Urteil des SozG Lüneburg vom 03.09.2010

SozG Lüneburg: operation, schmerz, unfallfolgen, zustand, behandlung, mrt, behörde, akte, berufsausübung, verwaltungsakt

Sozialgericht Lüneburg
Urteil vom 03.09.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 2 U 5/06
1.) Der Bescheid der Beklagten vom 18. Januar 2005 und der Widerspruchsbescheid vom 2. Dezember 2005 werden
aufgehoben. 2.) Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin aufgrund des Unfalls vom 30. August 1985 entsprechend
den gesetzli- chen Bestimmungen ab dem 19. August 2004 eine Rente nach einer MdE i. H. v. 30 % zu gewähren. 3.)
Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die notwendi- gen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. 4.) Im Übrigen
wird die Klage abgewiesen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Erhöhung einer Verletztenrente.
Die im Jahr 1971 geborene Klägerin erlitt am 30. August 1985 auf den Weg zur Schule einen Unfall, als sie als
Radfahrerin von einem Pkw angefahren wurde. Danach wurde sie mit dem Rettungswagen in das E. eingeliefert, wo
sie bis zum 18. Oktober 1985 in stationärer Behandlung verblieb (Bl. 23 der Akte der Beklagten (= UA)). Im Berichten
der Dres. Prof. F. und G. vom 18. Oktober 1985, ebenda, wurde als Diagnosen "ein Schädelhirntrauma (= SHT) mit
contusioneller Hirnschädigung als Folge schwerer Schädel- und Gesichtsprellung (jedoch ohne Frakturen im Schädel
und Gesichtsbereich), eine Lungenkontusion und Pneumothorax links, eine linksseitige Zwerchfellruptur mit
Verlagerung von Cardia und Fundus sowie der linken Colonflexur in den Thoraxraum, eine Malgaignefraktur beidseits
ohne wesentliche Dislokation, eine offene Unterschenkeltrümmerfraktur links, multiple Prellungen und
Hautabschürfungen, eine Fraktur der linken Wand des Zahnes 46 und der Verdacht auf eine traumatische
Pankreatitis" angegeben. Außerdem wurde ausgeführt, dass bei der Klägerin anfänglich "eine erhebliche Unruhe und
Desorientierung i. S. eines hirnorganischen Psychosyndroms und erhebliche Doppelbilder bei deutlicher Anisokorie mit
rechts erweiterter und links verengter Pupille" festgestellt worden seien (Bl. 19 f. UA). Mit Bescheid vom 26. Mai 1988
gewährte die Beklagte ab dem 31. August 1985 eine Verletztenrente. Die Minderung der Er-werbsfähigkeit (= MdE)
war zunächst entsprechend den dortigen Ausführungen gestaffelt. Ab dem 1. Juli 1987 wurde die Rente nach einer
MdE i. H. v. 20 % geleistet (Bl. 220 UA). Als Unfallfolgen wurden anerkannt:
- Mittelschwere Schädelhirnverletzung mit restlichen Doppelbildern durch Schädigung des 3. Hirnnervens, -
Kopfschmerz als Ausdruck einer posttraumatischen, belastungsabhängigen, vasovegetativen Dysregulation, -
Keloidnarbe am Oberbauch, - multiple Narbenbildungen am linken Unterschenkel, - Schwellneigung leichten Grades
linker Unterschenkel.
Dabei stützte sich die Beklagte auf ein unfallchirurgisches Gutachten von Dr. H. vom 19. Juni 1987 (Bl. 117 ff. UA),
ein augenärztliches Gutachten von Prof. Dr. I. vom 24. April 1987 (Bl. 169 ff. UA) und ein nervenärztliches Gutachten
von Dr. J. vom 4. November 1987 (Bl. 132 ff. UA), der ab dem 1. März 1986 die Gesamt-MdE mit 30 % einschätzte.
In einem weiteren nervenärztlichen Gutachten hatte Dr. K. die Gesamt-MdE ab dem 1. Juli 1987 nur noch mit 20 %
bewertet (Bl. 205 ff., 217 UA).
Mit dem Bescheid vom 20. Dezember 1991 versuchte die Beklagte die Rente mit Ablauf des Monats Januar 1992 zu
entziehen (Bl. 291 UA). Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 4. März
1992 zurückgewiesen (Bl. 302 UA). Im anschließenden, vor dem Sozialgericht (= SG) Hamburg geführten Rechtsstreit
(Az.: S 24 U 75/92) erstattete Dr. L. ein weiteres nervenärztliches Gutachten. Darin gelangte er zu dem Ergebnis,
dass gegenüber den Befunden des Gutachtens vom 21. März 1988 keine Besserung eingetreten sei. Auf
unfallchirurgischem und nervenärztlichem Fachgebiet würde jeweils eine Einzel-MdE i. H. v. 10 % und insgesamt eine
MdE i. H. v. 20 % bestehen. In der mündlichen Verhandlung des SG Hamburg vom 1. Februar 1994 hob die Beklagte
die angefochtenen Bescheide auf (Bl. 428 UA).
Am 9. Dezember 1997 stellte sich die Klägerin wegen ziehender Schmerzen über der Außenseite des linken
Unterschenkels bei Dr. M. vor, der eine neurologische Untersuchung veranlasste. Im nervenärztlichen Bericht vom 18.
Dezember 1987 führte Dr. N. aus, dass eine periphere Läsion des Nervus (= N.) tibialis nachweisbar sei und die
Beschwerden auf den Unfall vom 30. August 1985 zurückzuführen seien. Wegen weiterbestehender Schmerzen wurde
am 27. Oktober 1998 im O. (= BUKH) aufgrund einer festgestellten Einengung des intraossären Raumes zwischen
Tibia und Fibula ein Operation durchgeführt, bei der eine varisierende Umstellungsosteotomie des linken
Unterschenkels, eine Fibulaosteotomie sowie eine Osteosynthese mit einem winkelstabilen Spezialimplantat aus
Titan durchgeführt wurde (Bl. 537 ff., 551 UA).
Am 5. April 2002 und am 31. Juli 2002 stellte sich die Klägerin wegen belastungsunabhängiger Schmerzen im Bereich
des operierten Unterschenkels erneut bei Dr. H. vor (Bl. 770 UA), der im Bericht vom 1. August 2002 "eine leicht
geschwollene Sprunggelenksregion und eine leichtere Weichteilschwellung in Höhe des peripheren
Unterschenkeldrittels" beschrieb (Bl. 773 UA). Unter dem 11. April 2003 erstatteten die Dres. P. und Q. vom BUKH
ein nervenärztliches und unter dem 24. Februar 2002 die Dres. R., S. und T. ein unfallchirurgisches Gutachten (Bl.
786 ff. UA). Darin gelangten sie jeweils zu dem Ergebnis, dass eine wesentliche Änderung im Unfallfolgenzustand
nicht eingetreten sei (Bl. 797 UA).
Wegen weiterbestehender Schmerzen im linken Unterschenkel stellte sich die Klägerin am 27. Oktober 2003 erneut
bei Dr. H. vor (Bl. 800 UA), der eine magnettomographische (= mrt) Untersuchung veranlasste. Im Bericht über die am
6. November 2003 durchgeführte MRT-Untersuchung führte Dr. U. aus, dass die Kortikalis im mittleren Tibiadrittel
erheblich verdickt sei. Differentialdiagnostisch könne letztlich nicht zwischen entzündlich infektiösen Veränderungen
und postoperativ-persistierenden Umbauvorgängen unterschieden werden, wobei aufgrund der im Jahr 1999
durchgeführten Operation eine aktive Osteo-myelitis die wahrscheinlichste Diagnose sei (Bl. 811 UA). Da auch die
CRP erhöht war, wurde von Dr. H. eine antibiotische Behandlung durchgeführt, in deren Verlauf die Beschwerden
etwas zurückgingen (Bl. 817 UA). Im Bericht über die am 30. Januar 2004 durchgeführte MRT-Kontrolluntersuchung
wurde ausgeführt, dass die Ödembildung rückläufig sei, so dass nicht mehr von einer entzündlichen oder infektiösen
Aktivität auszugehen sei. Es seien aber posttraumatische Veränderungen mit synostosierender Kallusbildung
zwischen Fibula und Tibia erkennbar (Bl. 816 UA). Durch eine im April 2004 im BUKH durchgeführte Szintigraphie
wurde eine floride Ostitis ausgeschlossen (Bl. 837 UA).
Am 19. August 2004 beantragte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Erhöhung der Rente auf eine MdE i. H.
v. 40 %. Zur Begründung wurde im Wesentlichen geltend gemacht, dass die Klägerin nunmehr eine Schmerztherapie
beginnen müsse (Bl. 839 UA). Unter dem 11. Oktober 2004 erstattete Dr. V. ein weiteres unfallchirurgisches
Gutachten, worin er die Gesamt-MdE weiter mit 20 % einschätzte (Bl. 855 ff. UA). Mit dem Bescheid vom 18. Januar
2005 lehnte die Beklagte die Erhöhung der Rente ab (Bl. 863 UA). Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch wurde
geltend gemacht, dass die außergewöhnliche Schmerzsymptomatik nicht ausreichend gewürdigt worden sei. Der
Widerspruch wurde auf der Grundlage einer unfallchirurgischen Stellungnahme von Dr. W. vom 28. September 2005
(Bl. 872 UA) mit dem Widerspruchsbescheid vom 2. Dezember 2005 zurückgewiesen (Bl. 889 UA).
Hiergegen hat die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten am 9. Januar 2006 beim SG Lüneburg Klage
erhoben.
Im Bericht vom 12. Januar 2008 hat der behandelnde Schmerztherapeut, Herr X., mitgeteilt, dass bei der Klägerin "ein
chronisches Schmerzsyndrom im Bereich des linken Unterschenkels" bestehen würde. Der Schmerz sei nahezu
täglich vorhanden, würde in Ruhe und bei Wetterumschwüngen zunehmen, sei vom Charakter her dumpf und
drückend und würde zu Schlafstörungen führen. Die Berufsausübung sei nur unter Einnahme von Analgetika möglich,
so dass eine deutliche Einschränkung der Belastbarkeit und der Lebensqualität bestehen würde (Bl. 87 SG-Akte).
Auch Prof. Dr. Y., der die Klägerin von Mai bis August 2006 behandelt hatte, führte im Bericht vom 10. Dezember
2007 aus, dass bei der Klägerin "ein chronisches und therapieresistentes Schmerzsyndrom des linken
Unterschenkels bei einem Zustand nach einer Trümmerfraktur 8/85 mit Metallosteosynthese" vorliegen würde (Bl. 84
SG-Akte).
Unter dem 2. Januar 2009 hat Dr. Z. ein nervenärztliches Gutachten erstattet. Darin ist er zu dem Ergebnis gelangt,
dass bei der Klägerin im Bereich des linken Beines "eine Schädigung des N. peronaeus superficialis sowie eine
posttraumatische Neuralgie" vorliegen würde. Die Gesamt-MdE würde seit dem Verschlimmerungsantrag 30 %
betragen. Demgegenüber vertrat der beratende Arzt der Beklagten, Dr. AA., in der Stellungnahme vom 23. April 2009
die Auffassung, dass weder eine Schädigung des N. peronaeus noch eine Neuralgie noch ggf. deren unfallbedingte
Genese nachgewiesen sei. Auch in der Einschätzung der MdE könne Dr. Z. nicht gefolgt werden, da die Schmerzen
schon bei der Beurteilung auf unfallchirurgischem Fachgebiet berücksichtigt worden seien. In den ergänzenden
Stellungnahmen vom 31. Juli 2009 und 15. Januar 2010 bzw. vom 9. Oktober 2009 und 22. Februar 2010 haben Dr. Z.
bzw. Dr. AA. jeweils an ihrer Auffassung festgehalten.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,
1.) den Bescheid der Beklagten vom 18. Januar 2005 und den Widerspruchs- bescheid vom 2. Dezember 2005
aufzuheben,
2.) die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ab dem 19. August 2004 eine Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von
40 % zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Entscheidung wurden die Gerichtsakten und die Akten der Beklagten zugrunde gelegt. Auf ihren Inhalt wird Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig, soweit die Beklagte für
die Zeit ab dem 19. August 2004 die Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE i. H. v. 30 % abgelehnt hat. Sie
waren daher insoweit aufzuheben.
Gem. § 48 Abs. 1 S. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (= SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit
Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen
haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt, soll der
Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, (§ 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1
SGB X). In materiell-rechtlicher Hinsicht sind zwar im vorliegenden Fall grundsätzlich noch die Vorschriften der
Reichsversicherungsordnung (= RVO) anzuwenden, da der Versicherungsfall vor Inkrafttreten des SGB VII zum 1.
Januar 1997 liegt und die Rente zu diesem Zeitpunkt bereits festgestellt war (§ 214 Abs. 3 S. 1 SGB VII). Da im
vorliegenden Fall jedoch die Erhöhung einer Verletztenrente streitig ist, muss § 73 Abs. 3 SGB VII beachtet werden.
Diese Vorschrift ist auch dann anzuwenden, wenn der Versicherungsfall vor Inkrafttreten des SGB VII eingetreten ist
(§ 214 Abs. 3 S. 2 SGB VII). Danach ist eine Verschlimmerung des Unfallfolgenzustandes nur dann eine wesentliche
Änderung, wenn sich hierdurch der Grad der MdE um mehr als 5 % verändert. Entscheidend für die Feststellung, ob
eine wesentliche Änderung i. S. des § 48 Abs. 1 SGB X vorliegt, ist dabei ein Vergleich zwischen den objektiven
Verhältnissen, d. h. den objektiven Befunden im Zeitpunkt des Erlasses der bindend gewordenen letzten
bescheidmäßigen Feststellung der Leistung und dem Zustand im Zeitpunkt der Neufeststellung (von Wulffen/Wiesner,
Kommentar zum SGB X, 4. Aufl., § 48 Rz. 7).
Bei Anwendung dieser Kriterien besteht seit dem 19. August 2004 eine MdE i. H. v. 30 %, so dass die Rente seit
diesem Zeitpunkt in Höhe dieses Prozentsatzes der Vollrente zu gewähren ist (§ 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO). Zwischen
den Beteiligten ist - zumindest seit dem Abschluss des sozialgerichtlichen Verfahrens vor dem SG Hamburg am 1.
Februar 1994 - unstreitig, dass der Unfallfolgenzustand mit 20 % (Einzel-MdE auf unfallchirurgischem und
neurologischem Fachgebiet jeweils 10 %) zutreffend eingeschätzt wurde. Im vorliegenden Verfahren war daher nur zu
klären, ob die Schädigung des N. peronaeus und die Neuropathie am linken Unterschenkel
a) tatsächlich vorliegen, b) wesentlich auf den Unfall vom 30. August 1985 zurückzuführen sind und c) mit einer
zusätzlichen MdE i. H. v. 10 % zu bewerten sind.
All diese Voraussetzungen liegen hier vor. Zwar stößt die Objektivierung von Schmerzen bisweilen an ihre Grenzen,
da diese subjektiv wahrgenommen werden und sich daher einer Messbarkeit entziehen (vgl. zur
Schmerzbegutachtung: Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl., S. 213 ff., 221).
Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sind jedoch bei Anwendung der allgemeinen Beweisregeln nicht daran
gehindert, den Eigentümlichkeiten eines Falls dadurch Rechnung zu tragen, dass sie an den Beweis verminderte
Anforderungen stellen (BSGE 19, 52, 56). Der Richter darf und muss sich in tatsächlichen zweifelhaften Fällen mit
einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet,
ohne sie völlig auszuschließen (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 8 SGB VII, Rz. 10.1;
BGHZ 53, 225; BSGE 7 106, 109; 9, 209, 214; Schönberger/Mehrtens/Valentin, a. a. O., S. 47). Gerade für den
Bereich der Schmerzbegutachtung ist nun anerkannt, dass ein versierter Gutachter verlässliche Aussagen zum
Vorliegen und zur Ausprägung eines Schmerzsyndroms treffen kann, wenn er die Angaben des Patienten mit den
allgemein- und fachmedizinischen Untersuchungsergebnissen, der Krankenhistorie und der Verhaltensbeobachtung im
Rahmen der Exploration kritisch abgleicht (Plausibilitätsprüfung, ob Befund- und Beschwerdeebene übereinstimmen).
Diesen Anforderungen wird das Gutachten von Dr. Z., der ein äußerst erfahrener und mit
unfallversicherungsrechtlichen Fragestellungen bestens vertrauter Sachverständiger auf dem Gebieten der Neurologie,
der Psychia-trie und Schmerzmedizin ist, gerecht. Er hat zunächst überzeugend dargelegt, dass er bei seiner
elektrophysiologischen Untersuchung eindeutig ein Schaden am linksseitigen Nervus peronaeus superficialis
feststellen konnte, wobei sowohl der Unfall selbst - mit ausgedehnten Knochen- und Weichteilschäden - als auch die
im Jahr 1998 durchgeführte Operation als adäquates Trauma hierfür anzusehen sind. Dies gilt auch für die
konsekutive Neuralgie. Gerade für posttraumatische, neuropathische Schmerzen ist es typisch, dass in bestimmten
Bereichen der Haut von dem Betroffenen gleichzeitig einerseits eine Unter- und andererseits eine Über- bzw.
Missempfindung angegeben wird. Daneben kommt es zu spontan auf-tretenden Schmerzen durch einen
Berührungsschmerz oder wiederholte einschießende Schmerzattacken und eine Allodynie, d. h. ein Schmerz, der
durch einen Reiz verursacht wird, der üblicherweise keinen Schmerz verursacht. All dies ist auch bei der Klägerin der
Fall, wobei auch die behandelnden Ärzte X. und Prof. Dr. Y. eine posttraumatische Neuropathie bestätigt haben.
Konkurrierende Krankheitsursachen, wie eine somatoforme (Schmerz)-Störung oder ein zu enges Schuhwerk sind
nicht ersichtlich, zumal an der unverletzten rechten Seite elektrophysiologisch ein Normalbefund bestand. Soweit Dr.
AB. die Auffassung vertritt, dass eine solche Nervenschädigung von den vorangehend tätigen Nervenfachärzten mit
großer Wahrscheinlichkeit erkannt worden wäre, kann dies nicht überzeugen. Dr. Z. hat zutreffend herausgestellt,
dass - aus welchen Gründen auch immer - keiner der Ärzte eine entsprechende elektrophysiologische Untersuchung
durchgeführt hat, obwohl die Beschwerden der Klägerin dazu Anlass gegeben hätten. Darüber hinaus kann im
vorliegenden Fall auch das Argument, dass sich die Schmerzen erst 13 Jahre nach dem Unfallereignis entwickelt
hätten und daher die Latenzzeit zu groß sei, keine Überzeugungskraft erlangen. In diesem Zusammenhang nimmt die
Kammer zunächst Bezug auf die überzeugenden Ausführungen auf S. 8 f. der Stellungnahme von Dr. Z. vom 31. Juli
2009. Darin wurde ausführlich dargestellt, dass sich auch noch nach Jahren ein Schmerzsyndrom entwickeln kann.
Darüber hinaus ist zu beachten, dass der Unterschenkel der Klägerin auch 13 Jahre nach dem Unfallereignis nicht zur
Ruhe gekommen war, so dass aufgrund der massiven Umbauvorgänge im Jahr 1998 schließlich eine Operation
durchgeführt werden musste. Deren Notwendigkeit war wiederum unstreitig unfallbedingt war, wobei deren - mittelbare
- Auswirkungen neben den originären Unfallfolgen nach den schlüssigen Ausführungen von Dr. Z. hier ebenfalls als
Ursache der Neuropathie wahrscheinlich sind (S. 33 des Gutachtens von Dr. Z.; vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin,
a. a. O., S. 36 f.).
Schließlich folgt die Kammer Dr. Z. auch darin, dass für die Neuropathie am linken Unterschenkel eine zusätzliche
MdE i. H. v. 10 % besteht, so dass von einer Gesamt-MdE i. H. v. 30 % auszugehen ist. In Bezug auf eine mit den
Unfallfolgen verbundene Schmerzsymptomatik ist zwar grundsätzlich davon auszugehen, dass die üblicherweise mit
der Verletzung einhergehenden Schmerzen bereits in den Erfahrungswerten enthalten sind. Demgegenüber steht eine
höhere MdE zu, wenn die Schmerzempfindlichkeit über das übliche Maß hinausgeht und sich auf die Erwerbsfähigkeit
auswirkt (Schönberger/Mehrtens/Valen-tin, a. a. O., S. 221, m. w. N.). Eine erhöhte Einschränkung auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt liegt dabei vor, wenn der Betroffene nur unter besonderem Energieaufwand und unter
Hinnahme von außergewöhnlichen Schmerzen arbeiten kann. Überträgt man diese Grundsätze auf den vorliegenden
Fall, so hat bereits Dr. X., mitgeteilt, dass das chronische Schmerzsyndrom im Bereich des linken Unterschenkels
nahezu täglich vorhanden ist, zu Schlafstörungen führt, die Berufsausübung nur unter Einnahme von Analgetika
möglich ist und eine deutliche Einschränkung der Belastbarkeit und der Lebensqualität besteht. Darüber hinaus hat Dr.
Z. überzeugend dargelegt, dass hier eine Addition nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar notwendig ist, da man sonst
dem besondere Charakter und den Auswirkung dieser Beschwerden nicht gerecht würde. Obwohl die Klägerin
zwischenzeitlich gelernt hat, mit den Schmerzen besser umzugehen, ist nach wie vor zumindest intermittierend der
Einsatz eines Schmerzpflasters mit Morphin sowie eine regelmäßige schmerztherapeutische Behandlung erforderlich.
Schließlich vermag auch die Auffassung der Beklagten, dass in der bisherigen Beurteilung die außergewöhnlichen
Schmerzen bereits berücksichtigt wurden, nicht zu überzeugen. Denn diese bedürfen einer besonderen Erwähnung
und Begründung, welche weder dem maßgeblichen Vergleichsgutachten von Dr. H. vom 19. Juni 1987 noch dem
Bescheid vom 26. Mai 1988 zu entnehmen sind. Da nach den überzeugenden Ausführungen von Dr. Z. dieser
Zustand zumindest schon seit dem 19. August 2004 vorliegt, war die Beklagte zur Gewährung einer Rente nach einer
MdE i. H. v. 30 % ab diesem Zeitpunkt zu verurteilen.
Die Klage konnte jedoch keinen Erfolg haben, soweit die Gewährung einer Rente nach einer MdE i. H. v. 40 % begehrt
wird. Dr. Z. hat überzeugend dargelegt, dass sich weder ein sog. komplexes regionales Schmerzsyndrom (= CPRS)
noch eine Schmerzkrank-heit im eigentlichen Sinn entwickelt hat, die eine höhere MdE rechtfertigen würden. Die
Klage war daher insoweit abzuweisen.
Die Entscheidung konnte durch Gerichtsbescheid erfolgen, da der Sachverhalt, soweit er für die Entscheidung von
Bedeutung ist, geklärt ist und die Beteiligten hierzu gehört wurden (§ 105 SGG). Sie haben sich auch mit dieser
Verfahrensweise einverstanden erklärt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ist
hierbei zum einen auf die Erfolgsaussicht der Klage zum Zeitpunkt der Erledigung und zum anderen - entsprechend
dem Rechtsgedanken des § 93 der Zivilprozessordnung (= ZPO) - auf das Veranlassungsprinzip abzustellen. Im
vorliegenden Fall hat die Beklagte Veranlassung zur Erhebung der Klage gegeben, da sie die erforderliche
Sachverhaltsaufklärung nicht vorgenommen hat. Obwohl die Klägerin in der Sache teil-weise unterlag, ist es daher
angemessen, dass die Beklagte ihr die notwendigen außergerichtlichen Kosten zur Gänze erstattet. Zwar bestimmt
grundsätzlich die Behörde die Art und den Umfang der Ermittlungen, wobei sie an die Beweisanträge der Beteiligten
nicht gebunden ist (§ 20 Abs. 1 S. 2 SGB X). Dies kann jedoch nicht dazu führen, dass sie die Ermittlungstätigkeit -
aus welchen Gründen auch immer - in unzulässiger Weise ver-schlankt. Sie hat vielmehr alle für den Einzelfall
bedeutsamen Umstände zu berücksichtigen (§ 20 Abs. 2 SGB X) und darf das Verfahren erst abschließen, wenn die
Sach- und Rechtslage vollständig geklärt ist (Verbot des vorzeitigen Verfahrensabschlusses, vgl. von Wulffen, a. a.
O., § 20 Rz. 5, m. w. N.). Ein Sachverhalt ist aber immer dann nicht geklärt, wenn für dessen Beurteilung besondere
Sachkunde erforderlich ist und kein entsprechender Sachverständiger konsultiert bzw. die eigene Sachkunde nicht in
ausreichender Weise dargelegt wurde. Dies gilt insbesondere für medizinische Fragestellungen. Im vorliegenden Fall
wurde der Antrag auf Rentenerhöhung auf die außergewöhnliche Schmerzsymptomatik gestützt und mitgeteilt, dass
die Klägerin eine spezielle Schmerztherapie in Anspruch nimmt. Es wäre daher angezeigt gewesen, entsprechende
Berichte einzuholen und - wie es auch das Gericht für erforderlich angesehen hat - einen versierten Schmerzgutachter
mit einer Expertise zu beauftragen. Da dies nicht erfolgte, war die Erhebung der Klage nahezu vorprogrammiert. Der
Widerspruch und die Klage wurden auch ausdrücklich auf die Nichtberücksichtigung der Schmerzsymptomatik
gestützt.
Aus gegebenem Anlass wird darauf hingewiesen, dass gem. § 192 Abs. 4 SGG (eingeführt durch das
SGGArbGGÄndG v. 26. März 2008) das Gericht der Behörde ganz oder teilweise die Kosten auferlegen kann, die
dadurch verursacht werden, dass die Behörde erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren
unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden. Da die Vorschrift erst während des laufenden
Verfahrens in Kraft getreten ist, sieht die Kammer ausnahmsweise davon ab, die Kosten für die Berichte der Dres. Y.
und X. sowie für das Gutachten und die Stellungnahme von Dr. Z. der Beklagten aufzuerlegen. Die Beklagte muss
jedoch damit rechnen, dass die Anwendung des § 192 Abs. 4 SGG künftig zunehmend ins Blickfeld gerät, wenn die
notwendigen fachlichen Auseinandersetzungen auf das gerichtliche Verfahren verlagert werden. Schließlich ist auch
nicht nachvollziehbar, dass die erforderlichen elektrophysiologischen Untersuchungen nicht durchgeführt wurden,
obwohl die Beschwerden der Klägerin bereits seit langem dazu Anlass gegeben hätten.