
Antragsteller bestehenden Gesundheitsstörungen – insbeson-dere auch bei Diabetes - eine Vollkost empfohlen, die
sich in ihrer Zusammensetzung nicht von der im Rahmen der Primärprävention zur Gesunderhaltung empfohlenen
Ernährungs-weise unterscheidet. Auch der Ausschuss Ernährung der Deutschen Diabetologischen Ge-sellschaft
(DGG, Stellungnahme vom 01. Oktober 2004; www.fkdb.pconnet.net ) vertritt die Auffassung, dass bei Diabetes
mellitus keine Mehrkosten für Ernährung entstünden. Es sei von allen nationalen und internationalen Diabetes-
Fachgesellschaften akzeptiert, dass es keine Nahrungsmittel gebe, die für die Ernährung von Diabetikern besonders
vorteilhaft sei-en, weswegen die Ernährung mit denselben kostenneutralen Lebensmitteln erfolgen könne wie bei
Nicht-Diabetikern. In den Ernährungsempfehlungen für Diabetiker 2001 (www.diabetes-deutschland.de) der DDG heißt
es ebenfalls, für eine Empfehlung zum Ver-zehr spezieller Diabetikerprodukte oder Diätprodukte für Diabetiker finde
sich keine Begrün-dung. Nach diesen Stellungnahmen hat sich die wissenschaftliche Auffassung bezüglich der bei
Diabetes und auch der Hyperurikämie und der Hyperlipidämie erforderlichen Diät in den letzten Jahren entscheidend
geändert. Während früher die Auffassung vertreten wurde, dass ein Diabetiker besondere Nahrungsmittel mit so
genannten "Zuckeraustauschstoffen" benötige, sind heute die führenden Diabetologen übereinstimmend der Meinung,
dass eine ausgewogene Mischkost sowie die Einhaltung eines normalen Körpergewichts die besten Voraussetzungen
bieten, eine optimale Blutzuckereinstellung mit oder ohne Medikamente zu erreichen und vor allem
Spätkomplikationen und Folgeerkrankungen des Diabetes mit hoher Wahrscheinlichkeit zu vermeiden. Die für den
Diabetes mellitus wissenschaftlich empfohlene Diät entspricht nach dem Rationalisierungsschema 2004 und den
Ernährungs-empfehlungen für Diabetiker 2001 der allgemein für eine gesunde Ernährung empfohlenen ausgewogenen
Mischkost (=Vollkost), die ohne Einschränkung alle Nahrungsbestandteile in einem ausgewogenen Verhältnis enthält.
Eine solche Vollkosternährung sollte jeder ge-sundheits- und ernährungsbewusste Mensch zu sich nehmen. Hiervon
geht nach der vom Senat eingeholten telefonischen Auskunft vom 13. Februar 2007 inzwischen auch der Deut-sche
Verein für öffentliche und private Fürsorge aus, der sich ebenfalls dem Rationalisie-rungsschema 2004 anschließt und
eine spezielle Diabeteskost nicht mehr für erforderlich hält. Auch aus diesem Grunde hat sich der Senat diesen
aktuellen Stellungnahmen namhaf-ter Einrichtungen und Verbänden angeschlossen. Sie beruhen auf der Einschätzung
einer Vielzahl von Medizinern und Ernährungswissenschaftlern, und Dr C. hat diese Grundsätze auch hinsichtlich des
Gesundheitszustandes des Antragstellers für anwendbar erachtet. Demgegenüber lag der Entscheidung des LSG
Niedersachsen-Bremen vom 27. Oktober 2006, aaO der Begutachtungsleitfaden zu dem Mehrbedarf bei
krankheitsbedingter kosten-aufwändiger Ernährung des Arbeitsausschusses der Sozialdezernenten D. zugrunde, der
auf der Einschätzung nur von Medizinern, nicht aber auch von Ernährungswissenschaftlern beruht."
Dieser Rechtsprechung sind auch die übrigen Senate des Landessozialgerichtes gefolgt. Auch das erkennende
Gericht folgt dieser Rechtsprechung. Das Vorliegen einer Diabetes mellitus-Erkrankung – gleich welchen Typs – führt
daher nicht zu einem Anspruch auf Mehrbedarf nach § 21 Abs. 5 SGB II.
Ein Anordnungsgrund ist gegeben. Zwar ist der Anspruch auf Zahlung von 4,20 EUR monat-lich so gering, dass der
Anordnungsgrund, also die Eilbedürftigkeit, zweifelhaft sein könn-te. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die
Antragstellerin, wenn sie im Bezug von Ar-beitslosengeld II steht, gesetzlich in der Kranken- und Rentenversicherung
versichert ist und ihre Mutter die hierfür notwendigen Beträge (insbesondere für die Krankenversiche-rung) von ihrem
Einkommen nicht mehr aufbringen muss. Da die monatlichen Versiche-rungsbeiträge üblicherweise eine erhebliche
Höhe erreichen, auch wenn die genaue Hö-he im vorliegenden Fall nicht angegeben wurde, ist davon auszugehen,
dass mit dem Wegfall der Ausgaben hierfür ein letztlich doch erheblicher finanzieller Vorteil für die Be-
darfsgemeinschaft verbunden ist, der es rechtfertigt, vom Bestehen eines Anordnungs-grundes auszugehen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Der Beschluss ist gemäß §§ 172 Absatz 3 Nr. 1, 144 Absatz 1 Satz 1 SGG unanfechtbar, da der Beschwerdewert
nicht 750.- EUR übersteigt.