Urteil des SozG Lüneburg vom 19.03.2010

SozG Lüneburg: rat der europäischen union, gerichtshof der europäischen gemeinschaften, elterliche sorge, arbeitssuche, jugendamt, akte, heirat, amtsblatt, sorgerecht, aufenthalt

Sozialgericht Lüneburg
Beschluss vom 19.03.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 48 AS 123/10 ER
1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin - vorläufig und unter
dem Vorbehalt der Rückforderung für den Fall des Unterliegens nach der Bestandskraft des Bescheids vom
12.01.2010 - für den Zeitraum vom 01.03.2010 bis zum 31.08.2010 Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe
zu gewähren. 2. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten
zu erstatten.
Gründe:
I.)
Die Antragstellerin begehrt im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Weitergewährung von Leistungen nach
dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (= SGB II) für die Zeit ab dem 01.03.2010.
Zwischen den Beteiligten ist lediglich streitig, ob ab diesem Zeitpunkt die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB
II Anwendung findet.
Die am 10.12.1979 geborene Antragstellerin ist rumänische Staatangehörige. Am 01.12.2005 reiste sie mit ihrer am
18.10.1999 geborenen Tochter - die ebenfalls rumänische Staatsangehörige ist - in die Bundesrepublik Deutschland
ein. Der ausländerrechtliche Aufenthaltstitel beruhte seinerzeit auf § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz, da die
Antragstellerin beabsichtigte, den deutschen Staatsangehörigen E. zu heiraten. Die Eheschließung erfolgte am
26.05.2006. Am 07.01.2009 wurde die Ehe vom Amtsgericht Uelzen geschieden. Die Tochter der Antragstellerin
wurde im Einvernehmen mit dem Jugendamt in einem Heim untergebracht. Die elterliche Sorge wurde der
Antragstellerin jedoch nicht entzogen.
Nachdem ihr von der Antragsgegnerin bis zum 28.02.2010 laufende Leistungen nach dem SGB II gewährt worden
waren, wurde die Weitergewährung mit dem Bescheid vom 12.01.2010 abgelehnt. Zur Begründung wurde ausgeführt,
dass gem. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II eine Leistungsgewährung nicht erfolgen könne, weil die Antragstellerin
lediglich ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche in der Bundesrepublik Deutschland besitzen würde. Über den
hiergegen erhobenen Widerspruch wurde – soweit ersichtlich – noch nicht entschieden.
Die Antragstellerin hat am 08.03.2010 einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Sie trägt
vor, dass sie seit dem 01.03.2010 keine Einkünfte mehr habe.
Die Antragstellerin beantragt,
die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihr ab dem 01.03.2010 Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu
zahlen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
II.)
Der zulässige Antrag ist begründet. Gem. § 86 b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (= SGG) kann das Gericht der
Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr
besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers
vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Außerdem kann das Gericht eine einstweilige Anordnung auch zur
Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung
zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86 b Abs. 2 S. 2 SGG). Voraussetzung hierfür ist jeweils,
dass ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht sind (§ 86 Abs. 2 S. 4 SGG, § 920 Abs. 3
Zivilprozessordnung (= ZPO)). Das Vorliegen dieser Voraussetzungen erfolgt i. d. R. durch eine summarische Prüfung
der Sach- und Rechtslage sowie der wesentlichen Interessen.
Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt. Ein Anordnungsanspruch besteht deshalb, weil die Regelung
des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auf die Antragstellerin nicht anzuwenden ist. Danach sind von Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitsuchende nur solche Ausländer ausgenommen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem
Zweck der Arbeitssuche ergibt. Der Leistungsausschluss greift jedoch dann nicht, wenn neben dem Arbeitssuche
noch ein anderer Aufenthaltszweck vorliegt (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 14.09.2006 - L 6 AS 376/06 ER).
Genau dies ist jedoch bei der Klägerin der Fall. Ihr Aufenthaltsrecht beruhte zunächst ausschließlich aufgrund der
Eheschließung mit einem Deutschen. Aus den Vermerken in der Akte der Antragsgegnerin ergibt sich weiterhin, dass
ihr im Jahr 2007 aufgrund dieser Heirat und des früheren Aufenthaltstitels gem. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Aufenthaltsgesetz ein unbefristetes Aufenthaltsrecht nach EU-Recht verliehen wurde, welches auch nach der
Scheidung als eigenständiges Aufenthaltsrecht fortbesteht (Bl. 339 der Akte der Antragsgegnerin). Auch auf Bl. 362
der Akte der Antragsgegnerin wurde ausdrücklich ausgeführt, dass nach Auskunft des Ausländeramts Uelzen für die
Entscheidung, ihr die - bis heute gültige - Freizügigkeitsbescheinigung auszustellen auch die vorangegangene Heirat
mit einem Deutschen gewesen ist. Ein Erlöschen dieses - unbefristeten - Aufenthaltsrechts kann nicht festgestellt
werden, da dies einen entsprechenden Verwaltungsakt durch die Ausländerbehörde erforderlich gemacht hätte.
Ebenso wenig verliert ein einmal statuierter Aufenthaltstitel seinen Charakter dadurch, dass sich gewisse Umstände
im Lebern des Aufenthaltsrechtsinhabers ändern. Dies gilt erst recht dann, wenn wie hier sogar in Ansehung der
Trennung und Scheidung (und nach Rücksprache mit dem Ministerium) ausdrücklich ein unbefristeter und zweckfreier
Aufenthaltstitel erteilt wurde. Das die Antragstellerin nunmehr auf Arbeitsuche ist kann die Gründe, die seinerzeit für
die Erteilung des unbefristeten Aufenthaltstitels maßgeblich waren, nicht rückwirkend beseitigen.
Im Übrigen wird dieses Ergebnis auch durch den Zweck des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II bestätigt. Mit der
Neufassung von Satz 2 hat der Gesetzgeber Art. 24 Abs. 2 i. V. m. Art. 14 Abs. 4 lit. b) der Richtlinie 2004/38/EG
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (vgl. Amtsblatt der Europäischen Union vom 30.
April 2004, L 158 / 77 ff) umgesetzt (vgl. Bundestagsdrucksache 16/688, S. 13). Danach ist der
Aufnahmemitgliedsstaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, Personen, denen
dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder
gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 lit. b) einen Anspruch auf Sozialhilfe zu
gewähren. In den Gründen zu der Richtlinie 2004/38/EG heißt es, dass Personen, die ihr Aufenthaltsrecht ausüben,
während ihres ersten Aufenthalts die Sozialleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch
nehmen sollen (vgl. Amtsblatt der Europäischen Union vom 30. April 2004, L 158 / 81, Rn. 10). Hiervon ausgehend ist
der Anwendungsbereich des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II im Rahmen einer teleologischen Reduktion dahingehend
auszulegen, dass von der Neuregelung nur Ausländer betroffen sind, die sich erstmalig in das Bundesgebiet begeben
haben und dort unmittelbar mit dem Zuzug Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Dies ergibt sich aus dem Gebot
richtlinienkonformer Auslegung (vgl. hierzu: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Urteil vom 10. April 1984 -
14/83 - = EuGHE 1984, 1891, 1909; zitiert nach JURIS, Leitsatz 3). Denn das Europäische Parlament und der Rat der
Europäischen Union sind bei Erlass der Richtlinie 2004/38/EG offensichtlich davon ausgegangen, dass – auch unter
Wahrung der Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art. 39 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
(EGV) – von dieser Regelung nur die EU-Bürger umfasst sind, die ihren Aufenthalt zum ersten Mal in einem anderen
Mitgliedsstaat nehmen, und nicht solche, die sich - wie im vorliegenden Fall - schon seit Jahren aus anderen Gründen
dort - rechtmäßig - aufhalten. Hierfür spricht neben der richtlinienkonformen Auslegung auch der Wille des
Gesetzgebers. Denn dieser ging bei der Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG ebenfalls davon aus, dass nur der
erstmalige Zuzug in das Bundesgebiet einen Ausschlussgrund darstellen sollte (vgl. Bundestagsdrucksache 16/688,
S. 13).
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass auch die Tochter der Antragstellerin ein Aufenthaltsrecht erworben hat,
welches infolge des Schulbesuchs weiterbesteht (Argument aus § 4 FreizügG/EU). Auch wenn im Einvernehmen mit
dem Jugendamt eine Heimunterbringung der Tochter vorgenommen wurde, so besteht das Sorgerecht der
Antragsstellerin fort. Dieses Sorgerecht kann uns muss die Klägerin auch - im Einvernehmen mit dem Jugendamt -
wahrnehmen. Auch durch den rechtmäßigen Aufenthalt ihrer Tochter in der Bundesrepublik Deutschland kann daher
ein alleiniger Aufenthaltszweck aus Gründen der Arbeitssuche bei der Antragstellerin nicht erkannt werden kann.
Auf die Frage, ob der Leistungsauschluss gem. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II generell europarechtskonform ist, kommt
es daher nicht an (vgl. hierzu Eicher/Spellbrink, Kommentar zum SGB II § 7 Rz. 17 m. w. N.).
Schließlich ist auch ein Anordnungsgrund gegeben, da die Antragstellerin glaubhaft gemacht hat, dass sie ohne die
Gewährung der SGB II-Leistungen mittellos wäre. Die Anordnung der Befristung beruht auf § 41 Abs. 1 S. 4 SGB II.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.