Urteil des SozG Lüneburg vom 10.09.2007

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Sozialgericht Lüneburg
Beschluss vom 10.09.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 22 SO 156/07 ER
1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, für den Antragsteller vorläufig im
Rahmen der Eingliederungshilfe die Kosten der Schulbegleitung durch die E. für die Zeit ab dem 28. August 2007 bis
zu einer Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum Ablauf des 31. März 2008 zu übernehmen. 2. Der
Antragsgegner hat dem Antragsteller seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Antragsteller erstrebt vom Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Übernahme der Kosten
der Schulbegleitung durch die E. im Rahmend er Eingliederungshilfe nach dem SGB XII.
Der 1999 geborene Antragsteller leidet unter einem frühkindlichen Autismus. Er erhielt sowohl im Schuljahr 2005/ 2006
als auch im Schuljahr 2006/ 2007 im Rahmen der Eingliederungshilfe eine Schulbegleitung für den Besuch der F. für
Geistigbehinderte.
Der Antragsgegner hat eine Leistungsvereinbarung mit der E. und der Firma G. abgeschlossen, die ein identisches
Leistungsspektrum abdecken. Erstere erbringt Leistungen für monatlich 1.480,- Euro und letztere für 1.319,- Euro.
Mit Bescheid vom 22. Mai 2007 (Bl. 71 der Verwaltungsakte) bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller eine
Schulbegleitung im Rahmen der Eingliederungshilfe für das Schuljahr 2007/ 2008.
Unter dem 14. Juni 2007 trat der Antragsteller seinen Entgeltanspruch gegen den Antragsgegner an die E. ab (Bl. 85
der Verwaltungsakte).
Mit Schreiben vom 21. Juni 2007 teilte er mit, dass es voraussichtlich zu einem Anbieterwechsel kommen werde (Bl.
74 der Verwaltungsakte).
Mit Schreiben vom 06. Juli 2007 teilte der Antragsteller mit, dass er im Rahmen seines Wunsch – und Wahlrechtes
die weitere Betreuung durch die E. wünsche (Bl. 75 bis 76 der Verwaltungsakte).
Mit Schreiben vom 27. Juli 2007 unterrichtete der Antragsgegner den Antragsteller darüber, dass die Firma G. den
Zuschlag erhalten habe (Bl. 77 der Verwaltungsakte). Das Schreiben enthielt keine Rechtsbehelfsbelehrung.
Dagegen legte der Antragsteller am 14. August 2007 Widerspruch ein (Bl. 83 bis 84 der Verwaltungsakte).
Der Antragsteller hat am 28. August 2007 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt.
Er trägt vor:
Es seien Leistungen durch die H. zu bewilligen, da keine unverhältnismäßigen Mehrkosten anfallen würden. Denn der
Preisunterschied sei geringer als 25 Prozent. Der Antragsteller übe sein Wunsch – und Wahlrecht aus und habe ein
Vertrauensverhältnis zum bisherigen Schulbegleiter aufgebaut.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig im Rahmen der
Eingliederungshilfe die Kosten der Schulbegleitung durch die E. im gesetzlichen Umfang zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er trägt unter Bezugnahme auf den erlassenen Bescheid vor:
Es entstünden bei Berücksichtigung des Wahlrechtes des Antragstellers unverhältnismäßig Mehrkosten, welche nicht
aus öffentlichen Mitteln zu decken seien. Die Leistungen der Anbieter seien identisch. Beim Kostenvergleich seien die
Durchschnittskosten zu berücksichtigen. Die Kosten eines weiteren freigemeinnützigen Anbieters, des Paritätischen,
beliefen sich auf monatlich 950,- Euro. Im Übrigen sei die Abtretung unwirksam.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen
Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.
Nach § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Abs. 1 nicht vorliegt, auf Antrag eine
einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine
Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechtes des Antragstellers vereitelt oder
wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes
in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher
Nachteile nötig erscheint. Das Gericht der Hauptsache ist das Gericht des I. Rechtzuges.
Voraussetzung für den Erlass der hier vom Antragsteller begehrten Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2
SGG ist neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund) ein Anspruch des Antragstellers auf
die begehrte Regelung (Anordnungsanspruch). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen
(§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Dabei ist, soweit im Zusammenhang mit dem
Anordnungsanspruch auf die Erfolgsaussichten abgestellt wird, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch,
sondern abschließend zu prüfen (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 12. Mai 2005, - 1 BvR 569/05
-). Die Glaubhaftmachung bezieht sich im Übrigen lediglich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine
überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des
Anordnungsanspruches und des Anordnungsgrundes (vgl. Beschlüsse des Hessischen Landessozialgerichtes vom
29. Juni 2005, - L 7 AS 1/05 ER -, und vom 12. Februar 1997, - L 7 AS 225/06 ER -; Berlit, info also 2005, 3, 8).
Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft dargelegt. Die grundsätzlichen Leistungsvoraussetzungen
für die Schulbegleitung im Rahmen der Eingliederungshilfe sind unstreitig erfüllt.
Rechtsgrundlage des Antragsbegehrens sind §§ 53 Absatz 1 Satz 1, 54 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1, 12 Nr. 2 EinglH – VO.
Der Antragsteller ist unstreitig wesentlich behindert gemäß § 2 SGB IX.
Das Antragsbegehren scheitert nicht daran, dass der Jugendhilfeträger zuständiger Leistungsträger ist, weil der
Antragsteller nicht ausschließlich seelisch behindert ist (vgl. Beschluss des Landessozialgerichtes Niedersachsen –
Bremen vom 09. März 2007, - L 13 SO 6/06 ER -).
Nach § 53 Absatz 1 Satz 1 SGB XII erhalten Personen, die nicht nur vorübergehend körperlich, geistig oder seelisch
wesentlich behindert sind, Eingliederungshilfe. Zu den Maßnahmen der Eingliederungshilfe gehören auch nach § 54
Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung, insbesondere im Rahmen der
allgemeinen Schulpflicht. § 12 Nr. 2 EinglH – VO konkretisiert dies dahingehend, dass Maßnahmen der Schulbildung
zugunsten körperlich und geistig behinderte Kinder und Jugendlicher, wenn die Maßnahme erforderlich und geeignet
sind, dem behinderten Menschen eine im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht üblicherweise erreichbare Bildung zu
ermöglichen. Dazu zählen auch grundsätzlich die Kosten eines Integrationshelfers (vgl. Urteil des
Bundesverwaltungsgerichtes vom 28. April 2005, - 5 C 20/04 -).
Die Betreuung durch die AWOCADO Service gGmbH verursacht keine unverhältnismäßigen Mehrkosten gemäß § 9
Absatz 2 Satz 3 SGB XII, so dass kein rechtfertigender Grund des Sozialhilfeträgers für eine Leistungsverweigerung
ersichtlich ist.
Grundsätzlich sind beide genannten Anbieter geeignet, die erforderliche Schulbegleitung zu erbringen. Die fehlende
Eignung der E. wurde vom Antragsgegner nicht vorgetragen und ist auch nicht ersichtlich.
Bei Vornahme des Kostenvergleiches sind die durchschnittlichen Kosten der Leistungserbringung mit denjenigen der
vom Betroffenen gewünschten zu vergleichen. Die Berücksichtigung des Paritätischen ist nicht möglich, weil der
Antragsgegner durch diesen keine Leistungserbringung beabsichtigt, was Zweifel an der Eignung aufwirft, weil der
Antragsgegner ansonsten monatlich 400,- Euro einsparen könnte und der von ihm genannten Motivation der
Einsparung öffentlicher Mittel im weitaus umfangreicheren Maße genüge leisten könnte.
Der Leistungsträger hat die üblichen Durchschnittskosten zu ermitteln, welche nicht nur im eigenen Leistungsbereich,
sondern zumindest im gesamten Gebiet des Bundeslandes anfallen (vgl. LPK – SGB XII – Roscher § 9, Rdn. 37).
Diesen Anforderungen ist der Antragsgegner nicht gerecht geworden.
Bei der Ermittlung des Kostenniveaus ist von vornherein davon auszugehen, dass eine im bestimmten Rahmen
liegende Überschreitung noch verhältnismäßig ist, wobei der unbestimmte Rechtsbegriff der Verhältnismäßigkeit nach
den besonderen Verhältnissen des Einzelfalls, insbesondere nach den Verhältnissen des Leistungsberechtigten, zu
bestimmen ist (vgl. Schellhorn/ Schellhorn/ Hohm, Kommentar zum SGB XII, § 9, Rdn. 22). Nach dem Urteil des
Bundesverwaltungsgerichtes vom 11. Februar 1982 (- 5 C 85/80 -) liegt Unverhältnismäßigkeit jedenfalls bei einer
Übersteigung der Durchschnittskosten um mehr als 75 Prozent vor.
Da es sich bei dem Mehrkostenvorbehalt um ein Leistungsausschlussrecht handelt, ist der Sozialhilfeträger für das
Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen darlegungs- und beweispflichtig.
Unverhältnismäßige Mehrkosten sind im Vergleich zur Betreuung durch die Firma Sonnenschein – Integration beim
jetzigen Stand der Sachaufklärung - im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes – nicht gegeben, weil die
Durchschnittskosten, welche von der Kammer im Eilverfahren nur im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegner
ermittelt werden konnten, lediglich um 5,8 Prozent oder 80,50 Euro überschritten werden. Die Verhältnismäßigkeit
dieser geringfügigen Mehrkosten lässt sich insbesondere dann nicht verneinen, wenn berücksichtigt wird, dass der
Antragsteller in der Vergangenheit vom gewünschten Anbieter zufrieden stellend versorgt wurde.
Selbst wenn man die Kosten der vom Antragsgegner beabsichtigten Maßnahme mit der vom Antragsteller
gewünschten vergleichen würde, wären unverhältnismäßige Mehrkosten bei einer Abweichung 12,21 Prozent zu
verneinen.
Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft darlegen können.
Hierzu hat das Landessozialgericht Hessen in einem Beschluss vom 07. November 2006 (Az.: L 7 AS 200/06 ER)
ausgeführt:
"Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine
Wechselbeziehung der Art, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw.
Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch
und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System
(Beschluss des Landessozialgerichtes Hessen vom 29. Juni 2005 – L 7 AS 1/05 ER; Keller in: Meyer-Ladewig/ Keller/
Leitherer, SGG, § 86b, Rd. 27 und 29 m. w. N.). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder
unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich
abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen
offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem
Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen
Anordnungsgrund verzichtet werden kann."
Bei Verpflichtung der Antragsgegnerin zur vorläufigen Leistungsgewährung im Rahmen des einstweiligen
Rechtsschutzes ist maßgeblich auf den Zeitpunkt des Eingangs des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
bei Gericht abzustellen (Beschluss des Landessozialgerichtes Niedersachsen – Bremen vom 24. August 2005, - L 8
SO 78/05 ER). Wegen der Vorläufigkeit des Eilverfahrens spricht das Gericht keine Leistungen für die Vergangenheit
zu (vgl. Conradis in LPK – SGB II, Anhang Verfahren Rd. 121). Der Zeitraum davor kann nur im Hauptsacheverfahren
geltend gemacht werden (Beschluss des Hessischen Landessozialgerichtes vom 19. Juni 2005, - L 7 AS 1/05 ER -,
info also 2005, 169, 174).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 SGG analog.