Urteil des SozG Lüneburg vom 14.01.2010

SozG Lüneburg: aufschiebende wirkung, auflage, hauptsache, verwaltungsakt, entziehen, entzug, beschränkung, ausschluss, unverzüglich, behörde

Sozialgericht Lüneburg
Beschluss vom 14.01.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 45 AS 4/10 ER
1. Es wird festgestellt, dass der Widerspruch des Antragstellers vom 13.01.2010 gegen den Bescheid der
Antragsgegnerin vom 05.01.2010 aufschiebende Wirkung hat. 2. Die Antragsgegnerin hat die notwendigen
außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu tragen.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes über die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur
Erbringung von Leistungen nach dem SGB II nach einem Entziehungsbescheid wegen fehlender Mitwirkung.
Der 1965 geborene Antragsteller ist alleinstehend und lebt in C. im Landkreis Lüneburg.
Mit Bescheid vom 05.10.2009 in Gestalt der Änderungsbescheide vom 14.10.2009 und 10.12.2009 gewährte die
Antragsgegnerin dem Antragsteller unter anderem für die Zeit vom 01.12.2009 bis 31.03.2010 Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II i.H.v. monatlich 1.181,03 Euro.
Mit Schreiben vom 01.12.2009 teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit, sie gehe davon aus, dass er mit einer
Frau D. in einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft lebe. Am 10.12.2009 forderte die Antragsgegnerin den
Antragsteller auf, bis spätestens zum 23.12.2009 diverse Unterlagen zur Einkommens- und Vermögenssituation von
Frau E. vorzulegen.
Mit Schreiben vom 15.12.2009 teilte der Antragsteller der Antragsgegnerin mit, keine Angaben zu Frau E. zu tätigen,
weil er keine Beziehung zu ihr habe.
Mit Bescheid vom 05.01.2010 entzog die Antragsgegnerin dem Antragsteller die bewilligten Leistungen nach dem
SGB II ab 01.01.2010 ganz. Zur Begründung führte sie an, mit der Nichtvorlage der geforderten Unterlagen sei der
Antragsteller seinen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen und habe die Aufklärung des Sachverhalts erheblich
erschwert.
Unter dem 13.01.2010 erhob der Antragsteller gegen den Bescheid vom 05.01.2010 Widerspruch.
Bereits zuvor, am 06.01.2010, hat der Antragsteller bei Gericht einen Antrag auf Gewährung einstweiligen
Rechtsschutzes angebracht. Zur Begründung führt er an, dass die Antragsgegnerin ihm für Januar 2010 keine
Leistungen nach dem SGB II erbracht habe. Ohne eine baldige Leistung könne er jedoch seinen Lebensunterhalt nicht
bestreiten. Insbesondere verfüge er nicht über Vermögen, das er einsetzen könne.
Der Antragsteller beantragt,
der Antragsgegnerin im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes aufzugeben, ihm unverzüglich Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts ab Januar 2010 zu zahlen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Sie ist der Meinung, wegen des Entziehungsbescheids vom 05.01.2010 nicht zur Leistung verpflichtet zu sein.
Insbesondere habe der Widerspruch des Antragstellers keine aufschiebende Wirkung. Dies ergebe sich aus § 39 Nr. 1
SGB II, wonach die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs bei allen Bescheiden entfalle, die über Leistungen der
Grundsicherung entschieden.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen
Verwaltungsakten der Antragsgegnerin.
II.
Der Antrag des Antragstellers ist in dessen wohlverstandenem Interesse so auszulegen, dass dieser die Feststellung
begehrt, dass sein Widerspruch gegen den Bescheid vom 05.01.2010 aufschiebende Wirkung hat. Dies ergibt sich
daraus, dass in der Hauptsache eine Anfechtungssituation vorliegt. Denn ohne den Bescheid vom 05.01.2010 wären
dem Antragsteller ausweislich des Bescheids vom 05.10.2009 in Gestalt der Änderungsbescheide vom 14.10.2009
und 10.12.2009 bis zum 31.03.2010 Leistung nach dem SGB II zu gewähren.
Der so verstandene Antrag ist zulässig und begründet.
Nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen ein Widerspruch keine
aufschiebende Wirkung hat, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Ein solcher Fall liegt hier nicht
vor. Jedoch kann das Gericht der Hauptsache auch in Fällen des sogenannten faktischen Vollzugs, wenn also die
Behörde trotz aufschiebender Wirkung einen Verwaltungsakt vollzieht, auf Antrag durch deklaratorischen Beschluss
aussprechen, dass der Widerspruch aufschiebende Wirkung hat. Insoweit ist § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG analog
anzuwenden (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23.03.2006, Az.: L 9 AS 127/06 ER; Keller in: Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, 9. Auflage, § 86 b RdNr. 15 mit zahlreichen weiteren Nachweisen).
Der Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid vom 05.01.2010 hat aufschiebende Wirkung. Dies ergibt sich
aus § 86 a Abs. 1 Satz 1 SGG. Danach hat der Widerspruch gegen einen Verwaltungsakt aufschiebende Wirkung.
Diese entfällt lediglich in den Fällen des § 86 Abs. 2 SGG. Dessen Voraussetzungen sind jedoch nicht gegeben.
Zunächst liegt kein Fall des § 86 a Abs. 2 Nr. 2 SGG vor. Danach entfällt die aufschiebende Wirkung unter anderem
in Angelegenheiten der Bundesagentur für Arbeit bei Verwaltungsakten, die eine laufende Leistung entziehen.
Vorliegend ist jedoch keine (bloße) Angelegenheit der Bundesagentur für Arbeit gegeben, sondern eine solche der
Antragsgegnerin. Diese wurde nach § 44 b Abs. 1 Satz 1 SGB II durch die Bundesagentur für Arbeit und den
Landkreis Lüneburg als Träger der Leistungen nach dem SGB II zur einheitlichen Wahrnehmung ihrer Aufgaben
errichtet. Sie nimmt nach § 44 b Abs. 3 Satz 1 SGB II sowohl die Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit als auch
diejenigen des Landkreises Lüneburg wahr (vgl. zur Unterscheidung von Angelegenheiten der Bundesagentur für
Arbeit und der Arbeitsgemeinschaften auch Groß in Lüdtke, SGG, 3. Auflage, § 51 RdNr. 11 a.E.).
Weiter sind die Vorausstetzungen des § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 1 SGB II nicht gegeben. Danach hat
ein Widerspruch gegen einen Verwaltungsakt, der unter anderem Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende
aufhebt, zurücknimmt, widerruft oder herabsetzt, keine aufschiebende Wirkung. Mit der Wahl der entsprechenden
Begrifflichkeiten macht die Vorschrift deutlich, dass damit die Aufhebungsvorschriften der §§ 45 bis 49 SGB X
gemeint sind, die über § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende anwendbar sind
(Conradis in LPK-SGB II, 3. Auflage, § 39 RdNr. 5).
Ein Entzug von Leistungen wegen fehlender Mitwirkung gem. § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB II ist damit von dem
Ausschluss der aufschiebenden Wirkung nicht erfasst. Die Vorschrift des § 39 Nr. 1 SGB II kann auch nicht
erweiternd ausgelegt werden. Dies folgt zum einen nach den allgemeinen Regeln daraus, dass es sich um eine
Ausnahmevorschrift handelt, zum anderen daraus, dass die Vorschrift eine Beschränkung des Rechtsschutzes
darstellt (LSG Hamburg, Beschluss vom 29.05.2006, Az.: L 5 B 77/06 ER AS; G. Wagner in: jurisPK-SGB II, 2.
Auflage 2007, § 39 RdNr. 14; Conradis in LPK-SGB II, 3. Auflage, § 39 RdNrn. 4, 11).
An diesem Ergebnis ändert auch nichts, dass ein Widerspruch in der vorliegenden Konstellation nach § 39 Nr. 1 SGB
II in seiner bis zum 31.12.2008 geltenden Fassung keine aufschiebende Wirkung gehabt haben dürfte. Denn seinerzeit
entfiel die aufschiebende Wirkung immer dann, wenn über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende
entschieden wurde. Bei dieser allgemein gehaltenen Fassung hat es der Gesetzgeber jedoch gerade nicht belassen.
Daher kann § 39 Nr. 1 SGB II nunmehr auch nicht so ausgelegt werden, dass alle Bescheide, die Leistungen der
Grundsicherung teilweise oder vollständig versagen oder entziehen, sofort vollziehbar sein sollen (so aber G. Wagner
in: jurisPK-SGB II, Stand: 18.11.2009, § 39 RdNr. 12.1).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.