Urteil des SozG Lüneburg vom 05.05.2008

SozG Lüneburg: gleichbehandlung im unrecht, gesundheitswesen, unfallversicherung, versicherungspflicht, unternehmen, unternehmer, muster, zusammenarbeit, akte, versicherungsschutz

Sozialgericht Lüneburg
Urteil vom 05.05.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 2 U 145/04
1.) Die Klage wird abgewiesen. 2.) Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte für die Klägerin der zuständige Unfallversicherungsträger ist, und um
die Rechtmäßigkeit von Veranlagungs- und Beitragsbescheiden.
Die im Jahr 1955 geborene Klägerin betreibt seit dem 5. Januar 1999 selbständig eine Praxis für I ... Außerdem bietet
sie Dienste als J. an (Internetausdruck Bl. 2 der Akte der Beklagten (= VA)). Mit den Bescheiden vom 13. November
2003 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass ihr Unternehmen mit Wirkung vom 5. Januar 1999 der Beklagten
angehören würde (Bl. 8 VA). Das Unternehmen wurde für die Zeit vom 5. Januar 1999 bis zum 31.12.2000 mit der
Gefahrtarifstelle "6", dem Strukturschlüssel "0161" und der Gefahrklasse 2,40 sowie für die Zeit ab dem 1. Januar
2001 bis zum 31. Dezember 2006 mit der Gefahrtarifstelle "6", dem Strukturschlüssel "0161" und der Gefahrklasse
3,00 veranlagt (Bl. 9a, 9b VA). Die Gefahrtarifstelle "6" umfasst folgende Gewerbezweige:
"Praxen der Physiotherapeuten/Krankengymnasten, Ergo-, Beschäftigungs- und übrigen nichtärztlichen Therapeuten,
Atemgymnasten, Hebammen, Heilpraktiker, Psychologen, nichtärztliche Psychotherapeuten, Logopäden, Orthoptisten
und medi-zinisch-technischen Assistenten und dgl.; Heilpraktikerschulen".
Für das Jahr 1999 wurde ein Beitrag bezüglich der Unternehmerversicherung von 74,22 EUR, für das Jahr 2000 ein
Beitrag von 76,53 EUR, für das Jahr 2001 ein Beitrag von 95,67 EUR, und für das Jahr 2002 ein Beitrag von 96,39
EUR gefordert.
Gegen sämtliche Bescheide erhob die Klägerin am 10. Dezember 2003 Widerspruch (Bl. 22 VA) und machte geltend,
dass sie nicht pädagogisch tätig werde. Sie übe auch keine Tätigkeit aus, die mit der in der Gefahrtarifstelle 6
genannten Berufe artverwandt sei. Es würde daher keine Mitgliedschaft bei der Beklagten bestehen. Der
Prozessbevollmächtigte der Klägerin führte darüber hinaus im Schriftsatz vom 16. April 2004 aus, dass das Berufsbild
der Kinesiologin weder dem Begriff des Gesundheitswesens noch der Wohlfahrtspflege zugeordnet werden könne. Die
Klägerin würde als sog. "begleitende Kinesiologin" keine Heilkunde ausüben. Sie würde professionell im sozialen,
persönlichen und pädagogischen Bereich arbeiten und kinesiologische Techniken nutzen, um gemeinsam mit den
Klienten Wege zu erarbeiten, mit denen diese ihre persönlichen Ziele besser erreichen könnten. Es wurde auf ein
Urteil des Verwaltungsgerichts (= VG) Hamburg Bezug genommen, in dem ausgeführt wurde, dass die – dortige –
Klägerin weder einen ärztlichen oder anderen Heilberuf i. S. des § 6 Gewerbeordnung (= GewO) ausüben würde und
daher der Anmeldepflicht des § 14 Abs. 1 S. 1 GewO unterliegen würde (Urt. des VG Hamburg vom 15. Januar 2002,
Az. 14 VG 2162/2000). Auch aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (= BVerfG) über die
Erlaubnispflicht eines sog. Geistheilers nach dem Heilpraktikergesetz, würde sich ergeben, dass es sich bei der
begleitenden Kinesiologin nicht um einen Heilberuf handelt. Die Beklagte hat im Widerspruchsverfahren Informationen
über den Begriff und das Tätigkeitsfeld der Kinesiologie aus dem Internet beigezogen. Auf die dortigen Ausführungen
wird vollinhaltlich Bezug genommen. Der Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 10. August 2004
zurückgewiesen.
Hiergegen hat die Klägerin am 13. Oktober 2004 beim Sozialgericht (= SG) Lüneburg Klage erhoben und ihr Begehren
weiterverfolgt. Außerdem wurde das Muster einer sog. Sitzungsvereinbarung übersandt, in dem u. a. unter Punkt 1.)
ausgeführt ist, "dass dem Klienten bekannt sei, dass der begleitende Kinesiologe keine medizinischen Kenntnisse
und Fertigkeiten anwenden würde und auch nicht heilkundlich tätig sei. Die beratenden Sitzungen könnten eine
ärztliche oder psychologische Behandlung nicht ersetzen, sondern nur begleiten. Die Zusammenarbeit mit Ärzten und
Therapeuten durch beide Parteien sei wichtig." Auf Bl. 67 f. der SG-Akte wird vollinhaltlich Bezug genommen. Die
Beklagte vertritt demgegenüber die Auffassung, dass auch der begleitende Kinesiologe auf einem Sektor tätig sei, der
dem Gebiet des Gesundheitswesens oder der Wohlfahrtspflege zugeordnet werden müsse.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,
1. den Bescheid der Beklagten vom 13. November 2003 hinsichtlich der Feststel- lung der Zuständigkeit und
Veranlagung zu den Gefahrklassen und die Beitrags- bescheide für 1999 bis 2002 sowie den Widerspruchsbescheid
vom 10. August 2004 aufzuheben, 2. die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die gezahlten Beiträge i. H. v. 342,81
EUR zurückzuerstatten,
3. die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Die Beklagte
beantragt, die Klage abzuweisen.
Der Entscheidung wurden die Gerichtsakten und die Akten der Beklagten zugrunde gelegt. Auf ihren Inhalt wird Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die Beklagte hat zu Recht die Pflichtmitgliedschaft und Versicherungspflicht
der Klägerin in der gesetzlichen Unfallversicherung sowie ihre Zuständigkeit festgestellt. Die angefochtenen
Bescheide – insbesondere auch die Veranlagungs- und Beitragsbescheide – sind daher rechtmäßig.
Gem. § 2 Abs. 1 Nr. 9 SGB VII sind Kraft Gesetzes versichert: ... Personen, die selbständig oder unentgeltlich,
insbesondere ehrenamtlich im Gesundheitswesen oder in der Wohlfahrtspflege tätig sind. Nach der ständigen
höchstrichterlichen Rechtsprechung erfasst das Gesundheitswesen alle Tätigkeiten und Einrichtungen, deren
Hauptzweck auf die menschliche Gesundheit einschließlich der Hygiene zielt. Hierunter fällt insbesondere auch die
Besserung oder Beseitigung krankhafter Zustände sowie die Vorbeugung gegen Gesundheitsschäden einzelner oder
der Allge-meinheit (vgl. Ricke in Kasseler Kommentar, § 2 SGB VII, Rz. 44, BSGE 15, 14). Diese Voraussetzungen
sind auch hier erfüllt. Die Klägerin bedient sich beim Umgang mit ihren Klienten kinesiologischer Techniken, deren
Zweck es ist, Blockaden zu beseitigen oder diesen entgegenzuwirken. Da Blockaden einen in körperlicher, geistiger
oder seelischer Hinsicht regelwidrigen und damit krankhaften Zustand darstellen, dienen diese Techniken auch der
Besserung und Aufrechterhaltung der Gesundheit der Klienten. Nach den Recherchen der Beklagten ist in diesem
Zusam-menhang eine der wichtigsten Techniken der spezielle Muskeltest, womit festgestellt werden soll, ob im
Energiesystem des Körpers ein Ungleichgewicht besteht. Mit Hilfe dieses Muskeltests findet der Kinesiologe heraus,
womit die blockierte Energie am besten wieder zum Fließen gebracht wird. In dem vom Prozessbevollmächtigten der
Klägerin übersandten "Muster einer Sitzungsvereinbarung" wird nun gerade diese kinesiologische Muskelreaktion als
wichtiges Instrument gerade auch der begleitenden Kinesiologie beschrieben, wobei während der sog. Balance im
Rahmen der Maßnahmen zum Stressabbau Körperteile berührt (d. h. gehalten, gerubbelt, geklopft, etc.) werden. Wer
wollte bestreiten, dass die Frage des Stressabbaus ein zentrales Thema im Gesundheitswesen darstellt?! Es kann
daher kein Zweifel daran bestehen, dass die Klägerin bereits nach Art und Zielsetzung ihrer Tätigkeit im
Gesundheitswesen tätig ist. Der Bezug zum Gesundheitswesen wird aber darüber hinaus dadurch belegt, dass in der
Sitzungsvereinbarung ausdrücklich ausgeführt wurde, dass die beratenden Sitzungen die Begleitung einer ärztlichen
oder psychologischen Behandlung darstellen und die Zusammenarbeit mit Ärzten und Therapeuten für beide Parteien
– also den Klienten und auch die begleitende Kinesiologin – wichtig ist.
Zusammenfassend bleibt daher festzustellen, dass in den Sitzungen eines begleitenden Kinesiologen Techniken zur
Beseitigung von krankhaften Zuständen (Blockaden, Stress, etc.) ganz im Zentrum stehen (vgl. BSGE 15, 41), die
darüber hinaus nach dem eigenen Selbstverständnis der begleitenden Kinesiologen in den grö-ßeren Rahmen der
ärztlichen und psychologischen Behandlung des Klienten eingebunden sind. Ob es sich – nach welcher Definition
auch immer – bei diesen Anwendungen um eine "Diagnosestellung", um "eine Therapieform" oder um "eine
heilkundliche Tätigkeit" handelt oder nicht, kann hier dahingestellt bleiben, weil diese Begriffe die Tätigkeiten, die im
Bereich des Gesundheitswesens i. S. des § 2 Abs. 1 Nr. 9 SGB VII ausgeübt werden, nicht zur Gänze abdecken. Ein
im Gesundheitswesen Tätiger in diesem Sinne muss nicht zwangsläufig auch eine heilkundliche Tätigkeit ausüben
(vgl. BSGE 18, 231, 232). Für eine Tätigkeit im Gesundheitswesen i. S. des § 2 Abs. 1 Nr. 9 SGB VII ist es vielmehr
ausreichend, wenn diese mit einer entsprechenden Zielrichtung ausgeübt wird – etwa indem eine ärztliche oder
psychologische Behandlung ergänzt wird – und in einen entsprechenden größeren Zusammenhang eingebettet ist.
Die vom Prozessbevollmächtigten der Klägerin übersandten Urteile des VG Hamburg und des BVerfG sind hier nicht
einschlägig, da sie sich jeweils auf Begriffe in anderen Gesetzen mit einem anderen Regelungs- bzw. Schutzzweck
beziehen (zum einen die GewO und zum anderen das Heilpraktikergesetz). Das Bundessozialgericht (= BSG) hat in
ständiger Rechtsprechung insbesondere die Versicherungspflicht nach § 2 Abs. 1 Nr. 9 SGB VII (bzw. nach den
entsprechenden vorangehenden Vorschriften) stets unter dem Gesichtspunkt des Schutzzwecks ausgelegt (vgl.
BSGE 18, 231, 233). Der Schutzzweck dieser Vorschrift liegt darin, den Selbständigen, die im Bereich des
Gesundheitswesen häufig als Kleinstunternehmer tätig sind, Versicherungsschutz in der gesetzlichen
Unfallversicherung zuzubilligen (vgl. Ricke, a. a. O., Rz. 40). Genau diese Situation besteht auch bei der Klägerin.
Darüber hinaus ist aus dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 Nr. 9 SGB VII der Schluss zu ziehen, dass der Gesetzgeber den
Versicherungsschutz möglichst weit fassen wollte und möglichst alle Personen, die in diesem Bereich tätig sind (z. B.
auch ehrenamtlich Tätige), in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung einbeziehen wollte. Unter
Berücksichtigung dieser Aspekte und aufgrund der Art und dem Inhalt der Sitzungen ist die Praxis eines begleitenden
Kinesiologen zwanglos auch mit den in der Gefahrtarifstelle 6 genannten Unternehmen vergleichbar und dort
einzuordnen. Die Beklagte ist daher auch der zuständige Versicherungsträger. Ob und ggf. aus welchen Gründen die
Beklagte andere Unternehmer – wie etwa Diätberater – nicht aufgenommen hat, ist hier nicht relevant, da im
vorliegenden Rechtsstreit nur die Bescheide der Beklagten, welche sie gegenüber der Klägerin erlassen hat, den
Streitgegenstand bilden. Eine Ungleichbehandlung, aus welcher die Klägerin Rechte ableiten könnte, ist nicht zu
erkennen. Selbst im Fall einer rechtswidrigen Nichtaufnahme der genannten Unternehmen bei der Beklagten würde der
allgemeine Gleichheitssatz nicht greifen (kein Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht).
Die Verpflichtung zur Beitragszahlung ergibt sich aus § 150 Abs. 1 S. 2 SGB VII. Danach sind die gem. § 2 SGB VII
versicherten Unternehmer selbst beitragspflichtig. Schließlich können die Beiträge nicht zurückerstattet werden, da §
26 Abs. 2 SGB IV eine Erstattung nur bei zu Unrecht entrichteten Beiträgen vorsieht. Wie ausgeführt, besteht die
Versicherungs- und die daraus resultierende Beitragspflicht aber zu Recht.
Die Entscheidung konnte durch Gerichtsbescheid erfolgen, da der Sachverhalt, soweit er für die Entscheidung von
Bedeutung ist, geklärt ist und die Beteiligten hierzu gehört wurden (§ 105 SGG). Die Beteiligten haben sich auch mit
dieser Entscheidungsform einverstanden erklärt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Da es hier im Wesentlichen um den eigenen Status der Klägerin als
Versicherte geht, ist die Vorschrift das § 197a SGG nicht anzuwenden (BSG, Urt. v. 5. Oktober 2006 – B 10 LW 5/05
R, abgedruckt in NZS, 2007 443). Die Klägerin ist insbesondere nicht einem Arbeitgeber gleichzusetzen. Die
Einbeziehung der im Gesundheitswesen selbständig Tätigen (Unternehmer) in die Versicherungspflicht, aber auch in
das Leistungsspektrum der gesetzlichen Unfallversicherung, erfolgte – wie bereits ausgeführt – wegen deren vom
Gesetzgeber angenommenen besonderen Schutzbedürftigkeit. Sie sind daher insoweit weit mehr den Arbeitnehmern
als den Arbeitgebern gleichgestellt. Auch außerhalb der gesetzlichen Unfallversicherung wird § 197a SGG bei
Streitigkeiten, die die Einbeziehung bestimmter Gruppen von Kleinunternehmern in die Versicherungspflicht betreffen
(z. B. § 2 SGB VI), nicht angewandt.