Urteil des SozG Lübeck vom 04.11.2008

SozG Lübeck: lebensmittel, neue beweismittel, altersrente, firma, wartezeit, glaubhaftmachung, verbrauch, zwangsarbeit, akte, wahrscheinlichkeit

Sozialgericht Lübeck
Urteil vom 04.11.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht Lübeck S 1 R 507/06
Der Bescheid der Beklagten vom 26. April 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 9. Januar 2006
wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin eine Altersrente unter Anrechnung der Beitragszeiten für
eine Beschäftigung in einem Ghetto vom 1. April 1941 bis 17. August 1942 sowie der verfolgungsbedingten
Ersatzzeiten zu gewähren. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin. Dieses Urteil
kann mit der Berufung angefochten werden.
Tatbestand:
Streitig ist der Anspruch auf eine Altersrente unter Berücksichtigung von Beitragszeiten nach dem Gesetz zur
Zahlbarmachung von Renten für eine Beschäftigung in einem Ghetto (ZRBG).
Die am 1925 in R (Polen) geborene Klägerin beantragte über ihren Prozessbevollmächtigten am 15. Oktober 2002 bei
der Beklagten, ihr eine Altersrente zu gewähren. Weitere Angaben wurden nicht gemacht. Die Klägervertretung bezog
sich auf die bei der Entschädigungsbehörde geführte Akte nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG).
Die Beklagte zog die BEG-Akte vom Landesamt für Besoldung und Versorgung in Fellbach bei. Nach den dortigen
Angaben der Klägerin wurde sie im April 1941 durch die Gestapo verhaftet und in das Ghetto R eingeliefert, wo sie in
der Firma C zwangsweise arbeitete. Es wurden dort Lederausarbeitungen für die Deutsche Wehrmacht und die SS
gefertigt. Auf Anfrage der Beklagten gab die Klägerin am 8. April 2004 an, sie sei wöchentlich mit Lebensmittelkarten
entlohnt und die Arbeit sei durch den Judenrat vermittelt worden.
Mit Bescheid vom 26. April 2004 lehnte die Beklagte den geltend gemachten Anspruch mit der Begründung ab, die
Arbeiter für die Firma C (Lederausarbeitungen) seinen nicht aus dem Ghetto sondern aus dem Zwangsarbeitslager in
R rekrutiert worden. Deshalb könne die Zeit von 1941 bis zum 8. Mai 1945 nicht als Zeit einer Beschäftigung in einem
Ghetto anerkannt werden.
Dagegen erhob die Klägerin am 14. Mai 2004 Widerspruch und machte geltend, sie sei durchaus als Insassin des
Ghettos R beschäftigt gewesen. Es habe sich um eine Arbeit gehandelt, die vom Judenrat organisiert worden und von
ihr freiwillig übernommen worden sei. Sie habe als Gegenleistung für die Arbeit Lebensmittelkarten, Teilkost am
Arbeitsplatz und zeitweise auch geringfügige Lohnzahlungen erhalten. Beigefügt war eine maschinenschriftliche und
von der Klägerin unterzeichnete Erklärung vom 10. Mai 2005. Darin führte die Klägerin aus, sie habe 1939 eine Lehre
als Schneiderin begonnen. Ihre damalige Arbeitgeberin sei später im Ghetto tätig gewesen und sie habe dort bis 1942
gearbeitet. Anschließend sei ihr im August 1942 eine Arbeitsstelle bei der Firma K zugeteilt worden. Ab diesem
Zeitpunkt habe sie sich in einem Zwangsarbeitslager befunden.
Mit Bescheid vom 9. Januar 2006 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, die
nunmehr gemachten Angaben stimmten mit den seinerzeit im BEG-Verfahren gemachten Angaben nicht überein.
Wegen der größeren zeitlichen Nähe sei es überwiegend wahrscheinlich, dass die Klägerin die ganze Zeit bei der
Firma K gearbeitet und sich in einem Zwangsarbeitslager aufgehalten habe. Dieses Zwangsarbeitslager sei bereits im
Juli 1941 eröffnet worden.
Gegen den am 27. März 2006 zur Post gegebenen Widerspruchsbescheid richtet sich die am 20. April 2006 bei dem
Sozialgericht Lübeck erhobene Klage. Eine Begründung hat die Klägervertretung nicht abgegeben. Sie hat das Mandat
vielmehr am 12. Juli 2006 niedergelegt.
Die Klägerin selbst hat zur Begründung erneut vorgetragen, sie habe ihre Lehre als Schneiderin auch nach Eröffnung
des Ghettos ungefähr im April 1941 fortgesetzt. Als das Ghetto eingerichtet worden sei, habe die Hälfte der Wohnung
im Ghetto und die andere Hälfte draußen gelegen. Sie habe in dem Teil gelebt, der innerhalb des Ghettos gelegen
habe. Während der Tätigkeit als Schneiderin habe sie eine Vergütung in Form von Lebensmitteln erhalten, die über
ihren eigenen Bedarf hinausging und es ihr ermöglichte auch ihre Eltern, 5 Schwestern und einen Bruder zu versorgen.
Nach ungefähr zwei Jahren als Arbeit sei sie – vermutlich durch den Judenrat – der Lederwarenfabrik K zugeteilt
worden, die Produkte für Pferde hergestellt habe. Im August 1942 sei das Ghetto liquidiert worden. Sie habe zu jenem
Zeitpunkt in der Fabrik K gearbeitet und auch dort gelebt.
Die Klägerin beantragt schriftsatzgemäß, den Bescheid der Beklagten vom 24. April 2004 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 9. Januar 2006 (24. März 2006) aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr eine
Altersrente unter Berücksichtigung von Beitragszeiten nach dem ZRBG vom 1. April 1941 bis zum 17. August 1942
sowie der verfolgungsbedingten Ersatzzeiten zu gewähren.
Die Beklagte beantragt die Klage abzuweisen.
Sie wendet ein, die Klägerin habe neue Beweismittel, die den Klagantrag stützen könnten, nicht beigebracht. Auf die
ausführliche Begründung der Klage durch die Klägerin ist die Beklagte nicht eingegangen.
Im – einseitigen - Termin zur mündlichen Verhandlung am 4. November 2008 haben die die Klägerin betreffenden
Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen und sind Gegenstand der Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und auch begründet. Zu Unrecht hat die Beklagte den Rentenanspruch abgelehnt. Der
angefochtene Bescheid vom 26. April 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 9. Januar 2006
aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin eine Altersrente unter Berücksichtigung von Beitragszeiten
nach dem ZRBG sowie der verfolgungsbedingten Ersatzzeiten zu gewähren. Die Kammer konnte auch ohne
Anwesenheit der Klägerin entscheiden, denn auf diese Möglichkeit ist die Klägerin in der Ladung hingewiesen worden.
Versicherte haben Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet und die Wartezeit erfüllt haben (§
35 Sozialgesetzbuch 6. Buch, SBG VI). Die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von 5 Jahren ist nach § 50 Abs. 1 Nr.
1 SGB VI Voraussetzung für einen Anspruch auf eine Regelaltersrente. Auf die allgemeine Wartezeit werden nach §
51 Abs. 1 SGB VI Kalendermonate mit Beitragszeiten angerechnet. Beitragszeiten sind nach § 55 Abs. 1 Satz 1 SGB
VI Zeiten, die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind.
Anrechenbar sind darüber hinaus Ersatzzeiten (§ 51 Abs 4 i.V.m. § 250 SGB VI).
Die Klägerin hat weder Pflichtbeiträge noch freiwillige Beiträge an die deutsche Rentenversicherung entrichtet.
Pflichtbeitragszeiten sind aber auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten (§
55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten für eine Beschäftigung in
einem Ghetto (ZRBG) gelten Beiträge als gezahlt,
1. für die Berechnung einer Rente als Beiträge nach den Reichsversicherungsgesetzen für eine Beschäftigung
außerhalb des Bundesgebietes sowie 2. für die Erbringung von Leistungen ins Ausland als Beiträge für eine
Beschäftigung im Bundesgebiet (Ghettobeitragszeiten).
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG sind Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto gegeben, wenn sich
diese dort zwangsläufig aufgehalten haben und wenn
1. die Beschäftigung a. aus einem eigenen Willensentschluss zustande gekommen ist, b. gegen Entgelt ausgeübt
wurde und
2. das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, soweit
für diese Zeit nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird (§ 1 Abs. 1 Satz 1
ZRBG).
Für die Feststellung nach dem ZRBG maßgeblichen Tatsachen genügt deren Glaubhaftmachung (§ 1 Abs. 2 ZRBG in
Verbindung mit § 3 Abs. 1 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischem Unrechts in der
Sozialversicherung - WGSVG -.
Eine Tatsache ist dann glaubhaft gemacht, wenn sie nach dem Ergebnis der Ermittlungen die sich auf sämtliche
erreichbaren Beweismittel erstrecken soll, überwiegend wahrscheinlich ist. Glaubhaftmachung bedeutet danach mehr
als das Vorhandensein einer bloßen Möglichkeit, aber auch weniger als die an Gewissheit grenzende
Wahrscheinlichkeit. Überwiegende Wahrscheinlichkeit liegt nach der Rechtssprechung des Bundessozialgerichts vor,
wenn die gute Möglichkeit besteht, dass der behauptete Vorgang sich so zugetragen hat, wie der Antragsteller es
geltend macht (BSG, Urteil vom 3. Februar 1999, B 9 V 33/97 R; BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006, B 4 R 29/06
R), wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es obliegt dem Gericht, sich in den Grenzen des
Grundsatzes der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) sich nach dem erforderlichen Beweisgrad der
Glaubhaftmachung eine Überzeugung davon zu bilden, ob die für das Urteil erheblichen Tatsachen vorliegen oder eine
von ihnen nicht gegeben ist.
Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 128 SGG) ist festzustellen, dass die Klägerin im Ghetto R eine
Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss gegen Entgelt im Zeitraum vom 1. April 1941 bis zum 17. August 1942
verrichtet hat.
Zunächst ist glaubhaft, dass die Klägerin im Zeitraum vom 1. April 1941 bis zur Auflösung des Ghettos am 17.
August 1942 im Ghetto R zwangsweise aufgehalten hat. Ihr dortiger Aufenthalt ist durch ihre eigenen Bekundungen im
Verfahren nach dem Bundesentschädigungsgesetz einerseits und dem Klageverfahren andererseits belegt. Dass im
fraglichen Zeitraum in R bestanden hat, ergibt sich aus der Keom-Datenbank ebenso wie aus dem beigezogenen
Gutachten von Professor Dr. G vom 14. Februar 2007, erstellt für das LSG Essen zum Aktenzeichen L 8 R 227/06.
Aufgrund des zwangsweisen Aufenthaltes im Ghetto R ist auch die Verfolgteneigenschaft der Klägerin glaubhaft
(vergleiche § 1 Abs. 1 in Verbindung mit § 43 Abs. 2 BEG).
Schließlich ist auch glaubhaft, dass die Klägerin im Ghetto R Beschäftigungen ausgeübt hat, die im Sinne des § 1
Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a ZRBG aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen sind. In dem Zeitraum vom 1.
April 1941 bis zum 17. August 1942 hat die Klägerin als Damenschneiderin weiterhin bei Frau R gearbeitet, derjenigen
Schneiderin, bei der sie bereits 1939, d.h. zwei Jahre zuvor, ihre Ausbildung begonnen hatte. Auch die Beklagte ist
mittlerweile davon überzeugt, dass die Klägerin im Ghetto R aus eigenem Willensentschluss diese
Schneidertätigkeiten verrichtet hat. Dies hat der Terminsbevollmächtigte der Beklagten in der Verhandlung
ausdrücklich zu Protokoll erklärt. Er hat die Ablehnung allerdings auf das seiner Ansicht nach fehlende Entgelt
gestützt.
Entgegen der Auffassung der Beklagten hat die Klägerin jedoch diese Tätigkeit auch gegen Entgelt verrichtet.
Darüber, wann eine Beschäftigung gegen Entgelt ausgeübt wurde, gibt es unterschiedliche Rechtsmeinungen. Der 5.
und der 13. Senat des BSG vertreten die Auffassung, dass allein der Bezug von Lebensmitteln im Umfang des
täglichen Eigenbedarfs nicht die Entgeltlichkeit des Beschäftigungsverhältnisses iS des ZRBG zu begründen vermag
(BSG, Urteil vom 7. Oktober 2004 B 13 RJ 59/03, BSGE 93,214 ) Demgegenüber liegt nach der Rechtsprechung des
4. Senats des BSG (Urteil vom 14. Dezember 2006 B 4 R 29/06) eine Beschäftigung gegen Entgelt bereits dann vor,
wenn die Zuwendung tatsächlich wegen der geleisteten Arbeit (Tätigkeit) und nicht aus anderen Gründen erfolgte.
Dabei kommt es bei der Qualifizierung als Entgelt nicht auf die Art oder Höhe, auch nicht auf die Angemessenheit
oder gar auf eine "Gerechtigkeit" der Vergütung an (BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006, B 4 R 29/06 R). Zum Entgelt
hat der 4. Senat durch Beschluss vom 20. Dezember 2007 – B 4 85/06 R dem Großen Senat die Frage zur
Entscheidung vorgelegt, wie das Entgelt, das ein Ghettoarbeiter im Austausch für seine Beschäftigung erhielt, von
existenzsichernden Zuwendungen bei Zwangsarbeit abzugrenzen ist und ob eine rechtliche Relevanz der Höhe des
Entgeltes von Bedeutung für die Abgrenzung zur Zwangsarbeit ist. Eine Stellungnahme des Großen Senats ist
allerdings nicht mehr zu erwarten, da der Vorlagebeschluss als unzulässig zurückgewiesen worden ist.
Die Rechtsprechung folgt der Definition des Entgelts durch den 4. Senat allerdings auch ohne Klärung durch den
Großen Senat nicht. Soweit dem Urteil zu entnehmen sein sollte, dass auch der Erhalt von Lebensmitteln, die kaum
den notwendigen Lebensunterhalt gedeckt haben, als Entgelt iS des ZRBG ausreicht, wird dieser Rechtsprechung
nicht gefolgt (LSG Essen, Urteil vom 15. Februar 2008 , Az.: L 14 R 116/06, Revision anhängig B 5 R 46/08 R; Urteil
vom 13. Juni 2008, L 14 R 233/06, Revision anhängig B 5 R 82/08 R, Urteil vom 20. Juni 2008, Az. L 14 R 365/06
Revision anhängig B 5 R 98/08; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 13. Juni 2007, L 4 R 457/06). Bei Lebensmitteln
kommt es vielmehr darauf an, ob sie nach Art und Umfang des Bedarfs unmittelbar zum Verbrauch oder Gebrauch
gegeben werden. Wird das Maß des persönlichen Bedarfs überschritten und werden die Lebensmittel zur freien
Verfügung gewährt, ist von Entgelt auszugehen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn glaubhaft gemacht wird,
dass gewährte Lebensmittel auch den Bedarf von Angehörigen sicherstellen. Ohne Bedeutung ist demgegenüber, ob
die Lebensmittel unmittelbar in Naturalien gewährt worden sind oder ob die Betroffenen Lebensmittelcoupons erhalten
haben, die sie gegen Lebensmittel eintauschen konnten ( LSG Essen, Urteil vom 20. August 2008 L 8 23/07- Revision
anhängig B 5 R 114/08 R ).
Letzteres erscheint der Kammer überwiegend wahrscheinlich. Die Klägerin hat glaubhaft gemacht, dass sie für ihre
Tätigkeit als Schneiderin bei Frau R eine derartige Menge an Lebensmitteln erhielt, die ausreichte, ihre eigenen
Bedürfnisse zu decken und darüber hinaus ihre Familie mit Eltern, 5 Schwestern und einem Bruder zu versorgen.
Diese Lebensmittel reichten aus, um alle Familienmitglieder am Leben zu erhalten. Die Klägerin hat mithin
Lebensmitteln nicht allein für den eigenen Bedarf und zur Aufrechterhaltung ihrer eigenen Arbeitsfähigkeit erhalten
sondern das Maß des persönlichen Bedarfs wurde überschritten, sodass – übereinstimmend mit dem Urteil des LSG
Essen vom 20. August 2008 L 8 23/07 – zur Auffassung der Kammer von Entgelt auszugehen ist.
Es kann dabei nicht darauf ankommen, ob die Familienangehörigen gegebenenfalls aus eigener Beschäftigung im
Ghetto Lebensmittel in einem gewissen Umfang erhielten. Denn dies würde dazu führen, den Entgeltbegriff an
anspruchsunabhängige Elemente zu binden. Es kann nicht entscheidungserheblich sein, ob ein Betroffener zwar
deutlich mehr Lebensmittel erhält, als er für seinen eigenen Gebrauch oder Verbrauch benötigt, der Entgeltbegriff
jedoch daran scheitert, weil er keine Angehörigen zu versorgen hat. Denn die größere Menge an Lebensmitteln kann
auch dazu dienen, diese gegen andere benötigte Gegenstände und Sachmittel einzutauschen. Auch in diesen Fällen
ist von einem Entgelt auszugehen. Es kommt mithin letztlich lediglich drauf an, ob mehr Lebensmittel als zur
Befriedigung des persönlichen Bedarfs und zur freien Verfügung gewährt werden. Immer dann ist von einem Entgelt
auszugehen.
Die Klägerin hat zur Überzeugung der Kammer glaubhaft gemacht, dass sie wegen ihrer Tätigkeit als Damen-
Schneiderin deutlich mehr Lebensmittel erhalten hat als sie für ihren eigenen Gebrauch bzw. Verbrauch benötigt hat.
Es ist deshalb von einem Entgelt auszugehen.
Im Ergebnis bedeutet dies, dass die Klägerin sowohl die Beschäftigung im Ghetto R aus eigenem Willensentschluss
aufgenommen als auch hierfür ein Entgelt erhalten hat. Die Anforderungen zur Anerkennung der fingierten ZRBG-
Beitragszeit sind mithin erfüllt.
Dies gilt nicht für den anschließenden Zeitraum, in dem die Klägerin bei der Firma K Produkte für Pferde herstellte und
vorwiegend Lederwaren nähte. Denn die Arbeitskräfte für dieses Unternehmen wurden aus dem Zwangsarbeitslager
rekrutiert. Dies hat die Klägerin auch eingeräumt. Sie macht auch keine Beitragszeiten nach dem ZRBG für den
Zeitraum der Beschäftigung bei K ab August 1942 geltend.
Allerdings sind sowohl dieser Zeitraum der Tätigkeit für die Firma K aus dem Zwangsarbeitslager R heraus als auch
ihre weitere Arbeit in einer Munitionsfabrik und die Unterbringung in Auschwitz sowie Bergen-Belsen, das heißt der
Zeitraum bis zum 15. April 1945 als verfolgungsbedingte Ersatzzeit anzuerkennen, ebenso wie der Zeitraum vor der
Unterbringung im Ghetto R seit der Verpflichtung, den Judenstern zu tragen ab 1. Dezember 1939.
Unter Einbeziehung der verfolgungsbedingten Ersatzzeiten erfüllt die Klägerin die Wartezeit von 60 Kalendermonaten,
denn auch im Entschädigungsverfahren sind Leistungen für insgesamt 64 volle Monate im Zeitraum vom 1. Dezember
1939 bis zum 15. April 1945 anerkannt worden.
Die Klägerin hatte auch am 18. Juni 1997, dem fingierten Datum der Antragstellung, das 65. Lebensjahr vollendet, so
dass - aufgrund der Antragstellung vor dem 30. Juni 2003 der Anspruch ab 18. Juni 1997 besteht.
Nach allem steht der Klägerin die beantragte Altersrente zu. Der Klage war mithin stattzugeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Der Vorsitzende der 1. Kammer gez. Klingauf