Urteil des SozG Lüneburg vom 07.11.2007

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Sozialgericht Lüneburg
Urteil vom 07.11.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 15 SB 82/07
Die Klage wird abgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten des vorliegenden Rechtstreites streiten im Wesentlichen um das Vorliegen der medizinischen
Voraussetzungen für die Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch
– Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB IX).
Der im August 1980 geborene – also jetzt 27 Jahre alte – Kläger, der nicht erwerbstätig ist, beantragte am 10.
November 2006 bei dem Beklagten die Feststellung eines Grades der Behinderung und gab in diesem Antrag als zu
berücksichtigende Gesundheitsstörungen einen Diabetes mellitus Typ 1 mit Insulinpumpe und 3 – 4
Unterzuckerungen je Woche an. Nach Auswertung verschiedenen medizinischen Befundmaterials – insbesondere
eines Befundberichtes des Facharztes für Innere Medizin E. vom 4. Januar 2007 (Bl. 5 VA) – stellte der Beklagte
unter Zugrundelegung einer gutachtlichen Stellungnahme seines Ärztlichen Dienstes vom 22. Februar 2007 mit
Feststellungsbescheid vom 26. Februar 2007 (Bl. 11 VA) einen Grad der Behinderung (GdB) von 40 seit dem 1.
August 2005 fest. Diese Entscheidung stützte sich auf die dauernde Funktionsbeeinträchtigung im Zusammenhang
mit dem Diabetes mellitus.
Hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 12. März 2007 (Bl. 13 VA) "Einspruch", den der Beklagte als
Widerspruch wertete und mit Widerspruchsbescheid vom 12. April 2007 als unbegründet zurückwies.
Hiergegen hat der Kläger am 14. Mai 2007 Klage erhoben. Zur Begründung wird insbesondere ausgeführt, dass bei
schwerer Einstellbarkeit ein Gesamt-GdB von 50 in den Anhaltspunkten vorgesehen sei. Die Auffassung, es liege
"nach den vorliegenden Befundunterlagen" ein gut eingestellter Diabetes mellitus Typ 1 ohne Komplikationen oder
Folgestörungen vor, sei schlicht falsch.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verpflichten, unter Abänderung des Bescheides vom 26. Februar 2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 12. April 2007 bei dem Kläger einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen und
ihm einen Schwerbehindertenausweis zu erteilen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält seine Entscheidungen für zutreffend und verweist auf die Stellungnahmen seiner ärztlichen Berater vom 4.
Februar 2007 (Bl. 8 ff. VA) sowie vom 30. März 2007 (Bl. 16 VA).
Das Gericht hat die Beteiligten mit Verfügung vom 05. Oktober 2007 zur beabsichtigten Entscheidung durch
Gerichtsbescheid angehört.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten
Schriftsätze, die Prozessakte sowie die den Kläger betreffende Schwerbehindertenakten zum Aktenzeichen 49-02779
ergänzend Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer kann durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die in § 105 SGG genannten Voraussetzungen vorliegen.
Die zulässige Klage ist unbegründet und hat keinen Erfolg.
Die angefochtenen Entscheidungen des Beklagten erweisen sich als rechtmäßig und beschweren den Kläger nicht (§
54 Abs. 2 S. 1 SGG). Der Beklagte hat mit den angegriffenen Entscheidungen zu Recht festgestellt, dass bei dem
Kläger kein höherer Grad der Behinderung (GdB) als 40 vorliegt.
Nach § 69 Abs. 1 S. 3 und 5 SGB IX ist die Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigungen als GdB, nach 10er-Graden
abgestuft, von 20 bis 100 festzustellen. Liegen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, so ist der GdB nach den
Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen
Beziehungen festzustellen (§ 69 Abs. 3 SGB IX). Es verbietet sich hierbei die Anwendung einer mathematischen
Formel, vielmehr muss in einer funktionalen Betrachtungsweise bemessen werden, wie im Einzelfall die durch alle
Störungen bedingten Funktionsausfälle, teilweise einander verstärkend, gemeinsam die Erwerbsfähigkeit
beeinträchtigen (vgl. BSGE 48, 82). Für die Höhe der GdB-Bewertung sind nach § 69 Abs. 1 S. 3 SGB IX die
Auswirkungen nicht nur vorübergehender Funktionsbeeinträchtigungen maßgebend, die auf regelwidrigen körperlichen,
geistigen oder seelischen Zuständen beruhen. Folglich richtet sich die Höhe des GdB von Gesetzes wegen nicht nach
Anzahl und Schwere der etwa vorhandenen Erkrankungen, sondern ausschließlich nach dem Ausmaß regelwidriger,
gegebenenfalls krankheitsbedingt entstandener Funktionseinbußen.
Bei der Einzel- und Gesamtbeurteilung legt die Kammer nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts die
Bewertungsrichtlinien der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und
nach dem Schwerbehindertengesetz", herausgegeben vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung,
Ausgaben 2004 und 2005 (AHP) zugrunde. Sie haben zwar keine Rechtsnormqualität, sind jedoch für die Gerichte
verbindlich, weil sie das Ergebnis langer medizinischer Erfahrungen bilden und deshalb eine zuverlässige und für den
Richter geeignete Hilfe bei der Bewertung von Körperschäden darstellen. Sie dienen vor allem auch der
Gleichbehandlung aller Behinderten (vgl. Bundessozialgericht SozR 3870, § 4 Nr. 3; Urteil vom 23. Juni 1993, Az.:
9/9a RVs 1/91; Urteil vom 11. Oktober 1994, Az.: 9 RVs 1/93). Nach den AHP, S. 25, ist bei der Beurteilung des
Gesamt-GdB von der Behinderung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle
weiteren Behinderungen zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderungen größer wird.
Unter Zugrundelegung dieser Voraussetzungen geht das Gericht davon aus, dass der Kläger nach den insgesamt
vorliegenden medizinischen Befunden durch die Funktionsbeeinträchtigung des insulinpflichtigen Diabetes mellitus
Typ I am stärksten beeinträchtigt wird. Nach den AHP, S. 98 f., ist der GdB bei Störungen des Stoffwechsels und der
inneren Sekretion von den Auswirkungen dieser Störungen abhängig. Normabweichungen der Laborwerte bedingen für
sich allein noch keinen GdB. Insoweit bedingt ein Diabetes mellitus Typ I., der durch Diät und alleinige
Insulinbehandlung gut einstellbar ist, einen Einzel-GdB von 40. Lediglich häufige, ausgeprägte Hypoglykämien sowie
Organkomplikationen sind ihren Auswirkungen entsprechend zusätzlich zu bewerten. Entsprechend diesen Vorgaben
hat der Beklagte den Einzel-GdB für den gut einstellbaren Diabetes mellitus Typ I bei dem Kläger richtig bewertet.
Denn nach den in der Akte befindlichen ärztlichen Unterlagen und auch nach der Schilderung des Klägers ist die
Beurteilung des Beklagten nicht zu beanstanden; diese bewegt sich vielmehr in dem durch die AHP vorgegebenen
Rahmen. Denn dafür, dass bei dem Kläger der Diabetes mellitus in diesem Sinne schwer einstellbar ist bzw. mit
häufigen/ausgeprägten Hypoglykämien einhergeht, lässt sich dem Befundmaterial nichts entnehmen. Insoweit –
darauf hat der Beklagte bereits zutreffend hingewiesen – hat der Facharzt für Innere Medizin E. in seinem bereits im
Verwaltungsverfahren eingeholten Befundbericht vom 04. Januar 2007 (Bl. 5 VA) ausgeführt, dass der zuletzt
gemessene HbA1c-Wert mit 6,6 % im Zielbereich gelegen habe und ein gut eingestellter Diabetes mellitus ohne
Hyper- und Hypoglykämien vorliege und diabetische mikroangiopathische Folgeerkrankungen nicht nachweisbar
gewesen seien.
Soweit sich der Kläger – insbesondere im Verwaltungsverfahren - auch auf die Empfehlungen der Deutschen Diabetes
Gesellschaft berufen hat bzw. beruft, kann auch dies nicht zum Klageerfolg verhelfen.
Hierzu hat bereits der 5. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen mit Urteil vom 18. November 2004
(Az.: L 5 SB 118/03) ausgeführt:
"Der Streit über die Frage, ob bei der Bewertung des GdB bei Diabetes mellitus als Maßstab die Einstellbarkeit des
Diabetes oder der Therapieaufwand herangezogen werden solle, kann zur Begründung von Zweifeln an der Aktualität
der AHP im Sinne der Rechtsprechung des BSG jedenfalls nicht dienen. Es handelt sich um eine grundsätzliche
Frage, die schon anlässlich der Ausarbeitung der AHP 1996 aufgekommen und schon damals von der K. einerseits
(Aufwand) und von der Sektion "Versorgungsmedizin" des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim damaligen BMA
andererseits (Einstellbarkeit) unterschiedlich beantwortet wurde. Wie sich aus der von der Klägerin eingereichten
Zuschrift des Medizinaldirektors Dr. H., BMA, an die Zeitschrift "Diabetes und Stoffwechsel", Heft 7 1998, S. 274
ergibt, ist der Vorschlag der (DDG) zur Beurteilung des GdB bei Diabetes mellitus bei den
Sachverständigengesprächen im Rahmen der Neufassung der AHP 1996 und insbesondere auch in der Sektion
"Versorgungsmedizin" des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim BMA eingehend erörtert worden. Die
Sachverständigen seien dem Vorschlag der DDG nur zum Teil gefolgt. Als wesentliches Argument des Ärztlichen
Sachverständigenbeirats gegen den Vorschlag der DDG nennt Dr. H., dass die Stoffwechsellage (die Einstellbarkeit)
die Auswirkungen der Zuckerkrankheit, auf die es bei der Beurteilung des GdB entscheidend ankomme, besser
wiedergebe als die Zahl der Injektionen oder Selbstkontrollen. Denn wenn ein Betroffener häufig Selbstkontrollen und
darauf basierend mehr Insulininjektionen vornehme, so habe dies u. a. zur Folge, dass sich seine
behinderungsbedingte Lebenssituation bessere; er könne sich freier bewegen und unterliege weniger Einschränkungen
als ein gleich schwerkranker Diabetiker, der diese Therapie nicht durchführe. Es sei z. B. nicht einzusehen, dass ein
Diabetiker, der wegen eines Grauen Stars eine Intensivtherapie nicht mehr selbst durchführen könne und nur wenige
Insulininjektionen erhalte, mit einem geringeren GdB beurteilt werde als ein jugendlicher Diabetiker, der sich mehrfach
am Tage selbst kontrolliere und Insulin spritze, um sich damit ein unabhängigeres Leben zu verschaffen. Auch bei der
Neufassung der AHP zum Diabetes gemäß Schreiben des BMGS vom 16. April 2004 hat der Ärztliche
Sachverständigenbeirat an seiner 1996 getroffenen Festlegung festgehalten und sich der nach wie vor bestehenden
abweichenden Auffassung der DDG und auch des Deutschen Diabetiker-Bundes, die ebenfalls seit 1996 unverändert
geblieben war, nicht angepasst. Dementsprechend hat das BMGS in seinem Antwortschreiben vom 02. Juli 2004 an
das Sozialgericht Braunschweig darauf hingewiesen, dass der Abschnitt "Diabetes mellitus" nicht wegen neuer
Erkenntnisse oder Fortschritte in der medizinischen Wissenschaft geändert worden sei, sondern wegen Erfahrungen
aus der Anwendung der bisherigen Anhaltspunkte, da sich der Text der Ausgabe 1996 als missverständlich oder
widersprüchlich erwiesen habe. In Anbetracht der unverändert gebliebenen Position des Ärztlichen
Sachverständigenbeirats und der DDG habe sich das Erfordernis einer erneuten fachlichen Diskussion nicht ergeben.
Der Senat sieht keine Anhaltspunkte dafür, dass der Ärztliche Sachverständigenbeirat beim BMA bzw. heute BMGS
hinsichtlich der Frage der Bewertung des GdB beim Diabetes mellitus und seiner Entscheidung, hierbei an die
"Einstellbarkeit" anzuknüpfen, eine ernst zu nehmende Stimme in der aktuellen medizinischen Wissenschaft
übersehen hätte. Die grundsätzliche Frage über das Anknüpfungsmerkmal bei der Bewertung des GdB beim Diabetes
mellitus hat der Sachverständigenbeirat in Kenntnis des abweichenden Vorschlags der DDG schon bei Abfassung der
Anhaltspunkte 1996 entschieden und sich auf die "Einstellbarkeit" festgelegt. Diese Entscheidung hat der Senat nicht
zu beanstanden, weil nicht ersichtlich ist, dass der Sachverständigenbeirat dabei aktuelle wissenschaftliche
Erkenntnisse unbeachtet gelassen hätte. Die von der Klägerin vorgebrachten Einwendungen gegen die Bewertung des
GdB in den AHP 1996 und 2004 können deshalb nicht dazu führen, dass der Senat in diesem Fall davon abweicht. Im
Interesse der Gleichbehandlung aller Behinderten ist vielmehr auch im Fall der Klägerin die Anwendung der AHP 1996
bzw. 2004 geboten."
Diesen Ausführungen schließt sich die erkennende Kammer an, neue medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse in
Bezug auf Gesundheitsstörungen, die sich aus der Erkrankung eines Diabetes mellitus ergeben, gibt es nach wie vor
nicht. Die Entscheidung des Sachverständigenbeirats, im Rahmen der Bewertungsgrundlage für den GdB an der
Einstellbarkeit des Diabetes mellitus festzuhalten, betrifft eine medizinisch-wissenschaftliche Fachfrage, die trotz
bestehender Kritik auf die sich aus der Gesundheitsstörung ergebende funktionelle Einschränkung abstellt und somit
nicht denknotwendig unrichtig ist. Die bloße Möglichkeit, Bewertungen auch anders vorzunehmen, können keine
Rechtswidrigkeit der Entscheidung für diesen Bewertungsmaßstab begründen. Entscheidend ist der objektive
Maßstab für die Bewertung der funktionellen Einschränkungen, der bei einer Orientierung an der Einstellbarkeit
grundsätzlich gegeben ist. Demgegenüber bestehen bei der Orientierung an der Häufigkeit der Insulininjektionen
Bedenken, weil deren Häufigkeit ebenso wie die Blutzuckermessungen subjektiven Elementen unterliegt (vgl.
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 19. Dezember 2006 - L 9 SB 14/04 -).
Weitere dauernde Funktionsbeeinträchtigungen, die zu einem höheren Gesamt-GdB als 40 führen könnten, mithin
einen Einzel-GdB von mindestens 20 ergäben, hat der Kläger nicht geltend gemacht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis der Hauptsache.